Nachdenklich stehe ich am Rand des Berges und sehe auf Origin hinab. Heute verdeckt mir dichter Nebel die Aussicht, aber da Lyssa treu über meiner Schulter schwebt, entdecke ich viele lustige Formen in den weißen Wirbeln.
„Marv?“ Jemand nähert sich von hinten. Als ich mich umdrehe, erkenne ich Mobu Cajatoshija, den dunkelhäutigen, blinden Feuerelb der Hyphurion-Reihe.
„Ja? Was ist denn?“
„Na ja … wir machen uns etwas Sorgen um dich“, erzählt der Elb. „Du warst ein paar Tage weg und danach wurdest du dann nachdenklich.“
„Da hatte ich Internetprobleme“, sage ich. „Die haben meinen Schreibplan und meine Sozialtoleranz leider etwas aus dem Rhythmus gebracht.“
Ich setze mich und lächele den Feuerelb an. „Kein Grund zur Sorge, Mobu – ich bin eben introvertiert und brauche manchmal eine Pause.“
„Aber du hast nicht einmal deinen Bellesday gefeiert …“
Ich lege ein Ohr an. „Oh. Ja. Eine ganz dumme Geschichte – mir ist ein paar Tage später aufgefallen, dass ich den vollkommen verpasst habe. Einfach vergessen. Was habe ich mich geärgert! Ich hätte einen Text hochladen sollen, so wie Felix, Clayra oder Dark.“
„Verpasst?“, wiederholt Mobu.
„Aye. Irgendwann fiel mir das Siegel der Treue auf meinem Profil auf. Endlich mal ein Siegel! Ich kam mir reichlich blöd vor. Na – jetzt ist es zu spät.“
„Wieso das?“, meldet sich Lyssa. Sie kann nie wegsehen, wenn sie Angst hat, dass ein Text nicht zu seiner Existenz kommt. „Du kannst den Text doch nachreichen! Ich glaube, Dark hat das auch gemacht.“
„Aber …“, druckse ich herum, „das ist ... nicht dasselbe!“
Lyssa hebt eine Augenbraue. Sie ist zwar nur ein pfotengroßes, gleißend weißes Licht mit blauen Flammen, ohne Gesicht, aber ich weiß trotzdem, dass sie gerade die Spock-Miene zieht. Ganz leise und gefährlich erklingt ihre Stimme: „An. Die. Tasten.“
~*~
Tja, als Symbiwirt einer Lyssa hat man es nicht leicht. Die Pfoten auf der für Wölfe modifizierten Tastatur denke ich nach. Was gibt es schon groß über mein Jahr hier zu erzählen? Dass es in vielerlei Hinsicht das beste meines Lebens war? Definitiv! Hätte ich Belle doch nur vor Jahren entdeckt – ich wusste nie, wie sehr eine Schreibseite sich auf das echte Leben auswirken kann, bevor ich merke, wie das belletristicanische Chaos mir bis in die Realität folgte. Ich habe hier eine Menge gute Freunde kennengelernt, so viele, dass ich leider ein paar Mal auch zwischen den Fronten stand. Keine leichte Position – ich hoffe, ich habe dabei niemanden enttäuscht. Auf Belle habe ich mich so akzeptiert gefühlt wie nie zuvor, und ich habe mich in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt – als Autor sowieso, dank unzähliger Challenges, die mich in neue Territorien brachten. Als Wolf und Charakter, besonders, seitdem es die Pseudonymfunktion gibt. Sogar mein Sprachgebrauch hat ein paar interessante Mutationen entwickelt, wie zum Beispiel das Loki-Aye. Und Gesumpfe.
„Was wird das hier? Gesülze?“ Sylas schwebt auf meiner rechten Schulter wie ein Spiegelbild zu Lyssa, und gähnt herausfordernd.
Ich grinse. „Oh ja! Das kann ich jetzt auch.“
„Nur weil du es kannst, heißt das nicht, dass du es nutzen musst“, grollt Sylas.
Ich sehe wieder auf die Tasten. Ach, die Invasion der Winterdämonen! Ich habe die zweite und womöglich größte Welle aller Zeiten miterlebt. Drei Monate lang kämpften wir mit aller Kreativität, die wir hatten. Was für ein Glück, dass ich mich hier erst kurz vorher angemeldet hatte. So durfte ich statt stundenlangem Schreiben stundenlang einspeichern. Ohne die Invasion hätte ich aber auch sicherlich nicht die Lust gehabt, das alles hier hochzuladen.
Abgesehen von der Invasion habe ich auch den großen Umzug eines kompletten Kontinents erleben dürfen. Unser geliebtes Origin ist nun nichts mehr als eine Insel im riesigen, neuen Belletristica. Ein weites, noch ungezähmtes Land, in dem es noch immer Bugs gibt. Doch die Feen und Devs arbeiten fieberhaft an deren Bekämpfung. Ich bin wirklich glücklich, die große Überfahrt miterlebt zu haben – blöde Sirenenangriffe am Ende hin oder her! Zu solchen Gelegenheiten zeigt sich, was für eine wunderbare Community sich hier zusammengefunden hat. Die Belletristicans überstehen jeden Sturm, ob Winterdämon, DNSirene oder Stress zwischen den einzelnen Menschen.
