"Du, Wooolf?"
Ich sehe von den Papieren auf, die ich studiert habe. So sehr ich die Organisation all meiner Projekte liebe, die ich mal wieder betrieben habe, dieser unschuldig-beiläufige Tonfall von Xenon lässt bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen. Ich sehe den kleinen Otter an, der auf dem Teppich vor meinem 'Thron' sitzt und mich vermutlich schon eine Weile beim Sortieren beobachtet.
"Was gibt es denn?"
"Ich habe das so was gefunden ..." Xenon hüpft von einer Pfote auf die andere. "Das musst du dir ansehen!"
"Hat das ..." ... nicht Zeit? Aber nein, natürlich hat das keine Zeit. Es ist Xenon. Wenn ich nicht sofort mitkomme, wird er sich garantiert in irgendeine Gefahr begeben. "Gut, ich komme sofort. Gib' mir fünf Minuten. Loki müsste gleich hier sein."
"Die Kapuze? Was will die denn hier?", fragt Xenon irritiert.
"Luan", ich betone den Namen streng, denn ich hasse es, wenn Xenon ihn nur 'Kapuze' nennt, "hat heute Geburtstag und wir wollten ein bisschen feiern."
"Oooohh", macht Xenon. "Gibt es Kuchen?"
"Brotchipskuchen. Ist aber noch nicht fertig."
"Wie langweilig!" Xenon hüpft aufgeregt. "Kommt die Kapuze dann mit zur Hö... zum Geheimnis?"
Ich starre den Otter an. "Du hast eine Höhle gefunden?"
"Nein ...?" Xenon versucht, möglichst unschuldig auszusehen. Was bedeutet, dass die Antwort ein klares Ja ist.
"Was für eine Höhle?", frage ich verwirrt. Da denkt man, man kennt seinen Berg - und dann tauchen Höhlen auf!
"Also, kommt er mit?" Xenon hüpft um mich herum.
"Vermutlich", murmele ich abgelenkt. Meine Ohren zucken. Noch bevor ich das Klirren eines Portpotions höre, meldet sich die brolepathische Verbindung. Ich springe auf und werfe meinen Bro um, kaum, dass sich das Loki im Thronsaal materialisiert hat.
"Brooo! Alles, alles Gute zum Geburtstag!"
Der Assassine geht unter dem Ansturm einer Flauschkugel zu Boden. Lachend krault er mich, bevor er versucht, wieder auf die Füße zu kommen.
"Kapuze!"
"Xenon!" Mein Bro knuddelt den Otter durch. "Marv, du hast mir gar nicht gesagt, dass Xenon kommt."
"Das war ja auch nicht ..."
"Kommt du, Kapuze?" Xenon hüpft zur Tür. "Ich hab' eine tolle Überraschung nur für dich!"
"Oh, wirklich?" Luan folgt dem Otter.
Oh nein, oh nein, oh nein ... jetzt will Xenon meinen armen Bro an seinem Geburtstag in irgendeine olle Höhle schleppen, und verkauft das auch noch als Geschenk? Ich renne hinter den beiden her. "Xenon! Xenon, warte ..."
Der Otter überhört mich.
Wir eilen durch die Burg. Ich versuche verzweifelt, Xenon von Luan zu trennen, um mit dem Otter zu schimpfen. Xenon ahnt meine Absicht und plappert unablässig auf Luan ein. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, und ich glaube, Xenon achtet auch nicht darauf, was genau er sagt. Luan lächelt stoisch über den Unsinn, der auf ihn einsprudelt.
Viel zu schnell verlassen wir die Burg und begeben uns auf das offene Feld des Bergplateaus. Ein wenig Schnee treibt in der Luft, während auf den wenigen Erdflecken bereits Gras und Blumen sprießen. Die Luft ist zwar kühl, aber nicht eisig, und die Sonne scheint. Richtiges Aprilwetter eben.
"Beeilt euch!", kräht Xenon und rennt noch schneller.
"Das ist echt nett von dem Kleinen", meint Luan zu mir.
Ich bringe es nicht übers Herz. "Ja. Ja, ist es. Er bemüht sich wirklich." Hoffe ich. Was mache ich denn nur, wenn das jetzt einfach nur ein Fuchsbau oder so ist, den Xenon als 'Höhle' verkauft?!
Mein Bro beschleunigt seine Schritte etwas. Ich lege die Ohren nervös an, dann folge ich ihm und Xenon.
Zielstrebig bringt uns der Otter zum Rand des Plateaus, und zwar dort, wo unser Pavillon steht. Xenon umkreist das Holzgestell und rennt bis dicht an die Klippe.
"Xenon!", quieke ich. Ich weiß, wie steil es da runtergeht!
"Wir müssen da runter", erklärt Xenon.
Ich robbe vorsichtig näher an den Rand und riskiere einen Blick in die Tiefe. Bei allen Sternen und der verdammten Finsternis, ist das tief! Meine Muskeln erzittern in meinem eigenen, persönlichen Erdbeben. An dem aufwallenden Schwindel vorbei sehe ich eine grasüberwucherte Plattform weiter unten am Berg. Dann schließe ich die Augen und bleibe liegen.
"Hmm, ohne Seil wird das nichts", beurteilt mein Bro. Ich blinzele vorsichtig. Luan steht neben mir und hat sich leicht runtergebeugt, um nach unten zu spähen. "Wenn da ein Heuhaufen läge ..."
"Oh, die Idee ist gut!", ruft Xenon. "Ich muss Mac sagen, dass er uns etwas Heu bringen soll!"
