Lange Zeit saß Valion nur da und ließ die Zeit verstreichen, während das Tageslicht schwand. Er war hier völlig allein, und es gab im düsteren Innern des Wagens nichts Interessantes. Er sah nur hölzerne Streben, die die Stoffplanen trugen und weitere eiserne Fesseln, die an dem massiven Holzunterbau des Wagens befestigt waren. Außerdem stand ganz am Ende des Wagens ein Eimer, der zumindest so aussah als würde er täglich geleert werden. Das war alles.
Valion überlegte, ob es möglich war seine Fesseln zu lösen und untersuchte sie eine Zeit lang genau. Doch sowohl die Handschelle als auch die Kettenglieder bestanden aus massivem Eisen und boten keine Schwachstelle. Hätte er die Fähigkeit gehabt Schlösser zu knacken, hätte er vielleicht etwas ausrichten können, aber da er das nicht vermochte, war er hilflos. Zudem brach die Dunkelheit herein, er sah immer weniger und konnte bald nur noch Schemen erkennen.
Hin und wieder hörte er, wie jemand sich vor dem Wagen unterhielt, aber das Knirschen der Wagenräder und das Stampfen der Pferde ließen ihn meist nur einzelne Worte erkennen, denen er keinen Sinn entnehmen konnte. Das wenige, das er mithörte, waren belanglose Gespräche und Anweisungen.
Als die Nacht hereinbrach hielt der Wagenzug nicht an, es wurden nur ein paar Laternen angezündet. Unvermittelt sprang ein Diener auf den Wagen auf, reichte Valion kommentarlos ein Stück Brot, einen Holzbecher mit dünnem Wein und eine Decke herein, und verschwand wieder. Den Rest des Abends blieb Valion allein. Er hatte gehofft, dass Tarn nach ihm sehen würde, aber das geschah nicht. Mit einem Gefühl der unendlichen Einsamkeit legte er sich irgendwann auf den Boden, benutzte sein Bündel als Kopfkissen und breitete die Decke über sich aus.
Niemand kam um ihn zu wecken. Als er aufwachte schien die Sonne hell und freundlich durch die Ritzen zwischen den Stoffplanen und brachte den Staub in der Luft zum Funkeln. Wenn der Wagenzug in der Nacht angehalten hatte, hatte er es jedenfalls nicht bemerkt.
Verschlafen richtete er sich auf und rieb sich die Augen. Er fragte sich gerade, wo er etwas zum Frühstück herbekommen würde, als er einen Holznapf bemerkte, der neben ihm abgestellt worden war. Wie sich herausstellte war er mit kalt gewordenem Getreidebrei gefüllt.
Valion gönnte sich den Luxus, halb im Liegen zu essen, immer noch eingepackt in seine Decke. Er dachte an seine Mutter, die ihn die wenigen Tage, die er in seinem Leben krank gewesen war, kaum verhätschelt hatte. Auch sie hatte nur die Zeit gehabt, etwas neben sein Bett zu stellen und war dann verschwunden um die vielen, nicht enden wollenden Aufgaben auf dem Hof zu erfüllen. Aber wenn er so krank war, dass er den ganzen Tag nicht aufstehen konnte, war sie zur Mittagszeit an sein Bett gekommen und hatte ihm gut zugeredet. Er vermisste sie, und er wäre heute lieber von ihr geweckt worden und zeitig aufgestanden, um den Stall auszumisten, als hier angekettet zu liegen wie ein Wachhund. Geistesabwesend tastete er nach der Fessel, die begann, sein Handgelenk aufzuscheuern, und schob sie etwas höher.
Warum war er allein hier? Er war schließlich nicht der einzige Sklave. Auf der anderen Seite war die Unterbringung unwahrscheinlich karg, also war das vielleicht eine Strafe für seinen Widerstand? Oder war in einem der anderen Wagen einfach kein Platz mehr für ihn gewesen?
Er war gerade dabei, die letzten Reste aus der Schüssel zu kratzen, als er plötzlich hörte wie hinter ihm Ketten rasselten. Das Geräusch klang gedämpft, aber doch deutlich und nahe. Irritiert sah er sich um, ob er tatsächlich eine andere Person übersehen hatte, doch es war niemand anderes im Wagen. Das Rasseln dauerte an, jetzt hustete jemand. „H-hallo?“, rief Valion verwirrt. Die Antwort war ein mürrisches Brummen, gefolgt von einem heißeren: „Ja, hallo. Was zum Teufel willst du?“ Valion sah sich immer noch irritiert um, doch sein Blick blieb an der Vorderseite des Wagens hängen. Die Wand war an dieser Seite massiv aus Holz gebaut, und oben, das sah er erst jetzt, waren Gitter eingelassen, durch die ein wenig Licht fiel. Valion versuchte, sich geistig ein Bild vom Innenaufbau des Wagen zu machen und kam zu dem Schluss, dass er länger sein musste als er anfangs gedacht hatte und hinter der Holzwand eine weitere Unterbringung für andere Sklaven sein musste.
