Die Häuser auf dem grauen Berg flackern und glitchen noch etwas stärker als sonst. Ich bin gerade damit beschäftigt, die neusten Änderungen auf einem Zettel fein säuberlich festzuhalten, als ich Schritte hinter mir höre.
„Was ist denn hier los?“, fragt ein Junge.
„Kopfschmerzen!“, stöhnt ein Mädchen.
Ich drehe mich überrascht um. „Caspar! Jane!“
Es ist nun wirklich lange her, dass ich mit beiden gesprochen habe. Während Jane ihre Augen mit einer Hand bedeckt, stützt sie mit der anderen Caspar unter dem rechten Arm. Linke Hand und linker Fuß des rothaarigen Jungen sind durch eine Spastik verkrüppelt. Janes Hilfe ist ihm glücklicherweise nicht länger unangenehm, und er sieht auch nicht länger auf das Neandertal-Mädchen hinab, weil ihr die Schulbildung fehlt.
Ich lächele beide fröhlich an. „Schön, euch zu sehen! Was hat euch veranlasst, den Turm zu verlassen?“
Caspar und Jane bewohnen den Papilionis-Turm, einen hohen, beigen Turm mit goldener Spitze, bedeckt mit vielen kleinen, goldenen Schmetterlingen aus Metall, die einen dekorativen Streifen bilden.
Ja, womöglich etwas kitschig, wenn ich so darüber nachdenke.
„Wir sind hier, weil die ganze Welt plötzlich flackert“, beschwert sich Caspar.
„Kooopfschmerzen!“, wiederholt Jane klagend.
„Oh, ja, das … einige … Umzugsschwierigkeiten“, erkläre ich und präsentiere stolz meinen Notizzettel. „Mit dem neuen Update von Belletristica kann man ganz viele Pseudonyme erstellen und seine Geschichten darauf verteilen. Sortiert!“
„Oh weh“, murmelt Caspar und sieht sich um. „Stand unser Turm deshalb heute ganz woanders als gestern?“
„Ja, ich bilde Viertel. Kurzgeschichten kommen ins Otterviertel, lange Epen wie die ‚Papilionis‘ dann natürlich …“
„Macht mir Kopfschmerzen!“, unterbricht mich Jane. „Mach aufhören!“
Ein wenig verdutzt sehe ich sie an. „Ähh … Hör mal, ich bin dein Autor!“
„Kopfschmerzen!“, beharrt Jane und funkelt mich grimmig (und kein bisschen beeindruckt) an.
Ich trete von einer Pfote auf die andere. „Tjaaa … das geht leider erst, wenn die neue Version von Belletristica auch da ist. Bis dahin kann ich nur planen. Hey – habt ihr nicht Lust, in die Open Beta mitzukommen? Ich zeige euch, wie später alles aussehen soll!“
Und flugs erscheint ein leuchtendes Portal mitten in der Luft hinter mir.
„Ähh“, stammelt Caspar und auch Jane zögert. Als Zeitreisende sind sie nicht unbedingt Fans davon, mysteriöse Portale zu durchschreiten. Alles nur wegen dieser Katastrophe in ihrer Geschichte …
„Na, kommt schon! Ich habe mir neun Pseudonyme ausgedacht, natürlich alle mit eigenem Namen und eigener Persönlichkeit!“ Ich platze halb vor Aufregung und hüpfe durch das Portal.
Als ich auf der anderen Seite bin, flackert das Portal und verschwindet.
„Eyy!“, rufe ich. „So soll das aber nicht sein!“
Das Portal antwortet allerdings nicht und bleibt verschwunden.
„Mist!“
Jetzt sitze ich erst einmal in der hypothetischen Zukunft fest. Egal, dann kann ich mich auch umsehen!
In dieser hypothetischen Zukunft ist alles schon brav sortiert und meine Minions – die neun Pseudonyme – patrouillieren stolz ihre jeweiligen Viertel. Ich grüße fröhlich und begutachte die Aufteilung. Eine Geschichte steht noch etwas für sich, weil ich nicht weiß, wo ich sie einteilen soll … hmm … ob ich noch ein Pseudonym erfinden soll? Aber für nur eine Geschichte?
„Huch!“, ruft jemand.
