"Hatschie!" Xenons Pfoten verlieren kurz den Kontakt zum Boden.
"Ahhh! In die Ellenbeuge! In die Ellenbeuge!", quiekt Macchiato. Das große Pferd geht hinter mir in Deckung. Folglich kauert nun ein bibbernder Hengst hinter einem Grauwolf, der deutlich zu klein ist, um sich dahinter zu verstecken.
"Beruhig dich", sage ich. "Das Corona-Virus kann nicht übers Internet übertragen werden."
"Aber sieh ihn dir doch an! Ganz klar ein Krisenzombie!" Macchiato schafft es irgendwie, sich noch weiter zusammenzukauern.
Ich muss zugeben, dass Xenon wirklich einen schrecklichen Anblick bietet. Tränende, zugeschwollene Augen, schweißverklebtes Fell und momentan ein leidendes Gesicht, weil er zum nächsten Nieser ausholt.
"Huaaachuuu!" Für so ein kleines Tier niest Xenon erstaunlich laut. "Heunumpfen", nuschelt er dann unglücklich.
"Ohhh!" Macchiato sieht sich mit großen Augen um. "Es ist schon Frühling?"
"Dass du das übersehen konntest!", wundere ich mich. Der Innenhof der grauen Burg versinkt in meterhohen Blumen und Gräsern. Einige baumgroße Sonnenblumen überschatten eine Landschaft aus Tulpen, Vergissmeinnicht, Löwenzahn, Veilchen, verspäteten Schneeglöckchen und Disteln. Durch die Luft taumeln kopfgroße Hummeln und urzeitgroße Schmetterlinge und Libellen. Dichte Pollenwolken wogen golden über den Spitzen der Gräser.
"Ich dachte, das wäre mal wieder einer von Lyssas Streichen", murmelt Macchiato kleinlaut.
Auf der Stelle schießt mein Symbisit aus einer violetten Blume. "Ave, Eva!", krakelt Lyssa.
Macchiato sieht sich suchend um. "Wer ist Eva? Ein neues Pseudonym?"
Xenon niest erneut fürchterlich.
Ich schlucke, weil mir Übles schwant.
"Ein Leben mit Hegel?" Lyssa funkelt. "Der Edle geht im Nebel nie."
Macchiato wirft mir einen unsicheren Blick zu. "Geht es ihr gut? Hat sie was falsches gegessen? Vielleicht wachsen hier irgendwo Pilze ..."
"Geist ziert Leben, Mut hegt Siege, Beileid trägt belegbare Reue, Neid dient nie, nun eint Neid die Neuerer, abgelebt gärt die Liebe, Geist geht, umnebelt reizt Sieg", trägt Lyssa vor.
"Nicht", sage ich leise zu Macchiato. "Reiz sie nicht."
Ein Insekt summt nah an Lyssa vorbei. Das Kreaich dreht sich ihm hinterher und ruft erstaunt: "'Ne Biene, die bei den Eiben hastet – sah ’ne Biene die beiden Eiben?"
"Hier sind keine Eiben!", ruft Mac ihr zu. "Und das war eine Wespe."
"Und nu?" Lyssa umkreist ihn. "Lesen Esel?"
Mac dreht sich nervös im Kreis, um Lyssa im Auge zu behalten. Ich höre einen zweiten Hufschlag neben mir. Als ich aufsehe, ist Sepia an meine Seite getreten. Verwundert beobachtet sie die Szene mit Lys und ihrem kleinen Bruder.
"Hatschie!", macht Xenon.
Sepia weicht erschreckt zur Seite. "Wolf? Was ist hier los?"
"Der Weltuntergang", stöhne ich.
"Corona?", fragt Sepia.
"Meing", nuschelt Xenon.
"Klimawandel?", fragt Sepia weiter.
"Nein. Schlimmer", sage ich. "Lyssa hat Palindrome entdeckt."
"Anita, beiss sie, bat Ina!", kräht Lyssa bestätigend.
