So. Fertig.
Ich hatte keine großen Probleme damit, die Linsen einzusetzen, obwohl das ja sozusagen Premiere für mich ist. Sie gleiten geradezu an die richtige Stelle.
Ich dachte immer, man merkt so etwas und müsste sich erst daran gewöhnen. Diese hier scheinen aber besonders zu sein. Sie drücken oder behindern nicht. Ich merke sie nicht einmal.
Und doch sind sie da. Im Spiegel kann ich sie sehen, wie sie auf meinen Augen anliegen und mir diese dunkle Farbe geben. Den dunklen Schleier kann ich allerdings nirgends entdecken. Dieser Effekt scheint nicht sichtbar zu sein -bei mir zumindest. Schade eigentlich.
Aber auch so wirkt es klasse. Das Braun passt gut zu den Haaren, wesentlich besser als mein natürliches Grün. Da muss man schon genau hinsehen, um mich zu erkennen.
Bei diesem Gedanken muss ich kurz auflachen. Nein, nicht dieses alberne Kichern wie die des verrückten Mannes vorhin im Laden – dies kommt tief aus meinem Rachen und hat ein anderes Timbre. Leicht düster und bösartig. Gleichzeitig scheint etwas in mir zu triumphieren und mich gleichzeitig zu drängen, doch endlich die Zähne anzuprobieren.
Ja, ich bin sehr neugierig darauf, wie diese typische Vampirmerkmal an mir aussehen wird. Ich fühle mich ja bereits jetzt viel selbstbewusster und attraktiver als sonst.
Ob das daran liegt, dass ich leicht gefährlich wirke? Meine Augen wirken so anders, nicht nur wegen den Linsen – sie haben einen fremdartigen Glanz und wirken seltsam kalt. Fast grausam.
Ja, etwas an mir hat sich verändert. Ich bin nicht mehr der schwache Daniel. Dieser Alessandro, den ich heute darstellen werde, ist stark und den anderen Gästen weit überlegen.
Dieser Gedanke befriedigt mich sehr und bringt mich erneut zum Lachen. Dann wende ich mich diesen geheimnisvollen Zähnen zu. Das klang ja schon merkwürdig, mit dieser Haftcreme.
Vorsichtig öffne ich beide Beutel. Zum Vorschein kommen zwei gefüllte Plastikbeutel, die sicherheitshalber nochmals entsprechend beschriftet sind.
Der Unterschied zwischen „oben“ und „unten“ scheint in der Länge der berühmten Eckzähne und die Position derselben zu liegen. Die oberen sind etwas länger und stehen weiter außen. Was auch sinnvoll ist – so stehen sie nicht über- sondern nebeneinander und man kann den Mund schließen. Ist meines Wissens ja auch bei anderen Raubtieren so.
Wenn ich auch, zugegeben, fast ein wenig enttäuscht bin. Ich hatte mit langen Fangs gerechnet, so, wie ich es mir in meiner Fantasie vorgestellt hatte. Aber diese Eckzähne sind ernüchternd kurz, trotz des Längenunterschieds.
Ich zucke etwas ratlos mit den Schultern. Andere werde ich nicht mehr rechtzeitig bekommen können. Also reiße ich das Päckchen für die obere Zahnreihe auf und betrachte sie nun ohne die schützende Hülle.
Die Zähne sind leicht karamellfarben und nicht so grell weiß, wie ich es sonst von diesen künstlichen Faschingsexemplaren kenne. Dadurch wirken sie natürlicher und erinnern mich an die meinen. Nur die Eckzähne sind spitz – die anderen dagegen sind unauffällig. Wenn man davon absieht, dass sie makellos in Reih und Glied stehen.
Es handelt sich um eine Art Schiene, die über die eigenen geschoben wird. Anders als eine Beißschiene vom Zahnarzt wölbt sie sich jedoch mehr nach oben, so dass die echten Zähne mehr umschlossen und verdecken werden.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie gut sitzen werden, so wie mir der sonderliche Kauz prophezeit hat. Wenn ich Pech habe, passen sie überhaupt nicht. Schließlich ist jedes Gebiss sehr individuell, da bräuchte man schon einen Abdruck des Zahnarztes.
Die sogenannte Haftcreme kann ich nicht entdecken, allerdings vermeide ich auch den direkten Kontakt mit den Fingern. Nicht, dass ich dadurch etwas kaputtmache.
Während ich dieses Plastik – das muss es doch sein, auch wenn es sich gar nicht so anfühlt – betrachte, überkommt mich ein großes Verlangen, diese endlich anzuziehen. Ein Gefühl, unvollständig zu sein, dass nur mit dem Anlegen dieser neuen Zähne beseitigt werden kann.
