„Was?!“, rufe ich entsetzt. „Ich trage die Kleider eines Toten? Ich dachte, das wäre ein Kostüm!“
„Was ist so schlimm daran?“, fragt er verständnislos.
„Aber… ich kann doch nicht…“. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Die Kleidungsstücke sind sauber und makellos, oder nicht?“
„Aber die hatte ein Toter an.“
„Unsinn!“ Nun wirkt er verärgert. „Wenn Sie von mir ein Kostüm ausleihen und anziehen, dann kann es durchaus sein, dass einer der früheren Träger mittlerweile tot ist. Und wie ich gerade schon sagte und sie bemerkt haben durften, sind die Stoffe einwandfrei.“
Ganz unrecht hat er da nicht.
„Aber ist das nicht pietätlos?“, kommt mein nächster Einspruch.
„In diesem Fall nicht.“ Ein seltsames Lächeln umspielt seine Lippen. „Die Familie Martinelli gab mir diese Kiste samt Inhalt. Sie wollte, dass ich jemand passendes finde, der die Kleider von Alessandro tragen wird. Damit der jüngste Spross sozusagen weiterleben kann.“
Ein unübliches Vorgehen. Aber ein wenig nachvollziehbar. Dadurch, dass die Kleider von ihm weiter getragen werden, kann man das schon so empfinden. Wenn ich selbst auch nicht so denken kann.
„Ich weiß, seine Kleider sind nicht gerade modern. Aber für einen Vampir genau das richtige“, fährt er fort.
„Dieser Alessandro hatte wohl einen etwas eigenen Geschmack?“, frage ich vorsichtig.
„Der Familie hat es nie gestört.“ Sein Blick wird plötzlich lauernd. „Aber ist das nicht ein schöner Name?“
„Alessandro Martinelli? Italienisch klingt ja immer gut, oder?“ Es fühlt sich seltsam an, ihn auszusprechen.
„Aber schöner als die langweiligen deutschen Namen, nicht wahr? Nennen Sie sich doch nachher so auf ihrer Feier, oder was auch immer das ist.“
„Ich weiß nicht. Es ist ja der Name eines Toten. Da hätte seine Familie sicher etwas dagegen, oder?“
„Nein!“ Er kichert wieder. „Im Gegenteil.“
Kaum vorstellbar. Ich beschließe, lieber das heikle Thema zu wechseln: „Und was gibt es für Konditionen bezüglich dieses… Kostüm?“
„Keine Ausleihe.“
„Wie?“
„Ich nehme es nicht zurück. Sofern es passt, können Sie es mitsamt der Kiste mit nach Hause nehmen.“
„Und wie ist Ihre Preisvorstellung?“ Nur nicht zu sehr zeigen, wie begierig ich auf diese Dinge bin. Nicht nur auf die Truhe. Trotz dieser seltsamen und makabren Umstände möchte ich auch das Kostüm haben. Allein dieses Gefühl beim Tragen. Auch wenn es wohl nicht viele Gelegenheiten geben dürfte, bei denen diese Kleidungsstücke passend sind.
Aber es gibt ja auch noch meine eigenen vier Wände.
Der Typ bleibt regungslos, als er mit stoischer Ruhe sagt: „Ich möchte kein Geld von Ihnen.“
„Nicht?“, starre ich ihn überrascht an.
„Nein. Aber eine kleine Bitte.“
Dieser Verrückte ‚bittet‘ mich um was?
„Nehmen Sie an Ihrer Feier teil. Mit dem Kostüm. Die Familie Martinelli wäre sicher sehr erfreut, wenn Sie so ihren Sohn ehren würden.“
Nun ja, wenn das alles ist…
„Wann ist er denn gestorben? Ist das schon länger her?“
„Schon einige Jahre. Aber genau weiß ich das nicht mehr.“
„Und woran?“, frage ich neugierig. Ohne zu erwarten, dass er mir antwortet.