Sepias Augen bewegen sich schnell, als sie den Satz im Kopf umdreht und rückwärts liest. "Oh", sagt die Stute dann.
"Seitdem redet sie nur noch so", erkläre ich. "Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich vielleicht einen Papagei eingefangen hat."
Aus Sepias Augen sprechen Fragezeichen.
"Na, sie hat manchmal so Phasen, wo sie krampfhaft irgendwas wiederholt. Wie ein Ohrwurm für uns."
Sepia blinzelt. Xenon niest im Hintergrund.
"Wie damals, als sie nur noch in fünfhebigen Jamben gesprochen hat, weil ich 'Faust' gelesen habe", erkläre ich. "Das legte sich erst, nachdem ich einen kompletten Fünfakter geschrieben habe."
"Oh, das meinst du!" Sepia nickt. "Dann musst du jetzt etwas schreiben?"
Lyssa schwirrt schneller um Macchiato. "Ein agiler Hit reizt sie. Geist?! Biertrunk nur treibt sie. Geist ziert ihre Liga nie!" Der Hengst stolpert über seine Hufe und geht in einem Gewirr ausschlagender Beine zu Boden.
Sepia sprintet entsetzt zu ihm. "Marv! Du musst etwas tun, jetzt!"
"Was denn? Ich kann keinen Roman nur aus Palindromen schreiben!", ereifere ich mich.
"Die liebe Tote! Beileid!", quäkt Lys. "Dir, Gisela, male Ina dein Kajak! Nie, Daniela, male Sigrid!"
"Du musst irgendwas tun!", behauptet Sepia scharf. "Bevor noch jemand verletzt wird!"
Ich suche verzweifelt nach einem Ausweg. Also gut, gehen wir der Reihe nach. Zuerst muss ich Lyssa von den Anderen fortschaffen.
"Die Liebe ist Sieger!", rufe ich und laufe zur Burg.
"Rege ist sie bei Leid!", antwortet Lys und flitzt hinter mir her. Sie ist schneller und saust an mir vorbei.
"Die Liebe ist Sieger!", rufe ich wieder. (Ich muss mal mehr Palindrome auswendig lernen!)
"Stets rege ist sie bei Leid." Etwas verschnupft lässt Lys mich aufholen.
Wir trotten in den Thronsaal. Ich lasse den Blick über die Portale zu meinen Pseudonymen wandern. Wer von denen kann mir jetzt am ehesten helfen ...?
Aha!
Ich hüpfe durch ein Portal. Lyssa schwirrt natürlich hinterher. "Die Rede – ist sie der Eid?", ruft sie überrascht aus.
Unter meinen Pfoten spüre ich feuchten Sand. Wärmende Sonne trifft mein Fell und bricht sich auf den Wellen des Ozeans. Und Lys verstummt, ganz in den Anblick des Sonnenuntergangs über dem Meer versunken.
Ganz ruhig schwebt sie auf der Stelle. Ich setze mich neben sie und genieße den schwachen, mit Salzduft angereicherten Wind. Nur das Rauschen der an den Strand rollenden Wellen ist zu hören. Ich kann sehen, wie Lyssas wild flackernde Strahlen sich dem langsamen Atem des Meeres anpassen und sie sich entspannt.
Nach einer Weile höre ich ein feines Geräusch. Ich wende den Blick zur Seite, doch nichts ist zu sehen, außer einer bunten Kaffeetasse inmitten all der Muscheln.
Ich sehe wieder auf das Meer. Irgendwo weit draußen sehen wir einen dunkleren Schatten vorbeiziehen. Es ist allerdings inzwischen zu dunkel, um genau zu bestimmen, was es ist: Ein Schiff auf dem Weg zum Hafen oder doch einer der vielen Wale von Belletristica?
Wieder dieses Geräusch! Meine Ohren zucken und ich drehe mich wieder um. Nein, nichts. Obwohl - die Tasse ist ein Stück näher gekommen!
Grinsend sehe ich auf das Meer. "Mallo, Timo."
Ein sehr feines, beschämt im Sand ersticktes Flüstern antwortet mir. "Guten Abend ..."