Unsicher fragte er: „Äh... bist du allein da drüben?“ Die Antwort war ein Schnauben, gefolgt von der abfälligen Frage: „Natürlich, was denn sonst?“ Es folgte explosiver Husten, der nicht enden wollte, dann spuckte der mysteriöse Mitreisende, den Valion immer noch nicht sehen konnte, hörbar aus. „Oh Mann, nicht das schon wieder“, kam es leise von drüben, dann herrschte Stille.
Valion wartete ab, ob sich das Gespräch fortsetzen würde, aber nichts geschah. „Warum bist du da drüben?“, begann er erneut. „Sag mal, bist du neu oder so?“, kam prompt die Gegenfrage zurück, und Valion nickte, nur um zu merken, dass das natürlich völlig sinnlos war. Er und sein Gesprächspartner konnten sich schließlich nicht sehen. Er brauchte aber auch gar nicht zu antworten, weil die Stimme fortfuhr: „Klar, du kannst ja nur neu sein, sonst wärst du ja nicht dort drüben. Na, dann willkommen im Pestwagen.“
„Pestwagen?“ Leichte Panik stieg in Valion auf, aber die Stimme auf der anderen Seite lachte nur, brach erneut in Husten aus, und fuhr dann leicht krächzend fort: „So nennen ihn alle. Keine Angst, das ist nur ein Spitzname. Eigentlich müsste er treffender der Läusewagen heißen. Alle Neulinge kommen erst einmal hier rein, zur Isolation.“ „Iso-was?“ Mit dem Wort konnte Valion überhaupt nichts anfangen. „Isolation. Die Neuen sollen von den anderen Sklaven ferngehalten werden, das ist damit gemeint. Lass mich raten, sie haben dich gestern in diesem Dorf von der Straße gekratzt und hierher gebracht?“ Langsam wurde Valion der Tonfall des Fremden eine Spur zu herablassend. Er überlegte gerade ob er nicht mehr antworten sollte, aber sein Gesprächspartner schien die Stille richtig zu interpretieren und fuhr etwas versöhnlicher fort: „He, nicht sauer sein, so war das nicht gemeint! Wie heißt du eigentlich? Ich bin Jan.“
Das klang schon etwas besser, und Valion hatte wohl keine Wahl. Es wäre dumm gewesen, sich gleich am ersten Tag einen Feind statt einen Freund zu machen, zumal sie beide in diesem Wagen allein waren. Solange nicht absehbar war, wann er hier heraus kommen würde, konnte er genauso gut versuchen das Beste daraus zu machen. Deshalb antwortete er: „Ich heiße Valion. Und ja, ich bin wirklich erst seit gestern hier.“ „Da hast du Glück, ich stecke schon etwas länger hier drin. Einzelunterbringung, ganz was Nobles.“, spottete Jan. „Warum habe ich dich eigentlich gestern Abend nicht gehört?“, fragte Valion, „Wenn du gestern schon hier warst, hätte ich das doch merken müssen.“ „Gestern bin ich früh schlafen gegangen, der ganze Krach am Abend davor hat mich wach gehalten. Da war was los, sag ich dir, Gewehrschüsse, Schreie! Keine Ahnung, was das sollte, aber ich konnte kein Auge zu tun und war hundemüde!“ Valion schwieg wohlweislich. Dass der Krach mit den Rebellen zusammenhing und er selbst etwas darüber wusste, wollte er Jan nicht gerade auf die Nase binden. Zumindest nicht, bis er wusste, dass er dem anderen trauen konnte. Er versuchte, vom Thema abzulenken, indem er sagte: „Ehrlich gesagt ist mir immer noch nicht ganz klar, was es mit diesem Wagen auf sich hat.“
„Pass auf, das ist so“, begann Jan, der sich in seiner Rolle als Aufklärer gut zu gefallen schien, „Wenn ein neuer Sklave dazu kommt, dann ist ja unklar, ob er vielleicht total verlaust ist, oder, was weiß ich, juckenden Ausschlag hat. Willst du mit so jemand wochenlang auf engstem Raum reisen? Die niederen Sklaven sitzen sich da drüben fast gegenseitig auf dem Schoß, wenn da einer krank ist, sind gleich alle krank.