Ich drehe mich um und stehe mir selbst gegenüber. Einen Moment starre ich dem grauen Wolf in die grünen Augen. Dann mache ich vorsichtig einen Schritt zur Seite. Nein. Mein Spiegelbild bewegt sich kein Stück zur Seite. Stattdessen legt der Wolf jetzt die Ohren an und sagt: „Das hatte ich ja ganz vergessen! Hallo Marv von vor drei Wochen.“
„Ich … Hallo Marv in drei Wochen.“ Ich bemühe mich, höflich zu bleiben.
„Du musst dringend hier weg, sonst bringst du alles durcheinander!“, stöhnt der graue Wolf mir gegenüber. Bei den Sternen, was für ein Pingel! Der soll mal nicht seine Ordnung über alles andere –
Ich breche den Gedanken eilig ab. „Darf ich wenigstens kurz gucken, ob hier alles läuft?“
„Nein!“, fährt mich mein dreiwochenzukünftiges Ich an. „Du musst hier weg, bevor -“
In-drei-Wochen-Marv wird abgelenkt, als ein kleiner, grauer Otter vorbeihüpft.
„Xenon! Wo willst du hin?“
„Zu meinem monatlichen Chatauftritt!“, ruft das kleine, graue Wesen vergnügt. Der andere Marv läuft hinter dem jungen Fleckenhalsotter her.
„Warte! Laut Zeitplan hast du noch drei Tage …“
„Bleib mir mit deinem blöden Zeitplan vom Leib!“, ruft Xenon spitzt aus und beschleunigt sein Tempo.
Ich trete eilig von der Straße runter und husche in eine dunkle Gasse, damit mich der andere Marvin nicht so schnell aufspürt. Doch kaum bin ich in die Gasse getreten, umschwirrt mich auch schon etwas helles, blaues und aufgeregtes.
„Lyssa!“
„Warte mal kurz!“ Meine Fantasie sirrt etwas näher. „Du bist ja Schnee von Gestern!“
„He, so was sagt man doch nicht einfach so …“ Mein Einspruch verhallt ungehört. Lys ist bereits weitergeflogen.
Ich schüttelte den Kopf über meinen Symbisiten und schleiche mich dann weiter. Ich bin ja neugierig, wie es hier aussieht.
Wieder komme ich nicht weit. Hinter der nächsten Ecke stehen ein sepiafarbenes Pferd, ein dunkelhäutiger und silberhaariger Feuerelb, zwei Wölfe, einer hellgrau, der andere leicht grünlich, ein Einsiedlerkrebs und ein Mensch ohne Eigenschaften, der nichts weiter als eine dreidimensionale Silhouette ist.
„Oh. Hallo.“ Ich starre das Chaos an.
„Marvin!“, ruft das Pferd – Macchiato – sofort aus. „Gut, dass du endlich da bist! Wir müssen reden! Der Sumpfwolf dringt ständig in mein Viertel ein und seine Häuser bedecken fast 50% von meinem Platz! Das geht so nicht!“
„Und ich“, mischt sich Mobu Cajatoshija, der Feuerelb aus dem Hyphurion ein, „kann nicht einmal mehr Straßen zwischen den ganzen gebauten und geplanten Grundstücken verlegen. Mein Viertel ist einfach zu klein.“
„Mord und Todschlag!“, zetert Macchiato weiter. „Mein Viertel soll doch sichere Zone sein, aber da kannst du mir ja gleich den Knochenknurpsler vor die Tür setzen.“
„Ich würde noch etwas Platz machen können“, flüstert es schüchtern aus dem bunten Krebspanzer von Timofei Naveek. „Ich brauche nicht so viel Platz.“
„Mag sein, Timo, aber mit deinem Platz kann niemand etwas anfangen“, knurrt der moosig aussehende Wolf.
„Und jetzt beruhigt euch bitte, Freunde, ich bin sicher, wir finden eine Lösung.“
Diese zuversichtlichen Worte stammen von dem grauen Wolf, Marvin Grauwolf. Worauf der grünliche Wolf, Urdoggo, gleich hämisch lacht: „Wir wissen doch alle, dass dein Gebiet früher oder später explodieren wird, Grauwolf!“
„Der Berg ist zu klein für so viele Egos“, flüstere ich entgeistert.
„Was sagtest du, Marvin der Graue?“, fragt mich Marvin Grauwolf. Der Typ ist ein ziemlicher Spießer, muss ich hier mal erwähnen.
