Spoilerpotential für: "Die Geschichte von Misa und Wolf"
Es ist mitten in der Nacht, als plötzlich die Glocken auf dem Dach der Herberge für abgemurkste Figuren läuten. Kento kippt fluchend aus dem Bett und landet auf dem harten Boden.
"Was soll denn dieser Lärm zur nachtschlafenden Stunde?" Der Mensch reibt sich den Kopf, den er sich bei dem Sturz abgeschlagen hat.
Ziaz, die gefleckte Katze, nutzt die Gelegenheit, um mit einem eleganten Satz auf seiner Brust zu landen. Sie maunzt.
"Eine neue Geschichte, sagst du?", fragt Kento, während er sie krault. "Na gut, sehen wir uns das mal an."
Er erhebt sich geschickt und nimmt die Katze dabei gleichzeitig auf den Arm. Vorsichtig tappt er barfuß zur Tür seines kleinen Zimmerchens, das ein Bett, Schreibtisch und Stuhl, einen Kleiderschrank und ein abgenutztes Sofa enthält.
Als Kento die Tür öffnet, fällt ein heller Lichtstrahl auf den Teppichboden. Draußen auf dem Flur leuchten die Lampen bereits und mehrere verschlafene Gesichter blinzeln in das helle Licht.
"Was ist los?", ruft Kento einem davon zu.
"Marvin hat eine neue Geschichte begonnen", antwortet sein Zimmernachbar. "Hast du das noch nie erlebt?"
"Nein, ich bin noch nicht lange hier", antwortet Kento.
"Kannst ja erst gestern gekommen sein", murmelt der Zimmernachbar und zieht die Tür wieder zu. "Wenn du gucken gehen willst, geh auf's Dach. Mir ist das schon längst langweilig geworden."
"Danke!", sagt Kento zu der ins Schloss fallenden Tür. "Sag mal, aus welcher Geschichte bist du?"
"Unveröffentlichtes Erstlingswerk", antwortet der Nachbar aus dem Zimmer gegenüber. "Er ist sauer, weil sein Nachfolger in der neuen Version überlebt."
"Oh. Das klingt wirklich ärgerlich", gibt Kento zu. Er krault Ziaz. "Na, willst du die neuen Figuren sehen?"
Die Katze maunzt bejahend. Also nickt Kento seiner Auskunft dankend zu und sucht den Weg zum Treppenhaus. Gar nicht so einfach, denn der Grundplan des Gebäudes stammt von Lyssa, nicht vom Wolf. Folglich basieren mehrere Gänge auf optischen Illusionen und unmöglichen Treppen, andere Wege sind länger oder kürzer, als sie in einer normalen Welt sein dürften und einmal findet sich Kento überraschend an der Decke des Schwimmbades wieder. Kopfüber. Nach mehreren Irrungen und Wirrungen findet er endlich eine Treppe nach oben und schließlich die Metalltür zum Dach.
Das Dach ist eine Überraschung: Kento tritt auf weißgekieste Wege zwischen dunkelgraublauen Betonblöcken, in denen Hochbeete angelegt sind. Außer Kräutern und Gemüse wachsen darin jedoch vermehrt Palmen, Brombeeren, dichte Hollundersträucher, Apfel- und Kirschbäume und sogar Schilf rings um künstliche Teiche. Nur am Boden, rings um die Betonblöcke, gibt es einen zwanzig Zentimeter breiten Erdstreifen, in dem ausschließlich Vergissmeinnicht und weiße Rosen blühen, eine ständige, höhnische Erinnerung an den Tod, den die Stammbelegschaft der Herberge hinter sich hat.
Schwarze und aufwendig verzierte Laternen beleuchten das nächtliche Dach. Im Blütenmeer sehen sie aus wie im tiefsten narnianischen Winter.
Kento folgt den Wegen in die Richtung, aus der er Stimmengemurmel hört. Am Rand des Daches haben sich unzählige Figuren versammelt, Einwohner der Herberge genauso wie Gäste, die ihre verstorbenen Freunde besuchen wollten. Alle drängen sich am Gitter und versuchen, einen Blick auf die Straße zu erhaschen. Kento sucht einen freien Platz, als ihm jemand in einem langen, schwarzen Mantel winkt. "Hier!"
Kento stellt sich neben den - oh, es ist eine Frau. "Danke."
"Leute mit epischen Mänteln sollten zusammenhalten." Die Unbekannte tippt sich kurz an den Hut. "Erstes Mal? Du hattest diesen Neulingsblick."
Kento nickt. "Jepp. Ich bin jetzt erst eingezogen."
In diesem Moment verstummt das Glockengeläut.
"Gutes Timing. Jetzt sollten sie gleich kommen."
Die Frau im Mantel macht Kento Platz. Er beugt sich mit über das Geländer. Unter ihnen - etwa drei Stockwerke tief - liegt eine dunkle Straße, die von vor dem Gebäude an der Seite entlang zu einer großen Lagerhalle führt. Während Kento hinunter sieht, setzt sich das Garagentor knirschend und ratternd in Bewegung und fährt langsam hoch. Ziaz zappelt und krabbelt auf seine Schulter. Mit geregten Hälsen und angehaltenem Atem sehen die beiden auf die finstere Schwärze, die hinter dem Eingang gähnt.
Dann ... erklingt Musik.
"Ohhh, das ist mein Lieblingspart!", flüstert jemand aufgeregt.
Woanders hört er jemanden stöhnen. "Ich hasse dieses Lied."
Auf der Straße bewegt sich etwas. Kento beugt sich vor und sieht eine Reihe dunkler Gestalten aus der Lagerhalle marschieren. Nagelneue Figuren direkt aus der Charakterschmiede, die Lyssa dort betreibt. Noch nicht detailliert und teilweise sicherlich noch namenlos, doch in vielen neuen Gestalten und Formen, auf, um Abenteuer sondergleichen zu erleben und eine ganz eigene Welt im Sturm zu erobern. Stumm und nahezu geräuschlos wandern sie an der Herberge vorbei und zu dem Weg, der hinauf auf den grauen Berg führt. Das erste, was sie im Leben sehen, ist gleichzeitig auch der Ort, wo einige von ihnen am Ende des Reise landen würden. Doch noch sind sie erfüllt von strahlendem, unentfaltetem Potential. Mit neugeschriebenen Augen blinzeln sie in das Licht der Welt - neugierig und hungrig auf das Leben als Figuren.
Die Klänge des Liedes erfüllen die Luft und Kento kann die Worte verstehen:
"There won't be many coming home ... no, there won't be many coming hooome!"