Also kommt jeder, der neu ist, erst einmal hierher. Wenn ein Lager aufgeschlagen wird, werden alle Neuen – aber meist sind das nur zwei oder drei Leute – einmal komplett untersucht. Das bedeutet, du musst nur noch ein bisschen warten, und dann wirst du einem anderen Wagen zugewiesen. Aber du hast sowieso Glück, wir werden bald ankommen, länger als zwei Wochen sind wir vermutlich nicht mehr unterwegs. Die Plätze sind nämlich so gut wie voll.“
Valion lauschte aufmerksam. Jan schien ziemlich von sich selbst überzeugt, aber auch nicht unsympathisch. Er klang nicht viel älter als Valion, aber seine Stimme war rau und unregelmäßig. Er unterbrach sich immer wieder, um zu husten. „Warum bist du hier? Ich meine, warum bist du dort drüben? Du bist immerhin nicht mehr neu?“, fragte Valion schließlich. „Ich sehe einfach zu gut aus, man kann mich nicht auf die Menschheit loslassen.“, scherzte Jan, aber es klang angestrengt. „Nein, im Ernst!“, versuchte Valion es noch einmal, aber Jan antwortete nur: „Das war mein Ernst!“
Gut, wenn Jan es so wollte, würde Valion keine weiteren Fragen darüber stellen. Vermutlich hatte er sich schlicht und einfach erkältet und sollte nicht alle anderen anstecken. Valion wusste aus eigener Erfahrung, dass das schnell gehen konnte. Manchmal liefen auch in seinem Dorf alle mit laufender Nase herum, und der Gedanke, die Menschen, die besonders laut und penetrant niesten für eine Weile wegzusperren lag da nicht fern.
Valion stand auf und versuchte sich die Beine zu vertreten, und dabei fielen ihm weitere Fragen ein. „Wie lange wird es dauern, bis ich zu den anderen komme?“ Jan schien nachzudenken, dann antwortete er: „Vermutlich vier Tage, vielleicht auch fünf. Die Pferde bekommen zwar jede Nacht Zeit zum Ausruhen, aber wir schlagen nicht ständig ein Lager auf wie in deinem Heimatdorf, und nur dann dürfen wir aus dem Wagen raus.“ „Oh.“ So hatte Valion sich das nicht vorgestellt, als Jan sagte, dass er nur noch ein bisschen warten müsste. „Und so lange sitzen wir hier zu zweit fest?“ „Ja, und aus Erfahrung kann ich dir sagen, es wird verdammt langweilig. Hast du schon mal versucht »Ich sehe was, was du nicht siehst« zu spielen, wenn alles braun ist?“ Valion stutzte kurz, dann brachen sie beide in Gelächter aus.
„Ich sehe was, was du nicht siehst, und-“ „Das linke Gitter?“ „-und das ist-“ „Das rechte Gitter?“ „Du musst mich schon ausreden lassen“, sagte Valion etwas genervt. „Das Spiel war eine dumme Idee. Erzähl mir lieber eine Geschichte“, forderte Jan. Er klang so gelangweilt, wie Valion sich fühlte. Sie waren schon den dritten Tag unterwegs ohne längeren Halt. Nachts hielten sie zwar ihre Ruhepause ein, in denen die Pferde vermutlich versorgt wurden und schlafen durften, aber das war auch alles. Die restliche Zeit waren sie immer in Bewegung. Die Diener und Wächter schliefen laut Jan in Schichten, was Valion einleuchtete, da immer wieder andere Diener zum Frühstück und Abendbrot auftauchten um ihnen etwas zu essen zu bringen. Meist gab es sehr einfache, schnell zubereitete Kost, als Luxus obendrauf einmal einen Apfel. Valion dachte an die Äpfel, die seine Familie an Eravier verkauft hatte und fragte sich, ob er gerade einen davon aß.
Jan machte es nicht gerade leichter, indem er Valion vor phantasierte, was es erst alles zu essen geben würde, wenn sie ein Lager aufschlugen. „Wenn wir richtig Glück haben, schlachten sie dann eins der Tiere und braten es am Spieß, das können sie nicht, wenn wir ständig in Bewegung sind. Den Händlern bringen sie alles was sie wollen auf den Tisch, dafür reicht unsere Nachtruhe gerade so. Aber wir armen Schweine kriegen davon entweder nur die Reste oder das, was sich möglichst schnell zubereiten lässt, zum Beispiel diesen suppigen Getreidebrei.“ Valion hatte an dem Brei nichts auszusetzen, aber hier zeigte sich, wie unterschiedlich er und Jan aufgewachsen waren. Sie hatten sich schon nach kurzer Zeit gegenseitig von ihrer Familie, dann von ihren Freunden erzählt, von den Menschen die sie kannten und dem Ort, wo sie wohnten. Nur ein Thema mieden sie beide wie durch eine wortlose Abmachung – sie sprachen nie darüber, wie sie zu Sklaven geworden waren.
