Das schrille Kreischen einer Banshee erklingt über dem Berg, worauf diverse Türen oder Fenster aufgerissen werden. Während der graue Wolf sich im eilig errichteten und noch nicht weiter ausgebauten Hauptsitz der ‚Akademie für Chaos‘ unter dem Sofa versteckt, laufen die mutigeren Figuren auf den großen, offenen Platz, wo sich einige der Hauptgebäude um einen Marktplatz versammeln würden – später einmal, wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind.
Caryellê, die dunkelhaarige Elfe, hat einen Pfeil auf der Bogensehne und sucht unter den vielen bunten Lichtern am Himmel nach einem geeigneten Ziel für ihr elfisches Geschoss.
Samstag Asparagin senkt erleichtert sein Gewehr, als er erkennt, dass keine Gefahr droht.
„Kannst die Waffe runter nehmen, Cary.“
„Was?! Siehst du das nicht?“
„Das ist doch nur Feuerwerk!“
„Feuerwerk?“ Ein weiterer Knall ertönt und erneut zischt eine Rakete in den Himmel, um dort vielfarbiges Chaos auszuspucken. Cary wirbelt empört herum und versucht, zu zielen.
„Ja, heute ist Silvester! Eigentlich geht es ja erst um Mitternacht los, aber ein paar Leute sind wohl übermotiviert.“ Sam steckt das Gewehr weg, das im Übrigen die Gestalt eines roten Regenschirms mit gebogenem Griff hat.
Immer wieder zischen Raketen in den Himmel. Sam zieht eine Taschenuhr an einer Kette aus der Hosentasche und kontrolliert die Zeit.
„Ich denke, wir sollten die ganzen Tierfiguren jetzt in irgendein Versteck bringen.“
„Wozu das?“, fragt Cary, die inzwischen Übles ahnte.
„In einer halben Stunde geht die Knallerei richtig los. Dann würden die ganzen Wölfe, Hunde, Katzen, Pferde … naja, eben alle Tiere ziemlich ausflippen.“
Ein recht kleiner Grauwolf mit vier Narben auf dem Rücken huscht mit gebeugten Beinen, den Körper nah am Boden, vorbei und murmelt: „Ich flippe jetzt schon aus!“
Cary steckt den Bogen weg und nickt Sam zu. „Wie kann ich helfen?“
„Fang alle Tiere ein, die hier herumlaufen“, sagt Sam. „Am besten auch deinen Hirsch. Wir können sie in das Gebäude von ‚Wendigowak und andere Katastrophen‘ bringen, da laufen doch rund um die Uhr Gronkhs Let’s Plays. Gronkhs Stimme soll auf Tiere beruhigend wirken, außerdem übertönt die Geräuschkulisse dann ein wenig den Lärm der Raketen.“
Die Elfe nickt und läuft los.
~*~
„Ihr könnt wirklich unter dem Bett hervorkommen“, sagt Misatyra Luminor.
„Wie kannst du so etwas sagen?“, ertönt es recht schrill von unter dem Bett. „Ich höre doch genau, wie die Welt untergeht! Du solltest dich besser mit uns verstecken!“
„Kento!“, sagt Misa streng und legt sich auf den Bauch, um unter ihr Bett sehen zu können. „Ich habe dir doch schon erklärt, dass das ganz ungefährliches Feuerwerk ist!“
Ein blasser, dunkelgekleideter Mann starrt sie verschreckt an. Neben ihm hocken eine gefleckte Katze – Ziaz – und ein kleiner, hellbrauner Hund mit Halbknickohren. Phosphor Pyron hat Angst, weswegen er in seiner Hundegestalt gefangen ist und sich nicht in einen Menschen verwandeln kann. Misa seufzt. Kentos Gerede vom Untergang der Welt und hereinbrechendem Krieg hat Phosphor verängstigt.
Sie streckt eine Hand unter ihr Bett und greift nach der weichen Pfote des Hundejungen. Phosphor sieht sie aus dunkelbraunen Augen an.