"Was?", rufe ich spitz. "Nein, kein Heu! Bro, ich möchte nicht, dass ..."
"Aber momentan müssen wir anders da runter", sagt Luan. Mit einer fließenden Bewegung hebt er den Otter hoch, stellt sich dicht neben mich und wirft einen Portpotion.
"Brööö!", jaule ich, als ich teleportiert werde.
Dann landen meine Pfoten in hohem, saftigem Gras.
Ich sehe mich um. Vor mir befindet sich eine weitere Klippe. Zu beiden Seiten wachsen Blumen auf einer flachen Bergwiese.
"Wooow!", höre ich meinen Bro.
Ich drehe mich um. "Huch!"
Wir sind auf der Plattform, und hinter uns öffnet sich tatsächlich das Tor einer großen Höhle. Ich atme etwas einmal erleichtert auf - das ist eine ganz ansehnliche Höhle, also keine Enttäuschung für Loki.
Dann blinzele ich. Das ist eine wirklich großartige Höhle!
Sie ist annähernd kreisrund, oder jedenfalls hat sie ein tolles Kuppeldach, das sich hinter dem Eingang aufbläht. Groß genug, dass ein zweistöckiges Haus hineinpassen würde. In der Öffnung und vereinzelt im Inneren ragen große Tropfsteine wie Zähne nach unten, und grünes Algenzeug rankt sich überall in die Tiefe oder wuchert über Gestein. Wie eine Art Bordüre umringen menschenhohe, unregelmäßige Felsvorsprünge den gesamten Ring, wo das Kuppeldach auf den überwiegend flachen Höhlenboden trifft. Es sieht ein bisschen aus wie eine erhöhte Straße, die einmal rund um die Höhle führt, allerdings müsste man darauf ziemlich viel klettern.
Ein Wasserfall rauscht von der Höhlendecke in einen klaren, runden Teich auf der linken Seite der Höhlenmitte, während sich rechts ein kleiner Wald aus Tropfsteinen und Felsnadeln erhebt. Leuchtende Pilze und Flechten bedecken die Decke, Blumen und Gras wachsen auf dem Boden, durchbrochen von Stellen nackten Steins.
"Wie hübsch!", sagt Bro und ist flugs auf dem erhöhten Rundweg. Grinsend läuft er dort entlang, springt dann an eine Liane, schwingt zwischen Tropfsteinen hindurch, ohne sie zu berühren, hüpft über eine Felsformation und macht einen Kopfsprung ins Wasser.
"Bro!", quieke ich. "Man springt doch nicht einfach in unbekannte Gewässer!"
Luan taucht aus dem See auf und paddelt Wasser. "Komm doch rein, Bro, hier ist es wirklich ... IEEEK!"
Mein Fell sträubt sich, als Luan mit einem Sprung sozusagen aus dem Wasser in die Höhe und erst dann ans Land jagt. Panisch klopft es seine Robe ab.
Ich eile zu ihm.
"Da war irgendwas an meinem Fuß!", stammelt Luan mit weit aufgerissenen Augen.
Ich gehe in Kampfposition. "Schlangen? Krokodile?"
Luan wagt sich an meiner Seite weiter vor. Gemeinsam spähen wir ins Wasser. Ein blassrosa Etwas jagt durch die Wellen des Teichs.
"Awww!", macht Luan verzückt.
"Häh?" Ich sehe auf. "Das war ein gruseliges Gollum-Vieh!"
"Das ist ein Axolotl!", quiekt mein Bro. "Guck mal, da sind noch mehr."
Ich sehe ins Wasser. Mehrere glubschäugige, nackte Echsenviecher mit komischen Fortsätzen gucken zurück. Mich schüttelt es.
"Oh, die sind ja ganz zutraulich!" Vorsichtig hebt Loki eines der Tierchen aus dem Wasser und hält es vor meine Schnauze.
Ich blinzele den Axolotl an. Der Axolotl blinzelt zurück. Ich bin mir sehr sicher, dass dieses Glitzern in den Augen dies Tiers Mordlust bedeutet!
Luan entlässt den Axolotl wieder in den Teich. "Das ist echt hübsch hier, Bro! Unglaublich, dass wir die Höhle all die Jahre nicht bemerkt haben."
Ich spähe in die Tiefe des Sees. Da scheint sich irgendwo ein Loch zu befinden, das in eine tiiiefe, tiefe Höhle führt. Ein wassergefülltes Loch unter uns. Gruselig.
"Ja, und dann noch ein paar Seile da hinten hin", sagt Xenon.
Ich schrecke zusammen. Offenbar habe ich einen Teil des Gesprächs nicht mitbekommen. Was haben denn Luan und der Otter mit den Plänen vor?
"Und dann einen Balken zum Balancieren", sagt Luan. "Ja, das klingt perfekt." Mein Bro strahlt von einem Ohr zum anderen. "Eine richtige Parkour-Höhle!"
Das ist ja wohl ... gar keine so schlechte Idee, wenn ich es mir recht überlege. Ich klebe mich schweigend an Luans Bein. Die Höhle hier ist für einen Assassinen ein reiner Abenteuerspielplatz, das stimmt schon.
"Oben wartet übrigens noch der Kuchen", erwähne ich.
"Oh, ja, ich hätte echt Hunger." Luan greift an den Portpotiongürtel. Dann erstarrt er. "Ähh ..."
"Bro?"
"I-ich habe vielleicht ... eventuell ... meine Portpotions alle aufgebraucht." Luan versucht, möglichst unschuldig dreinzublicken.
"Was?!", fiepe ich. Wie sollen wir denn jetzt wieder nach oben kommen?!