Jan war der dritte Sohn eines vermögenden Bauers. In einer Schenkung hatte sein Urgroßvater von seinem Fürst die Freiheit und eine große Menge Land bekommen, nachdem er bei einem Brand im Wohnsitz des Fürsten dessen Frau und Sohn aus den Flammen gerettet hatte. Jans Urgroßvater selbst war an den Folgen seiner Heldentat gestorben, doch sein Sohn und seine Frau nahmen das Geschenk an und mehrten ihren Besitz durch harte Arbeit.
Zwei Generationen später führte Jans Familie ein arbeitsames, aber sorgloses Leben. Sie hatten eine Schar von Knechten, die auf ihrem Hof arbeitete und sogar zwei Dienstmädchen, denen Jan anscheinend unermüdlich nachstellte, wenn man seinen Prahlereien glauben durfte. In den letzten Jahren hatten sie zudem einiges an Vieh angeschafft. Für Jan war es das Mindeste Brot, Milch oder Käse zum Frühstück zu bekommen, genauso stand bei seiner Familie regelmäßig Fleisch auf dem Speiseplan. Valion konnte von derartigem Luxus nur träumen.
Trotzdem mochte er Jan, denn er war trotz seiner manchmal vorlauten Art freundlich und immer zu Scherzen aufgelegt. Außerdem war er sowohl ein guter Erzähler als auch ein guter Zuhörer, obwohl Valion seine Begeisterung für alles was Mädchen betraf eher peinlich fand. Sein Lieblingsthema waren seine angeblichen Eroberungen und was er alles angestellt hatte, um sie für sich zu gewinnen. Valion hatte versucht mit ein paar Geschichten über seine Beziehung zu Nisha und Vara mitzuziehen, obwohl die meisten davon auf harmloses Hände halten und Sterne beobachten hinausliefen. Jan schien es egal zu sein, er wollte einfach nur etwas über die beiden Mädchen hören. Gerade jetzt forderte er: „Los, mir ist langweilig, ich brauche eine Geschichte, die mir die Seele wärmt. Erzähl mir von Nisha!“ Valion kramte in seinem Gedächtnis, um eine passende Geschichte zu finden. „Also, das war zu der Zeit als wir ungefähr elf Jahre alt waren. Da war dieser Ameisenhügel und Nisha-“ „Nein, erzähl mir nochmal wie du sie nackt gesehen hast!“
Valion seufzte. Diese Geschichte hatte es ihm besonders angetan, vor allem, nachdem Valion ihm im Detail geschildert hatte, wie sie aussah. Hätte er nur nie davon angefangen!
Es war erst gestern gewesen, und Jan hatte zu dem Zeitpunkt gerade erzählt, wie er seine Mutter davor bewahrt hatte von einem erschrockenen Pferd totgetrampelt zu werden. Sein Schrecken und die Angst um seine Mutter hatten so lebendig aus seiner Schilderung gesprochen, dass Valion sich an eine ähnliche Geschichte erinnert hatte. Er hatte einfach begonnen zu erzählen. Dass Nisha am Ende der Geschichte völlig durchnässt und nackt war fiel ihm erst ein, als er an der Stelle angelangte und Jan bewundernd pfiff. Danach wollte er alles über Nisha und vor allem ihr Aussehen erfahren.
„Komm schon, tu mir den Gefallen!“, bettelte Jan, „Ich sterbe wenn ich nicht an irgendetwas Angenehmeres als dieses Loch denken kann. Ganz sicher wird mich die Langeweile noch heute hinwegraffen!“ Er lachte und brach wieder in seinen scheinbar nie endenden Husten aus.
„Schon gut“, lenkte Valion ein und erzählte:
„Nisha und Vara gehen gern an den großen Fluss, er fließt nicht weit von unserem Dorf. Dort wächst das ganze Jahr über eine Menge Brunnenkresse. Wenn man etwas Glück und Zeit hat fängt man dort auch ein paar Fische, aber meistens sind sie klein und nicht der Rede wert. Jedenfalls haben wir fünf uns verabredet. Nisha und Vara wollten Brunnenkresse sammeln, Teron und Gevin wollten angeln, und ich musste wohl oder übel mit den Mädchen pflücken gehen. Meine Mutter liebt Brunnenkresse, und wenn ich nach so einem Ausflug ohne auftauche, gibt es Ärger. Die Abmachung war, dass wir uns alle flussaufwärts treffen würden, wenn wir mit dem Sammeln fertig waren.
