Meine Einschätzung erweist sich als richtig. Bald habe ich ihn entdeckt.
Er hat sich mit seinen Freunden an einem der Tische gesetzt. Sie haben eine Gruppe junger Damen entdeckt und sind auf klassische Weise damit beschäftigt, sie anzubaggern. Bruno macht da keine Ausnahme.
Insbesondere die Schwarzhaarige, die neben ihm sitzt, hat es ihm angetan. Sie ist durchschnittlich groß, hat aber durchaus ausladende Rundungen zu bieten. Dabei ist sie weder dick noch dünn, aber leicht muskulös. Entweder ist sie Sportlerin oder geht zumindest regelmäßig ins Fitnessstudio. Ansonsten ist sie dezent geschminkt, trägt eine schwarze Jeans sowie ein enganliegendes, rotes Top mit einem Aufdruck, der mir nichts sagt. Auffallend sind jedoch die vielen Glitzerapplikationen.
Ich erinnere mich, dass dies schon immer sein Beuteschema war.
„Weißt du, Daniel, so ganz dürre Mädels, das ist einfach nicht meins. Da muss ich immer Angst haben, etwas kaputtzumachen, wenn es mal heftiger zugeht“, pflegte er immer zu sagen.
Was er da genau treibt, möchte ich gar nicht so genau wissen. Aber den Gesichtern der Frauen nach zu urteilen, ist es nicht schlecht. Der Mann ist wie ein wilder Wolf, der alle in seinem Rudel ausprobiert.
Und dazu passt natürlich auch sein Kostüm. Er variiert es von Jahr zu Jahr ein wenig, trotzdem erkenne ich ihn immer sofort. Am auffälligsten ist natürlich seine Werwolfsmaske. Ich weiß, dass er zu Hause ein ganzes Sammelsurium voller Larven hat. Für diese Halloweenfeier hat er jedoch eine Halbmaske gewählt, die ihm wildes Haar und lange Ohren verleiht, die aber mit ihrer Fellapplikation nur das halbe Gesicht bedeckt. Den Rest des Gesichts hat er sich passend geschminkt.
Ich kann ihn verstehen. Flirten ist ein wenig unpraktisch mit Vollmaskierung – vom Schwitzfaktor ganz zu schweigen.
Ansonsten trägt er eine braune Jeans und ein dünnes langärmliges Shirt, welches mit einzelnen Fellbüscheln verziert ist. Seine zwei Handschuhe, die zum Kostüm gehören und ihm Klauen verleihen, hat er in seinen Gürtel gesteckt.
Ich weiß, dass er zu Hause weitaus aufwändigere Verkleidungen hat. Aber für diesen Anlass ist das sicher passender, als vollständig im Fell herumzulaufen.
Wobei das sicher auch lustig wäre.
So oder so, bald wird sich das eh ändern und er wird nachts in Komplettbehaarung den Mond anheulen.
Bruno als Werwolf, das passt zusammen.
Im Gegensatz zu mir wird sich durch die Verwandlung im Alltag für ihn wenig ändern. Er wird die gleiche Arbeit machen, sich weiter in der Sonne bewegen und sich abends mit den gleichen Freunden treffen.
Allerdings wird sein Wesen anders sein, sobald er dieses Doppelleben führt. Das Tierische, Animale wird ihm anhaften – Rudelmarkierungen, Besitzansprüche, Krallen zeigen und eine gewisse Rücksichtslosigkeit gibt es auch unter Sterblichen und sie sind sogar hilfreich, wenn es um die Karriere geht. Solange keine Treffen bei Vollmond stattfinden, ist für ihn alles gut.
Allerdings täte man Unrecht, alle über einen Kamm zu scheren. Es gibt Einzel- oder auch Rudelgänger unter ihnen. Bruno könnte ich mir gut als Alpha vorstellen, der die anderen leitet und anführt – am besten mit einer Gefährtin an seiner Seite. Diese Frau dort würde gefühlsmäßig gut zu ihm passen.
Den Blicken und Gesten zu urteilen, ist es ihm ernst, was sie angeht, kein flüchtiger Flirt. Seine Hände haben die ihren umfasst. Sanft streicheln seine Daumen ihre Handrücken.
Zwischen beiden funkt es gewaltig. Vermutlich trägt auch dazu bei, dass er nüchtern ist. Erfahrungsgemäß kommt dies beim anderen Geschlecht gut an.
Merkwürdig ist das trotzdem. Sicher, ich habe ihn gedanklich das Flirten nicht explizit verboten. Aber eigentlich dürfte er gedanklich daran kein Interesse haben, sondern nur daran, die bisherige Situation zu genießen und bleiben zu wollen. Dass sein Geist so frei ist, etwas Neues anzufangen und sich sogar zu verlieben, ist sehr ungewöhnlich.
Ich habe keine Lust zu warten, sondern will die Sache mit Eric endlich hinter mich bringen.
Erst dann bin ich frei.
Möglichst unauffällig drücke ich mich in eine dunkle Ecke der Bar, um ihn von dort zu beeinflussen. Ein überhasteter Aufbruch wäre angesichts dieser Turteltauben unangemessen. Ich bringe ihn einfach dazu, dass er den plötzlichen Drang verspürt, nach draußen zu gehen, um seine Schwester anzurufen. Eine dunkle Ahnung, ihr sei etwas passiert.
Erst mal draußen, kann ich ihn dann in aller Ruhe dazu bringen, mit mir zum Kostümladen zu fahren.
Ein bösartiges Grinsen ist in meinem Gesicht, als ich ihm den Befehl gebe. Mit seiner Romanze ist damit erst mal Schluss.
Ungeduldig warte ich darauf, dass er aufsteht.
Nichts passiert
Verdammt!
Zweiter Versuch!
Wieder erfolglos.
Irgendetwas stimmt nicht.
Ich muss die Sache anders angehen.
Bisher hatte ich Bruno immer nur nachlässig den Befehl geschickt, da ich davon ausgegangen bin, dass dies schon automatisch funktionierten würde. Kontrolliert habe ich das nicht.
Nun gehe ich strukturierter vor. Mit meinem ganzen Willen konzentriere ich mich auf seine Augen und Stirn, die ich von meinem Platz gut sehen kann. ‚Ich muss dringend raus gehen und meine Schwester anrufen, etwas ist passiert‘, suggeriere ich eindringlich.
Nichts passiert. Stattdessen spüre ich eine mentale Mauer, die meine Versuche problemlos abblockt. Keine Risse, kein Schwanken sind zu erkennen.
Sie steht mir felsenfest gegenüber und weicht keinen Millimeter.
Ein wütendes Grollen entfährt meinem Rachen als ich zugeben muss, dass ich unerwartet ein großes Problem habe.
Brunos Willen ist zu stark, als ob ich ihn beeinflussen könnte.
Er ist immun.