„Holzpfahl“, ist die knappe Antwort.
WAS!?
„Die Leute fürchten, was sie nicht verstehen.“, meint er achselzuckend.
Gruselig.
Auch wenn er nicht mehr sagt, kann ich mir vorstellen, was passiert ist. Die Menschen haben diesen Alessandro für einen Vampir gehalten und ihn auf grausame Weise ermordet.
Was für eine schreckliche Tat. Und das alles wegen irgendwelchen abergläubischen Dummköpfen.
Der arme Mann, die arme Familie.
„Sind Sie sicher, dass es dann richtig ist, diese Kleider als Vampirkostüm zu verwenden?“, zweifle ich.
Ja, ich möchte sie haben. Aber das erscheint mir dann doch sehr geschmacklos.
Der Alte nickt. „Die Familie weiß es. Und ist einverstanden. Das hatte ich Ihnen schon gesagt. Späte Genugtuung, sozusagen.“
Verstehe ich nicht.
Nun kichert er wieder. „Sie haben ziemlich exakt seine Statur. Alles andere wäre für die Familie nicht infrage gekommen. Aber so sind Sie der perfekte Erbe… für die Kleidungsstücke.“
Was redet er für komisches Zeug? Natürlich muss ich einen ähnlichen Körperbau haben, sonst würde es wohl nicht passen.
„Dann hat die Familie also wirklich nichts dagegen?“ Ich muss mich einfach noch einmal rückversichern.
„Nein, Sie können ohne schlechten Gewissen den Blutsauger darstellen. Und vergessen Sie die Zähne nicht.“
Ach ja, das Vampirgebiss.
„Diese sind ein wenig anders als üblich.“
Ob sie auch kalt sind?
So langsam werde ich noch genauso schrullig wie er. Es wird wirklich Zeit, dass ich aus diesem komischen Haus wegkomme.
„Sie sind verpackt, es gibt ein Teil für oben und unten- ist aber beschriftet. Einfach aus der Folie nehmen und auf ihre Zähne pressen, Sie können nichts falsch machen.“
Keine Ahnung, das ist diesbezüglich meine Premiere. Aber hört sich nicht sonderlich kompliziert an.
„Die Zähne sind mit einer besonderen Haftcreme versehen. So ähnlich wie die dritten. Deshalb sind sie auch in einer Folie. Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn sie fest sitzen und Sie sie nicht mehr herausnehmen können.“
Was sagt er da?
„Keine Sorge“, fährt er fort. „Diese Zähne sind nicht so übertrieben spitz wie dieser Plastikmüll. Sie können trotzdem noch gut sprechen.“
Und diese Zähne sind nicht aus Plastik, oder wie?
Es ist aber etwas anderes, was mich irritiert.
„Wenn ich sie aber herausnehmen möchte? Geht das, ohne meine Zähne zu schädigen? Und wie lange wirkt diese Haftcreme?“
„Keine Sorge.“ Weshalb grinst er so selbstgerecht? „Ich garantiere Ihnen, Sie werden zufrieden sein. Nach einer Weile werden Sie sie nicht mehr als Fremdkörper empfinden.“
„Aber wenn sie stören, ist es kein Problem, sie herauszunehmen?“
„Lassen Sie das Gebiss eine Stunde drin. Dann sind Sie es gewöhnt. Es wird nicht vorkommen, dass sie Ihre Vampirzähne entfernen möchten und dies nicht geht.“
Ich werde sie wohl nicht anziehen. Aber das braucht er nicht zu wissen.
„In Ordnung.“, sage ich deshalb nur.
„Dann ziehen Sie sich bitte wieder um. Ich warte drüben, im Laden.“
Wie bitte?
Ich soll allen Ernstes dieses wunderbare Kostüm ausziehen? Auf dieses herrliche Gefühl verzichten?
Niemals.
Ein seltsam knurrender Laut entweicht meiner Kehle.