Spoilerpotential für: "Niemandsmond - Halbmond" (NICHT für "Vollmond" oder "Neumond".)
Vorsichtig öffnet Mobu Cajatoshija die knarzende Tür zur Bar der Herberge. Ein düsterer Raum liegt dahinter. Auf der rechten Seite stehen Holzbänke und dunkle Stühle, die Bilder an den Wänden sind in den Schatten kaum zu erkennen (zeigen aber verschiedene Todesszenen aus Marvs Geschichten). Unter den Deckenlampen im UFO-Stil sitzt ein Wolf auf den Hockern an der Bar, in einer gelblichen Lichtinsel vor dem dunklen Holz des Tresens. Der Barkeeper ist ein gesichtsloser Mann in Hemd und Schürze. Ab und zu flackert er golden, was verrät, dass er eigentlich nur die Illusion eines Krea-Ichs ist.
Er stellt dem Wolf ein kleines, mit einer klaren Flüssigkeit gefülltes Shotglas zwischen die Pfoten. Der Wolf packt es vorsichtig und kippt den Kopf nach hinten. Dann spuckt er das Glas aus. "Noch einen."
"Die anderen meinten, dass du schon eine ganze Weile hier sitzt ..." Behutsam tritt Mobu an die Bar, um sich zu setzen.
Der Wolf starrt ihn aus grünen Augen an. "Och nee. Nicht noch einer."
"Noch ein was?" Mobu schluckt über den plötzlichen Zorn im Blick des Grauwolfs. Sonst ist Marv immer deutlich freundlicher zu ihm.
"Noch ein Weiser-Stereotyp. Mit M am Anfang. Ich halte das nicht mehr aus!"
"Weiser-Stereotyp?"
"Jaaah, diese Figurenklasse halt. Marke 'Weiser Mentor'. Entspricht dem Klischee von Gandalf oder Dumbledore. Alt, steckt randvoll mit Wissen, teilt nur einen kleinen Teil davon ..." Trübsinnig legt der Wolf den Kopf zwischen die Vorderpfoten auf die Bar.
"Und in die Gruppe gehöre ich?"
"Ich weiß, ich weiß ... ihr seid alle Individuen und so. Jede Figur ist einmalig! Ihr habt ja auch alle eure Eigenheiten. Aber egal ob Allyster oder Kento oder van Helsing oder die Lady - eure Funktion ist halt immer die gleiche. Gleiches Feeling, verstehst du?"
"Ich denke, schon", murrt Mobu wenig begeistert. Sein Mitgefühl für Marv schwindet angesichts dieser harten Worte. Der alte Elb ist zwar geduldig, aber er besitzt auch einen gewissen Stolz. "Wieso erzählst du mir nicht, was passiert ist, dass du uns auf einmal so hasst."
"Es ist Merkantos Schuld!", grollt der Wolf finster.
"Was hat er denn getan?"
In diesem Moment bringt Sylas allerdings den nächsten Shot. Marvin fasst das Glas mit den Zähnen und legt den Kopf in den Nacken. Die Flüssigkeit läuft in sein Maul und er schluckt umständlich, ehe er das Glas über die Schulter des Sylas-Barmanns auf den Boden spuckt, sich einmal schüttelt und dann rülpst.
Dann wendet er sich mit trübem Blick dem dunkelhäutigen Feuerelb neben sich zu, der unwohl die Roben um sich schlingt und nicht sicher ist, ob er noch eine Antwort erhalten wird.
"Also, das war so ... Niemandsmond kennste, aye? Dieses Riesending, High-Fantasy? Hat sogar die Reise durch Phantasma worttechnisch abgehängt, und das is' schon ein Wunder ..."
Marv saß entspannt in einem der vielen Schreibzimmer der grauen Burg und tippte auf der Schreibmaschine herum. Er hatte ein paar freie Tage, die Lyssa natürlich sofort mit einem Sonderprojekt vollgestopft hatte. Zusätzlich zum gewöhnlichen Schreibplan machte er sich jetzt auch über die Kurzgeschichten zu Niemandsmond her. In jeweils sieben Kapiteln wurde der Werdegang einer der Hauptcharaktere ausgeführt. Manchmal Episoden aus deren Kindheit, manchmal Ausschnitte, verteilt über ihr Leben. Bei dieser Arbeit kamen immer wieder neue Details ans Licht. Verstorbene Familienangehörige, gebrochene Versprechen - kurzum: herrliches Drama als Hintergrund für das riesige Epos.
Gerade war er bei Mandragoras, der Geschichte über den Magier Merkanto, als besagter in dunkelblauen und purpurnen Roben hereinspaziert kam.
"Marv? Ich, ähh ... müsste mal mit dir reden."
Klackerdiklack. "Schieß los." Klacktipper.
"Es, ähh ... wäre was Ernsteres ..."
