~ Die Geschichte von Marv und Marvin ~
Eine Erzählung vom Grauen Berg
"Also, noch mal von vorne", sagt Sepia und sieht zwischen mir und Marvin hin und her. "Ihr seid die gleiche Person?"
"Nein, eben nicht", antworte ich. "Er ist Marvin Grauwolf und ich bin Marvin der Graue."
"Dann ... Zwillinge?"
"Nein, wir entstammen der gleichen Wurzel, wir sind nur ... Parallelweltmarvs!"
"Wie du und Nivram?"
"Jaaa ... nein."
Sepia legt die Ohren an. "Ich kapier's nicht."
"Ich denke, ich muss dazu etwas weiter ausholen", sage ich und beginne sogleich, bevor Sepia protestieren kann. "Alles begann viel später an jenem Tag, da ich Belletristica entdeckte."
"Ich bin jetzt schon verwirrt", meldet die Stute.
"Bis dahin war Marvin Grauwolf, die Figur, auch immer der Erzähler und Autor", erkläre ich. "Du weißt ja zum Glück vom E.G.E.L., dem großen Universum, zu dem ich mehrere Bücher veröffentlichen will. Marvin Grauwolf ist eine Figur in einem dieser Bücher, obwohl sich seine Pfotenabdrücke auch noch in zwei anderen Werken finden. In seinem Buch ist er der Ich-Erzähler, allerdings nicht direkt der Protagonist, weil alle wichtigen Dinge von anderen Figuren erledigt werden - er ist meistens nur ein Beobachter. Ein Zeitzeuge!"
"Verwirrend."
"Alternative Erzählweisen", widerspreche ich. "Jedenfalls hat Marv seinen Charakter und seine Entwicklung, die aus der Geschichte hervorgehen. Zum Beispiel hasst er Menschen, und das nicht ohne Grund. Er geht ihnen aus dem Weg, wann immer er kann."
"Das ist jetzt ... nicht unbedingt unklug", überlegt Sepia.
Marvin erwacht aus seiner Starre und sieht sich nervös um. "Menschen? Sind hier Menschen?"
"Im späteren Verlauf macht ihn die Handlung zum Erzähler aller anderen Geschichten, was erklärt, wieso er auch als Autor auf allen Büchern steht", fahre ich fort. "Also ist er mein Autorenpseudonym."
"Und dann kam Belle?"
"Und dann kam Belle. Verständlicherweise war ein menschenphobischer Grauwolf keine geeignete Ergänzung zur Taverne. Du musst wissen, ich war vorher nur äußerst selten auf Chats unterwegs, und in keinem konnte ich meinen Marv-Charakter ausspielen. Also war das für mich eine völlig neue Erfahrung."
"Das klingt jetzt weniger positiv."
"Ganz im Gegenteil. Es war wunderbar! Ich hatte endlich einen Ort gefunden, wo die Chaoten ebenso verrückt sind wie ich. Und ich hoffe, dass Belle sich diesen liebenswerten Wahnsinn noch weit in die Zukunft hinein bewahren wird. Ich war letztens schockiert davon, wie kurz ich bereits hier bin - es fühlt sich schon lange an, wie ein halbes Leben, als würde es nie wieder eine Zeit ohne Belle geben, als würde dieser Ort meinen Charakter schon seit Anbeginn beeinflussen. Dass es eine Zeit davor gab, habe ich schon fast vergessen. Und ich hoffe, dass sich das niemals ändern wird."
"Poetisch", wirft der Knochenknurpsler spöttisch ein.
Ich ignoriere ihn. "Ich fand mich schnell ein. Doch schnell fand sich ein Konflikt zu Marvin, dem Grauwolf. Er hat sehr viele Charaktereigenschaften, die nicht mehr zu seinem Auftritt im Chat passen. Brotchips? Oh, nein, die mag er gar nicht. Er ist ein Wolf. Also, so ein richtiger. Menschen vertrauen? Dazu wäre er niemals bereit. Er ist ein Krieger. Ein Beschützer. Aber er würde nicht herumalbern."