Nisha war damals meistens traurig. Ihre Mutter hatte ein totes Kind zur Welt gebracht und war seit dem Tag krank, und alle machten sich große Sorgen. Vara versuchte an dem Tag mit Nisha zu reden, aber Teron machte ein paar dumme Witze, und da hatte sie wohl genug und lief einfach voraus. Teron und Gevin bogen dann ab, um etwas weiter flussaufwärts zu angeln, und wir waren nur noch zu dritt.“
„Ich verstehe nicht, warum du dir so eine Gelegenheit nicht zu nutze gemacht hast“, unterbrach Jan, „Allein mit zwei hübschen Mädchen! Die Möglichkeiten! Sag mir nicht, dass du daran nie gedacht hast!“ „Ich bin immer mit Nisha und Vara zusammen“, wehrte Valion ab, „wir kennen uns schon Jahre lang. Ich dachte eher daran, dass ich möglichst schnell zum Angeln wollte. Jedenfalls kamen wir ans Ufer und fingen an zu sammeln, an unterschiedlichen Enden. Und Nisha... sie hatte eine karge Stelle erwischt. Sie setzte es sich irgendwie in den Kopf, ans andere Ufer zu waten, weil sie meinte, dass wir dort nie sammelten und dass sie ihren Korb sonst nie voll bekäme.
Der Fluss ist nicht tief, aber die Strömung ist in der Mitte sehr stark. Es gibt ein paar Sandbänke, aber auch ein paar große, überwachsene Steine, auf denen man leicht ausrutscht. Vara rief noch, dass es zu gefährlich sei, aber Nisha wollte nicht umkehren, sie ging einfach weiter.“
Valion hielt einen Moment inne. Er erinnerte sich gut daran wie sie immer weiter gewatet war. Ihre Entschlossenheit hatte etwas an sich gehabt, das er kaum beschreiben konnte. Es war, als hätte sie die Welt herausgefordert, ihr das Schlimmste anzutun, dass der Fluss nur versuchen sollte, sie mit sich fortzureißen. Sie hatte sich nicht umgedreht, hatte niemand zugehört, sie war einfach nur stumm durch das Wasser gegangen, mit geradem Rücken und ohne Zögern.
„Und dann... in einem Moment stand sie da, im nächsten Augenblick strauchelte sie und war weg. Die Strömung hatte sie umgerissen und sie wurde einfach weg getragen. Vara wollte ihr sofort nach springen, sie hätte es auch getan wenn ich sie nicht festgehalten hätte! Sie kann nicht besonders gut schwimmen. Ich ...“ Valion stockte.
So oft er die Geschichte auch erzählte, dieser Moment kehrte jedes Mal viel zu bildlich zu ihm zurück. Nisha, verschwunden im Wasser. Vara zerrte an ihm. Tausende Möglichkeiten, eine schrecklicher als die andere, hatten ihn gelähmt und für einen Moment jeden vernünftigen Gedanken verbannt. Alles in ihm hatte danach geschrien, sich umzudrehen und einfach wegzulaufen. Er entschied, dass er die Geschichte jetzt zum letzten Mal erzählt hatte.
Etwas unwirsch fuhr er fort: „Ich hab Vara gesagt, dass sie laufen und Teron und Gevin holen soll, und dann bin ich ins Wasser und los geschwommen... getaucht... es dauerte ewig bis ich sie fand. Oder vielleicht kam es mir nur ewig vor. Ich sah erst gar nichts, überall war aufgewühlter Schlamm, Wasserpflanzen, ein paar Fische, aber dann war da ihr Unterrock. Er war weiß, verstehst du, und ich konnte ihn im Wasser schimmern sehen.
Irgendwie griff ich sie und zog sie nach oben, und zerrte sie zurück an den Rand. Sie spuckte Wasser, aber ich glaube sie hatte es trotz des Schrecks geschafft die Luft anzuhalten, als die Strömung sie mitriss, sonst wäre sie vermutlich bewusstlos gewesen. Sie konnte aus eigener Kraft aufstehen, und sie sagte immer wieder, dass sie nicht mehr gewusst hatte wo die Oberfläche war.