Der Wolf nahm die Pfoten von der Tastatur und sah auf. "Ich schreibe gerade an deiner Kurzgeschichte. Ich glaube, ich baue was Kompliziertes ein. Du wurdest ja von deinen Feinden gefangen genommen. Jetzt erzählst du jedes Mal eine alte Geschichte vom Krieg, so ein bisschen wie ein Gleichnis, und am Ende helfen alle Puzzlestücke zusammen dir zur Flucht und es wird klar, dass die Gefangennahme von Anfang an eine Falle war. Was sagst du dazu?"
"Ich bin schwul."
"Was?"
Merkanto stand nervös im Raum, spielte mit den Ärmeln seiner Roben und sah zu Boden. Seine kurzen, nach hinten gekämmten Haare waren nicht lang genug, um die Angst auf seinem Gesicht zu verbergen. "Ich glaube, ich bin schwul. Das heißt, ich mag Männer und ..."
"Ja, ja, schon klar. Meine Frage war: WAS?!" Der Wolf sprang auf. "Du kannst nicht schwul sein! Das habe ich dir nicht erlaubt!"
"Das ist ja auch keine Wahl, sondern ..."
"Ich bringe dich um!"
Merkanto erstarrte. Seine Augen schimmerten verräterisch. "Wie ...?"
"Du kannst doch nicht nach verdammten 200k Wörtern um die Ecke kommen mit "Ach, übrigens, ich war die ganze Zeit schwul!" Weißt du, was für eine verdammte Arbeit das ist? Dafür kriegst du die grausigste Todesszene, die sich Lyssa und Sylas ausdenken können!"
Rückwärts trat Merkanto die Flucht an, während Marv weiter tobte.
"Was sage ich denn den Lesern? 'Lest die ganze Geschichte nochmal, weil da könnten zwei, drei Nebensätze sein, die ich für Merkantos Sexualität einfügen musste'? Was soll das überhaupt? Du bist meine Figur, kapiert? Und solange du deine Füße in meine Storyline setzt, tust du, was ich dir sage!"
Merkanto war bereits den Gang entlang gerannt und außer Hörweite. Knurrend funkelte der Wolf die Schreibmaschine an.
"Ich bringe ihn um. Mit wem sollte ich den überhaupt verkuppeln? Ich werde ... seinen Geliebten umbringen ..."
Lyssa über der Schreibmaschine glühte etwas heller auf. "Sag mal, Marv ... Merkanto kam ja auch am Ende von Iljans Geschichte vor und da hatten wir diesen Logikfehler: Er war auf Iljans Seite und hatte seinen Plan, zu fliehen, erraten, aber im eigentlichen Buch stieß er ohne jedes Wissen von Iljans Plan auf ihn."
"Ja, ich erinnere mich", murrte der Wolf. "Sperriger Charakter. Macht, was er will. Aber das hatten wir doch gelöst?"
"Er trinkt einen Amnesietrank, der ihn alles vergessen lässt, woran er direkt nach der Einnahme denkt."
Der Wolf nickte. Er erinnerte sich. Lyssa hatte sich da etwas ausgetobt und die Tränke gut in der Welt verankert. Sie waren nun eigentlich ein Foltermittel. Zum Beispiel wurde der Trank Feinden eingeflößt und dann sprach man mit ihnen über ihre Liebsten und sah der Verzweiflung zu, als ihnen klar wurde, dass sie diese vergessen würden.
"Kennst du diesen Moment", sagte der Wolf langsam, "wo du dich in einer Geschichte nur noch verrannt hast und an allen Ecken und Enden notdürftig Klebeband über den ganzen Logiklücken klebt, damit das Schiff hoffentlich nicht sinkt, und dann eine weitere Katastrophe hereinrollt, die sich urplötzlich als Pech herausstellt, mit dem mal all diese Lücken stopfen kann? Sodass es aussieht, als hättest du von Anfang an diesen einen Plottwist vorbereitet, und wie sollte es auch nicht so sein, denn alles andere wäre verrückt und unprofessionell gewesen; und keiner der Leser würde je erkennen oder gar glauben, dass es eigentlich alles Zufall und Glück war?"
"Nein", sagte Lyssa. "Ich mache ja keine Fehler."
Mobu klopft dem Wolf vorsichtig auf den Rücken, wobei er versucht, das Fell zwischen den verhärteten, roten Narben zu erwischen. "Aber das klingt doch, als hättet ihr alles ganz gut hinbekommen und Merkanto hätte seine", der Feuerelb schluckt leicht, "gerechte Strafe erhalten."
"Ja, aber er erinnert sich halt nicht, was er verloren hat", murrt Marv, dann sieht er auf. "Das alleine hätte ich ja noch irgendwie verkraftet. Aber ... um mal ein Meme draus zu machen: Hätte ich einen Dollar für jedes Mal, dass sich eine Figur mit M als Anfangsbuchstaben aus dem Weiser-Mentor-Stereotyp unerwartet als schwul geäußert hätte ... dann hätte ich zwei Dollar. Was nicht viel ist, aber es ist schon verrückt, dass das zweimal passiert ist ..."