„Vertrau mir!“, flüstert Misa. Sie weiß inzwischen, dass Phosphor ihre Worte im Moment nicht verstehen kann, aber er versteht durchaus ihre Stimmlage. Und inzwischen verstehen sie einander auch ohne Worte. Bald robbt Phosphor auf dem Bauch ins Freie und sieht sich leicht geduckt im Zimmer um. Misa legt die Arme um das Hündchen. „Keine Angst, Wolf“, flüstert sie in sein Fell. „Komm zurück!“
Nach einer Weile spürt sie, wie sich das Fell innerhalb von Sekunden in groben Stoff verwandelt, und dann sitzt der leicht hagere Junge mit den strubbeligen Haaren vor ihr.
Misa grinst ihn an und nimmt seine Hand. „Und jetzt gucken wir uns das Feuerwerk an!“
Sie zieht ihn aus dem Zimmer.
„Was?!“, kiekst Phosphor, als wäre er plötzlich wieder im Stimmbruch. „Du willst da raus?!“
Misa duldet keinen Widerspruch. „Es wird dir bestimmt gefallen! Die Farben, die Lichter!“
„Misa!“, schreit Phosphor und wehrt sich gegen ihren Griff, sodass Misa tatsächlich ein wenig Kraft aufwenden muss, um ihn durch das Haus ihrer gemeinsamen Geschichte zu ziehen. Im Erdgeschoss des modernen Baus – das Haus ist der Villa der Luminors aus der Geschichte nachempfunden, da es passt und der Autor zu faul war, sich etwas neues zu überlegen – erstarrten die beiden jungen Freunde allerdings.
Unter dem Tisch im Esszimmer kauert eine riesenhafte Gestalt, schwarzes Fell mit blutroten Streifen, eine prächtige Mähne und lange Klauen. Ein schwarzer Liger, teils Löwe, teils Tiger, dem ein Wimmern aus dem gewaltigen Maul entweicht. Eine neue Rakete zischt und das mächtige Raubtier rollt sich mit einem Kreischen enger zusammen.
Misa verdreht die Augen. „Ach, Comodos …“
~*~
Schließlich sind die überwiegende Anzahl tierischer Buchfiguren in ihrem Schutzbunker für die letzte Nacht des Jahres, und die bunte Masse aller anderen Figuren versammeln sich auf der Kuppe einer Steilklippe am Bergrand.
Die Hexe Istari hat einen großen Kessel Tee gebraut, aus dem sie reichlich verteilt. Die sieben Kinder der Elemente haben mit viel Mühe gemeinsam einen Kuchen aus Feuer, Wasser, Erde, Luft und Geist erschaffen, der sogar erstaunlich gut schmeckt. Währenddessen tragen andere Figuren Bänke und Stühle zum Sitzen nach draußen, mehrere wärmende Feuer werden entzündet und ein Teil der Figuren setzt sich, während einige andere sich bereit machen, ihre Raketen zu zünden.
„Zehn!“, erklingt ein Ruf.
„Neun, Acht, Sieben, Sechs, Fünf …“ Alle beginnen, die letzten Sekunden des Jahres 2018 herunter zu zählen. Diverse Pärchen legen die Arme umeinander.
„… Vier, Drei, Zwei, Eins!“
Im ganzen Land steigen mit einem Mal Raketen wie Sternschnuppen in den Himmel. Und während Milliarden bunter Lichter den Himmel der Fantasie sprenkeln und mit den Sternen um die Wette funkeln, vertreibt die Welt ein weiteres Mal die unzähligen Dämonen von Angst, Trauer und Zweifel mit Farbe und Lärm, wie es seit Jahren Tradition ist (und verfeuert dabei ein Vermögen an Geld sowie einen beträchtlichen Prozentsatz der atembaren Luft in der Atmosphäre).
Der Autor und Lyssa schweben gestaltlos über dem von unzähligen Lichtern erleuchteten Berg. Lyssa malt eine lautlose und umweltfreundliche Version der unzähligen Farben.
„Frohes Neues“, flüstert der Autor.