Ich half ihr das Ufer hochzusteigen, und ich fragte sie ob es ihr gut ging. Sie wusste es selbst nicht genau, aber sie hatte Schmerzen und zog ihr Oberkleid aus. Dann sahen wir, dass ihr Unterrock und ihr Hemd an der Hüfte völlig rot war. Ich glaube, wir waren beide völlig in Panik. Sie zog sich sofort das Hemd und den Rock aus. Im Grunde war es gar nicht so schlimm, wie es aussah. Sie hatte einen riesigen blauen Fleck quer über den Bauch und die Hüfte, dort muss die Strömung sie gegen einen der Steine geworfen haben. Sie hatte sich überall die Haut aufgeschürft, aber die Verletzungen waren nicht tief und bluteten gar nicht so sehr. Aber es sah nach viel mehr Blut aus, durch das Wasser verlief alles. Ich dachte im ersten Moment sie würde verbluten! Also band ich ihren Unterrock als Verband darum, so straff wie ich konnte, weil mir einfach gar nichts anderes einfiel, und dann... naja, standen wir da, pitschnass, völlig allein.“ Um jeglichen Kommentar vorzubeugen, fügte Valion hinzu: „Und ja, sie war also komplett nackt, obwohl mir das in dem Moment herzlich egal war!“
Jan seufzte. „Und jetzt kommt die Stelle, die mich auf ewig traurig stimmen wird. Komm schon, zerstör' meine Träume, Valion! Was geschah dann?“ „Vara und Gevin kamen einen Moment später angelaufen, und Vara zog als Allererstes ihren eigenen Unterrock aus und Gevin sein Hemd, damit Nisha überhaupt irgendetwas Trockenes hatte, und dann sind wir gemeinsam zurück gegangen. Zum Glück kamen uns auf halbem Weg Teron und Nishas Vater mit Decken entgegen. Nisha wurde gleich doppelt eingewickelt, und ihr Vater trug sie dann nach Hause, und zwei Tage später ging es ihr schon besser, obwohl sie noch wochenlang Bauchschmerzen hatte.
Und das war die Geschichte, wie ich Nisha gerettet habe.“
Er war froh, dass die Geschichte hier endete, zumindest hatte er sie abgebrochen, als Jan begann ihn über Nisha auszufragen. Er hätte noch viel mehr erzählen können. Über die Dinge, die Nisha zu ihm gesagt hatte. Der Grund, warum sie losgelaufen war. Vielleicht, ein anderes Mal, würde er den fehlenden Teil hinzufügen, aber nicht jetzt. Nicht so.
„Ich mag die Geschichte“, meinte Jan, „Heldenmut, eine Dame in Nöten... so einfach müsste die Welt immer sein, wie ein Märchen mit einem guten Ende.“ „Unsinn“, wehrte Valion ärgerlich ab, „Wir hatten nur Glück! Nisha hätte sich viel schwerer verletzen können. Wir hätten beide ertrinken können! Das wäre nicht besonders märchenhaft gewesen.“ Leiser fügte er hinzu: „Das war es von Anfang an nicht.“ Wenn Jan ihn gehört hatte, dann zeigte er es nicht, denn er antwortete nicht mehr.
Für eine ganze Weile schwiegen sie, jeder versunken in die eigenen Gedanken.
Nachdem die Wagen an diesem Abend still standen, hielt die Langeweile wieder Einzug. Jan und Valion waren zwischendurch die Gesprächsthemen ausgegangen, und Valion wünschte sich irgendeine Ablenkung. Er erwog ernsthaft, Jan darum zu bitten eine Geschichte zu wiederholen, selbst wenn sie sich nur um Mädchen drehte, als jemand auf ihren Wagen zukam. Das Abendessen, kalte Suppe und ein Stück Brot, hatten sie schon vor einer Weile bekommen. Valion war zunächst überzeugt, dass es sich um einen Diener handelte, der nur zufällig auf den Wagen zu kam und gleich einen anderen Weg einschlagen würde, aber die Schritte kamen beharrlich näher.
Im ersten Moment fiel Valion nur eine Person ein, und der Gedanke brachte ihn zum Lächeln: Tarn! Er hatte ihn seit dem Abreisetag nicht mehr gesehen. Ob er endlich vorbei kam, um nach ihm zu sehen? Erwartungsvoll setzte Valion sich auf und beobachtete den Eingang des Wagens, bis ihm siedend heiß einfiel, dass es genauso gut Eravier sein könnte, denn auch der hatte sich bisher nicht blicken lassen. Gleich darauf verwünschte er sich für den Gedanken. Wenn er eins nicht wollte, dann an Eravier denken, geschweige denn ihn durch einen Gedanken herbei zu zaubern.