Ohne weiter zu überlegen, fast wie unter einem Zwang, schiebe ich die Schiene für oben in meinen Mund hinein.
Lange herumprobieren muss ich nicht. Wie von Zauberhand schiebt sich der Aufsatz an die richtige Position. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, er passt sich meinen Zähnen an, indem er sich entsprechend leicht verformt.
Eine Einbildung natürlich.
Auf jeden Fall scheint dieses Gebiss jedoch besser zu sitzen als befürchtet. Testweise rüttle ich daran. Genauer gesagt – ich versuche es. Keine Bewegung, Bombenfest sitzen sie.
Nun kann ich es nicht mehr erwarten. Wird das andere Teil auch so perfekt sein?
Eifrig reiße ich die Folie auf.
Wieder das gleiche Ergebnis. Die Vampirzähne schieben sich wie magnetisch an die eigenen, schieben sich über sie. Man könnte auch sagen, sie ersetzen die meinen. Als wollten sie nun diese Aufgabe übernehmen.
Fast ein wenig unheimlich.
Gleichzeitig fühle ich mich unendlich erleichtert. Endlich komplett.
Ich öffne weit den Mund, um auch alles gut sehen zu können.
Echt krass! Man sieht gar nicht, dass diese Zähne künstlich sind. ‚Meine‘ sind gar nicht mehr zu sehen.
Und dieses neue Gebiss gefällt mir weitaus besser. Makellos in Reih und Glied, und die spitzen Fangzähne sind nicht einmal besonders störend, dafür sind sie zu kurz. Aber lang genug, um aufzufallen.
Ja, sexy. Ohne Zweifel.
Der mächtige Jungvampir ist jetzt bereit für die große Halloween- Feier.
Ja, so fühle ich mich nun. Wie ein solches Geschöpf der Nacht. Diese Kühle, die bisher von den Kleidern ausging, ist nun vollständig in mir. Ich weiß nicht, woher ich dieses Wissen habe, aber sie wird für immer in mir bleiben.
Nun spüre ich eine dunkle Energie, die, wie es scheint, schon seit der ersten Anprobe der Verkleidung in mir war. Doch erst jetzt scheint sie ungehindert fließen zu können. Ich bemerke, wie sie immer stärker wird und anschwillt. Wie dieser Schleier, den ich in den Kontaktlinsen gesehen habe. Doch dies ist kein unwirklicher Nebel. Nein, es sind tiefe Fluten, die in mir sind. Ich bin in einem riesigen schwarzen Meer, das mich überflutet, mich verschlingt.
Eigentlich sollte ich Angst haben, schreien, fliehen und irgendwie Hilfe suchen. Stattdessen kann ich nicht anders, sondern genieße es. Dieses In-Mir zwingt mich erneut zu einem grausigen Lachen. Ein Laut voller Bösartigkeit und Spott ist von mir zu hören, viel stärker als zuvor. Langanhaltend und laut.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich verstumme.
Statt mich weiter im Spiegel zu betrachten, schließe ich nun die Augen.
Ich bin ein Gefäß, das neu gefüllt wird. Der letzte Rest des alten, klaren Wassers wird nun ausgeschüttet und durch eine dunkle, schwarze Flüssigkeit ersetzt. Die Frische vergeht und eine immerwährende Fäulnis kommt.
Und das Verrückte ist, es macht mir gar nichts aus, im Gegenteil. Freudig heiße ich diese dunkle Brut in mir willkommen.
Ohne Widerstand lasse ich mich mit in den Abgrund ziehen und werde alles mit mir machen lassen, was sie will. Mir zeigen lassen, welche Bilder sie für mich hat. Alles zu tun, was sie von mir verlangt.
Sie ist mein Meister, und ich ihr williger Diener.
So, damit ist die Wandlung vollzogen.
Ich mache hier mit dieser Geschichte eine Pause, damit ich meine Winterinvasion noch rechtzeitig fertigschreiben kann. Auch sollte ich mich noch um einige andere meiner Geschichten kümmern. Sonst wird das alles zu unübersichtlich und zu viel gleichzeitig.
Aber es wird hier weitergehen, spätestens nächstes Jahr, vielleicht auch vorher schon (kommt jetzt auch darauf an, wie lange ich die Finger bzw. Tasten von DIESER Geschichte lassen kann).
Die Geschehnisse auf der Party müssen ja noch erzählt werden. Und auch dieser verrückte Kautz wird nochmal vorkommen. Und da war ja auch noch etwas mit einem Werwolf, oder?
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.