„Ich brauche Platz für die ganzen Geschichten“, beschwert sich der Urdoggo. „Und wir brauchen mehr Sumpf!“
„Aber ihr wisst doch, dass die Logik hier schon längst ausgeschaltet wurde“, flüstert der Einsiedlerkrebs Timofei wieder. „Wir können überhaupt keine Platzprobleme haben, weil die Geschichten nur so groß sind, wie ihr sie haben wollt. Meine Werke passen alle mit in das Schneckenhaus.“
Timofei wird leider übergangen, genauso Marvin Grauwolf, der verzweifelt zu schlichten versucht, denn jetzt tönt Macchiato, dass seine kinderfreundlichen Geschichten ja wohl einen sonnigeren, großzügigeren Platz bräuchten, der Urdoggo schnaubt und meint: „Wenn hier irgendwas wichtig ist, dann ja wohl die Fantasy- und Sci-Fi-Epen!“ und Mobu versucht, die Komplexität der Hyphurion-Geschichten zu verteidigen.
„Sag doch auch mal was!“ Marvin Grauwolf sieht mich bittend an. Ich starre zurück, mache auf der Hinterpfote kehrt und flüchte.
Das war eine ganz schlechte Idee, fährt es mir durch den Kopf, während ich renne. Viel zu viele Pseudonyme. Mein Reich auf dem grauen Berg sieht aus wie ein Schlachtfeld nach mehreren Kreaexplosionen.
Ich schlittere um ein paar Ecken und stehe plötzlich in einer dunklen Gasse. Meine Pfoten versinken in sumpfigen Untergrund und ein Schauer läuft mir durch das Fell.
Etwas Blaues rast heran. Lyssa hält kurz über meiner linken Schulter und flüstert angespannt: „Marv … was hast du getan?“
„Ich weiß. Kein Pseudonymchaos. Ich hätte nicht mal drüber nachdenken sollen!“
„Was? Nein, die Pseudonyme sind super!“ (War ja klar, dass Lys so denkt.) „Aber warum bist du ausgerechnet in die Fluchgasse gelaufen?“
„Fluchgasse?“, wiederhole ich.
Irgendwo kichert etwas. Ich hebe den Blick und sehe einen sehr dürren, struppigen und braunen Wolf aus dem Schatten treten. Er hat ein spitzes, unangenehmes Gesicht.
„Knochenknurpsler“, sage ich mit einem Seufzen.
Der Psychowolf kichert. „Ich bin leider dein kleinstes Problem … mein Freund.“
Er geht grinsend rückwärts in die Schatten, bis man nur noch seine gelben Augen glitzern sieht.
„Wie meinst du das?“, frage ich verwirrt.
„Sieh nach unten“, flüstert der Knochenknurpsler mit einer Stimme wie ein eisiger Winterhauch.
Ich senke den Blick, und dort, im Sumpfwasser, entdecke ich mein Spiegelbild.
Aber … irgendetwas stimmt nicht.
Ich habe doch keine Schafswolle! Und Lyssas Spiegelbild ist aus irgendeinem Grund gelblich rot.
Ich springe zurück und aus der Pfütze steigen zwei Gestalten. Ein Wolf, der sich das Fell eines toten Schafes – samt Kopf – übergeworfen hat, und ein rotfunkelndes Kreaich.
„Oh je“, flüstert Lyssa in meinem Ohr, wohin sie sich verkrochen hat.
„Frei!“, flüstert der Wolf. „Wir sind frei, Sylas!“
„Psst, Nivram.“ Das fremde Kreaich kreist um den Kopf des fremden Wolfes. „Bevor dein Spiegelbild uns wieder einsperrt.“
Der Wolf namens Nivram tapst auf mich und Lys zu. „Es tut mir leid, Marvin. Aber ich will nicht wieder ins Nichts. Ich muss das tun.“
Lys saust aus meinem Ohr und in den Himmel. Das andere Kreaich fliegt ihr ein Stück nach, gibt aber schnell auf.
Nivram berührt meine Nase mit seiner.
Die gesamte Welt glitcht. Ich verliere den Boden unter den Füßen und spüre, wie ich in alle möglichen Richtungen gezogen werde. Es braucht einen Moment des Entsetzens, bis mir klar wird, dass ICH glitche! Ich wurde aus Zeit, Raum und Logik katapultiert!
„Tut mir leid“, erklingt Nivrams Stimme. „Aber ich will existieren.“
Ich falle ins Nichts.