Zum Glück war es tatsächlich Tarn, der mit einer Laterne und seiner Tasche den Wagen betrat. Er sah müde aus, lächelte aber als er Valion sah. „Hallo Valion, lange nicht gesehen. Wie geht’s der Schulter?“ Valion bewegte sie vorsichtig. Die Schmerzen waren zwar sein täglicher Begleiter, aber gleichzeitig wurden sie zu einem Murmeln im Hintergrund, wie das Rauschen von Bäumen oder der Gesang der Vögel. Wenn er seine Schulter nicht in einem unbedachten Moment falsch belastete, konnte er sie die meiste Zeit ignorieren. Und in der Aufregung, Tarn wiederzusehen und Neues zu erfahren hatte er sie einen Moment sogar völlig vergessen. „Es ist besser... ein wenig zumindest. Eigentlich brennt es die ganze Zeit über.“ Scherzhaft ergänzte er: „Aber da ich hier kaum wild durch die Gegend springen kann, weiß ich nicht wie schlimm es sein könnte.“ Tarn schmunzelte. „Anscheinend färbt Jan auf dich ab“, stellte er fest und wies mit einem Kopfnicken auf die Wand am Ende des Wagens, „Das ist doch ganz sein Umgangston.“ „Kein bisschen, Tarn! Er war schon immer so! Ich war ein leuchtendes Vorbild der Tugend, wirklich!“, schallte es aus dem anderen Wagenteil herüber, und Tarn lachte.
Valion schaute etwas verdutzt, bis ihm klar wurde, wie dumm er war. Natürlich musste Jan und Tarn sich kennen. Jan schien schon länger mitzureisen, und vermutlich wurde sein Gesundheitszustand überwacht, damit er, sobald er wieder gesund war, zu den anderen Sklaven zurückkehren konnte.
Tarn legte inzwischen alles bereit, und Valion zog soweit es ging das Hemd aus, das er seit Tagen nicht hatte wechseln können. Er hatte eigentlich ein weiteres Hemd bei sich, aber wie sollte er es anziehen, wenn er eine Fessel ums Handgelenk trug? Er konnte das Hemd nur über den Kopf ziehen und dann am gefesselten Arm entlang schieben. Vermutlich begann er schon zu stinken, und er hätte Tarn beinahe gesagt, dass er lieber ein anderes Mal wiederkommen sollte. Doch Tarn schien es nicht zu stören, er nahm die Binden mit der gleichen ruhigen Gelassenheit wie zuvor ab, prüfte die Wunde, tupfte sie vorsichtig ab. „Wie sieht es aus?“, fragte Valion. „Die Heilung verläuft gut. Ich werde keinen Verband mehr auflegen, es ist besser, wenn die Wunde sich jetzt von selbst schließt. Es wird vermutlich eine ganze Weile jucken. Wenn du klug bist, lässt du die Finger davon, sonst könnte es sich entzünden.“ Valion nickte. Er brannte darauf, Tarn nach Details über den Wagenzug auszufragen oder mehr über die Rebellion zu erfahren, doch ihm war bewusst, dass Jan die ganze Zeit in Hörweite war. Tarn schien zu verstehen, was ihn bekümmerte, denn er sagte leise: „Morgen werden wir uns unterhalten. Ich habe etwas ausgehandelt, um dich für einen Moment hier heraus zu holen.“ Valion nickte lächelnd. Er konnte es jetzt schon kaum erwarten, endlich für einen Moment an die frische Luft und ins Sonnenlicht zu kommen. Lauter erklärte Tarn, während er alles zusammenpackte: „Für heute bin ich bei dir fertig. Ich werde noch nach Jan sehen, dann muss ich weiter. Ich wollte schon eher kommen, aber eine Stute hat sich am Fuhrwerk verletzt und brauchte meine Betreuung. Außerdem habe ich mich beinahe ununterbrochen mit Karvash streiten müssen, der unbedingt wollte, dass das arme Ding sofort wieder Karren zieht. Ich bin ziemlich erledigt.“ Tarn nickte ihm noch einmal zu, dann sprang er vom Wagen und war aus seinem Sichtfeld verschwunden.