"Das ist in der Taverne ein Problem, was?"
"Wie soll man dem Chaos dort widerstehen?" Ich grinse. "Ich wurde sehr schnell ein Bewohner von Belle. Ich hab hier einen Ort zum Wohnen gefunden, eine Familie und ein neues Rudel. Aber nichts davon passt in Marvins Geschichte. Also musste ich uns beide trennen."
"In Belle-Marv und ... Marvin?"
"Es gibt mich: Den Belle-Marv. Brotchipsstaubsauger, Bro und Badewunder! Aber es gibt eben auch Marvin, einen Grauwolf, der Belletristica niemals kannte. Er ist eine Figur und der Erzähler des E.G.E.L.s, ich bin der Autor. Wir entstammen der gleichen Geschichte und tragen den gleichen Pelz."
"Aber eure Lebenswege trennten sich an dem Portal nach Belle."
"Belletristica hat diese wunderbare Lore, die ich niemals als Teil des E.G.E.L.s einbauen könnte. Noch sollte Marvins Geschichte den Zauber von Belle überschatten. Ich denke ... in meinem Kopf ist kein Platz für beides."
"Und wie unterscheidet ihr euch? Ihr seid beide Profile auf Belle."
"Nun, für den Anfang: Marvin ist Marvin Grauwolf. Ich bin Marvin D. Graue. Marvin hat gelbe Wolfsaugen, meine sind grün. Wir beide haben die Narben auf dem Rücken, aber bei ihm entstammen sie einem Drachenangriff, und bei mir ..." Ich zögere.
"Ja?", sagt Sepia.
"Weißt du, Wölfe mit Flügeln waren ein Konzept, das mich schon immer fasziniert hat. Nur hatte ich in keiner Geschichte Platz dafür. Also ... sind dies die Narben der Schwingen, die ich verlor."
"Wie hast du sie verloren? Warum warst du ein geflügelter Wolf?"
"Meine Geschichte ist ein Rätsel zwischen den Pfaden der Welten. Ich wurde mit Flügeln geboren, aber ich verlor sie schon als junger Welpe. An ihrer Stelle fand ich Lys."
"Lyssa. Ist sie auch ein Unterschied zwischen euch?"
Ich nicke. "Marvin Grauwolf besitzt kein KreaIch. Er ist ein ganz normaler Wolf. Ich dagegen habe Lyssa gefunden, oder vielleicht hat sie mich gerufen, und wir sind untrennbar miteinander verbunden. Ihre Macht ersetzt meine Schwingen, mit den Flügeln der Kreativität."
"Jetzt wird's kitschig", wirft der Knochenknurpsler ein.
Ich drehe mich um. "Was machst du eigentlich hier? Ich hab für dieses Kapitel nur Marvin und Sepia eingeladen!"
"Fantasie ist Chaos", erklärt Xenon otterachselzuckend.
"Du bist der Letzte, den das überraschen sollte", merkt Sylas an. "Immerhin hast du dir diesen Wahnsinn mit Marv und Marvin ausgedacht!"
"Das war Lyssa!", widerspreche ich schnell.
"Ach, jetzt bin ich schuld, wie?", fragt mein ZwielIch zornig.
"Jedenfalls kennt ihr jetzt die Wahrheit", erkläre ich dem versammelten Haufen. "Es ist hochoffiziell: Marvin ist ich, ich bin Marvin. Und doch sind wir völlig unterschiedliche Charaktere. Wir sind einander so ähnlich, wie der Anwalt-Marv aus der Parallelwelt uns gleicht."
"Apropos, wie geht es dem Typen?", fragt Xenon. "Können wir den mal wieder besuchen?"
"Nein!", knurrt Nivram. "Keine weiteren Multiversenreisen!"
"MCU", murmele ich nachdenklich. "Das Marv Chaotic Universe ..."
Lyssa flackert heller. Sie rattert bereits leise für neue Ideen.
Tja. Auf ein 'Nein' kann niemand von uns hören.