„Was macht der da?“ Xenon ist herbeigehoppelt. Der Otter trägt – wie alle öffentlichen Pseudonyme – inzwischen ein grünes Halsband, damit man ihn mir zuordnen kann. Unsere kleine Gemeinschaft hier ist rasant gewachsen.
„Er sülzt“, antwortet Sylas.
„Er produziert, das zählt“, sagt Lyssa.
„Ein Bericht, weil er schon ein Jahr auf Belle ist“, erklärt Mobu dem Otter.
„Ein volles Jahr? Oh! Happy Bellesday, Marv.“ Xenon wuselt weiter. Ein zarter Geruch nach Fisch weht ihm hinterher.
„Es fühlt sich weniger an“, sage ich und sehe auf. „Irgendwie sehe ich mich immer noch als Neuling, verglichen mit einem Felix oder Shari. Sogar verglichen mit meinem Bro Luan – das Loki weiß einfach so viel mehr über Belletristica. Ich laufe ja nur herum und verteile überall Brotchips.“
„In sämtlichen Chats“, murrt Xenon, noch nicht ganz außer Hörweite. „Ich habe ständig Krümel im Fell.“
„Das ist eine weitere Besonderheit von Belle“, sage ich. „Der Chat! Ich bin höchst introvertiert, das wirkt sich sogar auf Chats im Internet aus, trotzdem habe ich sicherlich 90% meiner Bellelebenszeit bisher im Chat verbracht. Der hat seine ganz eigene Magie, auch jetzt noch, wo sich vieles auf die Gruppen und PNs verteilt hat. Viele sehen mich als reinen Chatwolf an, glaube ich. Dabei entspricht das eigentlich überhaupt nicht meinem Charakter. Ich bin ein stiller Schreiberling. Ich könnte ohne Probleme fünf Jahre lang ohne Chat und mit nur wenigen Kommentaren überleben … hehe, so sah mein Alltag auf Fanfiktion.de jedenfalls oft aus. Belletristica ist besser. Ich habe sogar begonnen, meine Werke auf FF.de zu löschen.“
„Was?“ Lyssa flammt purpurn auf vor Entsetzen.
„Ich hatte 55 Werke dort – nun sind es 35. Viele der gelöschten Sachen waren alt, und vor allem war mein Profil dort viel zu unübersichtlich. Diese Sachen kommen alle auf die Pseudonyme bei Belle, wo ich endlich meinem Sortierungszwang nachgehen kann. Vielleicht lösche ich sogar noch mehr, sodass bei Fanfiktion nur noch Herzblutwerke sind. Wobei … ja, ist ja gut Lyssa. In jedem Werk steckt Herzblut. Bitte atme.“
Langsam färbt sich meine Kreativität wieder blau.
„Ich denke, was ich im Endeffekt sagen will, ist folgendes“, murmele ich und tippe wieder, weil das Klackern einer Tastatur Lyssas Lieblingsgeräusch ist. „Belletristica ist mehr als nur eine Internetseite. Es ist ein Ort mit vielen lieben Menschen. Hier habe ich gelernt, mehr als nur eine Grenze zu überwinden, ich habe neue Aspekte meiner Selbst entdeckt. Und vor allem habe eine Gemeinschaft gefunden, die meiner Leidenschaft ebenso verrückt und chaotisch folgt wie ich. Eine Seite mit wunderschönen Geschichten, einen Raum, wo mein Wahnsinn tatsächlich mal vorzeigbar ist … es ist wie ein Märchen.“
„Ich mag keine Märchen“, murrt Lyssa.
„Seitdem wir hier sind, hast du aber schon ein paar geschrieben“, sage ich.
„Das war, weil es noch eine Herausforderung war. Ich mag keine Geschichten ohne Toten“, jammert meine Fantasie.
Ich schüttele grinsend den Kopf. „Auf viele neue Herausforderungen in diesem Land der Kreativität!“
„Was hast du eigentlich geschrieben?“ Neugierig fliegt Lyssa herbei.
„Ach, nicht so wichtig“, sage ich und lösche alles wieder – ich habe einfach blind in die Tasten gehämmert, um Lyssa ruhig zu halten, während ich rede. Jetzt fange ich neu an:
Es war einmal ein Grauwolf, der kam in die Taverne bei Belletristica. Innerhalb der nächsten halben Stunde würde er fast einen Vampir fressen, fast von einem Sofa mit Tentakeln gefressen werden und bei einem Bad mit einem Bro fürs Leben eine Heimat fürs Leben finden.
Aber das wusste der Grauwolf noch nicht …
Danke, Belletristica. :3