M. [Name von der Spoilerbehörde zensiert] trat langsam in Marvs große Speisehalle. Er sah sich wachsam um, ob auch ja niemand sonst da war, und kam dann langsam zum Wolf vor, der seitlich an der großen, leeren Tafel saß und Brotchips knabberte.
"He, M.! Na, was macht das Weltenretten?"
"Läuft gut. Hör mal, Marv, ich möchte mit dir reden. Über ... über diese Kämpferin."
"Ja?"
"Ich weiß, du möchtest mich mit ihr zusammenbringen ..."
"Das wäre die perfekte Entwicklung für euch beide!", unterbrach der Wolf ihn begeistert. "Du hast diese Schuld ihr gegenüber und sie braucht wieder jemanden, auf den sie sich verlassen kann. Ihr habt viel zu besprechen und dann ..."
"Ich mag sie aber gar nicht so. Als Freundin vielleicht, aber nicht ..."
"Dabei geht's doch nicht ums Mögen!", widersprach der Wolf verwundert. "Ich bin Aromantiker, ich kann das eh nicht beschreiben. Es geht nur um den Plot."
"Aber wenn es nun nicht passt ... könnte man da vielleicht ...?"
"Es gibt noch diese andere Kriegerin, aber die hat zu wenig Charakter ... Und du kannst auch nicht allein bleiben, denn du sollst dich ja von deiner Vergangenheit lösen müssen und ein eigenständiger Mann werden. Hm, die anderen sind eigentlich alle vergeben ..."
"Da wäre noch mein bester Freund", warf M. leise ein.
Marv spuckte Brotchips quer über den Tisch. "Was?!"
"Wir haben so viel gemeinsam und wir würden eh schon füreinander sterben, das ... das hat doch Potential ..."
"Das ist genau das Gegenteil von dem, was du tun sollst! Du sollst eigenständiger werden und endlich herausfinden, was du tun willst. Und deshalb machst du, was ich dir sage, ob du es willst oder nicht."
"Aber ... Sag mal, du hast schon mitbekommen, wie ironisch diese Aussage war, oder?"
Marv sprang auf den Tisch. "RAUS HIER!"
Verdattert betrachtet Mobu den weinenden Wolf.
"Und diese Kriegerin war natürlich schon längst in ihn verliebt, also hatte ich plötzlich ein verdammtes Love Triangel in meiner Geschichte!", wimmert Marv. "Ich! Wie soll man denn damit zurechtkommen? Jetzt hatte ich drei Handlungsstränge angeplant, die alle plötzlich verknotet waren."
"Und da kann man nicht ..." Mobu sieht hilfesuchend zum Kellner und winkt ihm. "Ich nähme einmal das gleiche wie Marv."
"Das Schlimmste ist, ich kann nicht einfach jemanden töten, um das Ganze zu lösen", schluchzt der Grauwolf weiter. "Ich brauche die noch! Die haben sich alle zu einem festen Kern verschmolzen, ich kann da niemanden mehr rausnehmen ... Dass ich mal niemanden töten will ..."
"Aber Lyssa wird doch sicherlich ..."
"Ich habe jetzt eine Lösung. Dank Loki", wimmert der Wolf. "Aber seit diesen Vorfällen habe ich echt Angst. Wann beschließt denn der nächste Charakter, dass er oder sie ... oder sier ... sich irgendwie selbstständig entwickeln will? Wo soll das hinführen? Kommen jetzt Furries und Transgender und Fußfetischisten in meine Fantasy-Welten? Wieso können die nicht alle normal bleiben? Ah, danke."
Das letzte richtet sich an Sylas, der zwei Shots vor ihnen abgestellt ist. Marv umfasst den ersten, Mobu ergreift den zweiten. Er braucht jetzt wirklich etwas Hartes, wenn er den jammernden Wolf länger ertragen soll.
Sie kippen gleichzeitig. Marv spuckt das Glas aus und schüttelt sich. Mobu stellt sein Gläschen wieder ab.
"Marv?"
"Wenn du jetzt auch schwul sein willst, verbrenne ich das Hyphurion."
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass du es unverbrennbar gemacht hast."
"Ich finde einen Weg", knurrt der Wolf mit tiefer Stimme.
"Aber nein, momentan habe ich kein Bedürfnis nach einer Sexualität. Ich wollte nur wissen ... Ist das Wasser in den Shotgläsern? Ich dachte, das wäre Alkohol!"
"Ach so, nein. Den vertrage ich nicht so gut." Marv atmet durch und lehnt sich trotzdem wie trunken an Mobu. Er lallt ein bisschen. "Ich bin froh, das ... dasssss ... dass du mich nicht im Sss...tich lässt."
Mobu tätschelt den Wolf kopfschüttelnd. "Vielleicht liegt es an Dumbledore. Wenn du ihn als Vorlage für all diese Charaktere hast, meine ich."
"Gandalf isss aber nich ..."
"Ja. Aber Dumbledore schon."
"Wiiee...leischt has du rescht ..."