Ich lege mich flach auf den Strand. Der Sand gibt einen letzten Rest Tageswärme ab, doch er wird nun rasch kühler. Aus dem blutigen Rot des Himmels schält sich ein neues Meer in Blau und Violett, gesprenkelt mit zaghaft aufleuchtenden Sternen.
"Das hab ich gebraucht!", seufzt Lyssa erleichtert. Sie schwebt tiefer und setzt sich leise prickelnd zwischen meine Schulterblätter.
"Besser?", frage ich in meiner besten Impression der Snickers-Werbung (#notsponsored).
"Auf jeden Fall besser!"
Eine bunte Kaffeetasse stößt sacht gegen meine Pfote und senkt sich dort ab. Zu dritt betrachten wir das Meer. Das Wasser wird dunkelblau, dann schwarz. Doch dann geht eine neue Veränderung mit ihm vor: Es wird still, wie ein Teich, und spiegelt die Sterne und Nebel des Himmels.
"Ich hab das Gefühl, dass das eine gute Metapher abgeben würde", flüstert Lyssa nach einer Weile.
Ich murmele etwas Unverbindliches und sehe weiter in den Himmel. Mit halbem Ohr registriere ich, dass das Portal sich erneut rührt.
"Belle sei Dank - ihr lebt also noch", sagt Sepia schnippisch. "Hattet ihr vor, euch irgendwann mal zu melden?"
"Pscht!", mache ich. "Gleich."
"Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht", schimpft sie weiter. "Und wir mussten Xenon in die Burg sperren. Er hat sich fast von der Burgmauer geniest." Dann schweigt sie anklagend.
Wellen rollen gegen den Strand.
"Geht es dir wieder besser, Lyssa?", fragt Sepia in versöhnlichem Tonfall.
"In der Tat. Ich war einfach etwas zu überdreht in den letzten Tagen", gesteht mein Kreaich. "Und das nicht im positiven, produktiven Sinne."
Ich stupse das blaue Leuchten sanft an. "So geht es uns doch allen. Die reale Welt gleicht mehr und mehr einer nicht fokussierten Geschichte. Die Fantasie ist mit einem Mal gar nicht mehr so verrückt im Vergleich dazu. Angst, Wut, Hoffnung, Unsicherheit ... und ich rede nicht mal nur von dem Virus." Ich rücke etwas hin und her, um im Sand eine bessere Position zu finden. Hinter uns im Schilf zirpen die ersten Grillen. "Dabei vergisst man leicht, dass nun Frühling wird. Riecht doch nur mal!"
Sepia atmet mit einem Schnauben durch. Und ... "Hatschie!"
Lyssa kichert. "Ein Pferd mit Heuschnupfen. Ich bin ein Genie!"
"Erfinde das sofort zurück!", schimpfe ich. "Bevor die Taschentuch-Hamsterkäufe starten!"
Ein kurzes Flackern - und Sepias befreites Aufatmen - signalisieren, dass Lys ihre Allmacht im Fantasiereich eingesetzt hat.
"Also ...", sage ich und lege die Pfoten übereinander: "Wir haben einen ganzen Frühling vor uns! Lasst uns Picknicks machen! In eiskalten Bergbächen baden! Stundenlang die Sterne beobachten! Gärten anlegen!"
"Und Blumen auf frischen Charakter-Grabsteinen pflanzen!", wirft Lyssa ein.
"Endlich wieder draußen galoppieren!", schwärmt Sepia.
Die Kaffeetasse rührt sich leicht. "Und träumen!", flüstert Timofei. "Träume sind wichtig."
"Und träumen!", bestätige ich. Mein Blick haftet an den Sternen.
Viel zu oft lese ich, dass man sich beim Anblick der Sterne klein fühlen soll. Doch ich sehe nur diese unglaubliche Weite, die sich mit Ideen und Gedanken füllen lässt, eine unendliche Leinwand, auf der ich alle Farben der Welt verteilen kann. Und der Frühling ist die beste Zeit für neue Anfänge.