Valion lauschte Tarns schweren Schritten, als dieser ihr Quartier umrundete und dann eine hölzerne Tür aufschloss, die wohl zu Jans Zelle führen musste. Sie begannen sich ungezwungen zu unterhalten, und Valion beneidete Jan erneut um dessen Ungewzungenheit, denn der begrüße Tarn frech mit: „Na, alter Quacksalber, endlich Zeit für die Armen und Kranken?“ „Was tut man nicht alles, um sich beliebt zu machen.“ Valion lächelte, er konnte sich Tarns Schmunzeln bei dieser Erwiderung bildlich vorstellen. Ernster fuhr Tarn fort: „Wie geht es dir, Jan? Irgendeine Verbesserung?“ „Nicht wirklich, hört man ja vielleicht. Ich huste mir die schwarze Seele aus dem Leib.“ Jan versuchte unbekümmert zu wirken, doch in seiner Stimme schwang plötzlich Angst mit. „Das Fieber und die Schwäche halten an?“ „Ja.“ „Weniger Auswurf?“ „Leider nein. Ehrlich gesagt...“ Den nächsten Satz murmelte er nur. Es entstand Stille, dann sagte Tarn ernst: „Ich muss dir wahrscheinlich nicht sagen, dass das kein gutes Zeichen ist.“ „Ich gebe mir wirklich Mühe gesund zu werden! Ich brauche-“, begann Jan verzweifelt, aber Tarn unterbrach ihn. „Schon gut. Zieh dein Hemd aus, ich werde deine Lunge abhören. Vielleicht bist du auch schon auf dem Weg der Besserung, das Blut kann auch eine einmalige Sache sein.“
Valion stockte der Atem. Bluthusten? Er hatte gewusst, dass Jan krank war, aber er hatte bisher nicht gedacht, dass es so schlimm um ihn stand. Ein weiterer, herzloser Gedanke folgte gleich darauf: War es möglich, dass Jan ihn, selbst über diese Entfernung, mit seiner Krankheit ansteckte? Er verwarf den Gedanken sofort. Tarn war dort drüben und redete mit ihm, demzufolge konnte was auch immer er hatte nicht derartig ansteckend sein. Und selbst wenn, es war jetzt zu spät.
Valion hätte fast nicht reagiert, als Jan „He, Valion!“ zu ihm herüber rief. „Was ist denn?“, fragte er und versuchte, unbekümmert zu klingen. „Kennst du irgendjemand, der stricken kann? Dieser Mann hat kalte Ohren, jemand sollte ihm eine Mütze schenken! Bis dahin sollte man ihm verbieten, Menschen abzuhören! Kälteschocks sind nicht förderlich für die Gesundheit!“ Valion musste trotz seiner Sorge lachen. „Du sollst ruhig und gleichmäßig atmen, nicht schwatzen und die Temperatur meiner Ohren messen“, kommentierte Tarn trocken, was Valion nur noch mehr zum Lachen brachte, aber gleichzeitig fühlte er einen Stich unwillkommener Eifersucht.
Es war unbegründet und er schämte sich dafür – vermutlich hatte Jan einen Freund genauso dringend nötig wie Valion. Sie waren beide erst seit kurzem von ihrer Heimat und ihren Verwandten getrennt, und es gab niemand, dem sie vertrauen konnten. Jeder, der Valion bis jetzt begegnet war, war entweder furchteinflößend wie Eravier, oder gleichgültig wie die endlose Schar von Dienern und Knechten, die um sie herum arbeitete und sie nicht einmal wahrzunehmen schien. Die einzige Ausnahme bisher war Tarn, und umso mehr wünschte Valion sich, dass seine Aufmerksamkeit nur ihm selbst galt. Er brauchte selbst eine Schulter zum Anlehnen, er wollte sie nicht mit dem viel charmanteren, witzigeren Jan teilen, der es mühelos schaffte Tarn zum Lachen zu bringen. Das Gefühl war ihm nicht fremd, er hatte es zweimal gespürt, als Mila und Arinda auf die Welt gekommen waren und alle Aufmerksamkeit beanspruchten, aber jetzt, auf sich allein gestellt, war es heftiger und schwerer zu ertragen.
Diese Eifersucht verfolgte ihn noch, als Tarn sich verabschiedet hatte, und er war froh, dass auch Jan den Rest des Abends einsilbig war. Er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte, wenn Jan ihn fragte, warum er keine Lust auf Unterhaltungen hatte.
Schließlich fielen sie beide in einen unruhigen Schlaf.
Es war früher Morgen, als Valion aufwachte. Irgendjemand hustete ununterbrochen, gequält und keuchend. Valion rappelte sich auf, noch nicht ganz wach, aber im nächsten Moment wusste er, dass es natürlich nur Jan sein konnte. Er hatte schon öfter Hustenanfälle gehabt, aber dieser war besonders schlimm. Seine Lungen schienen sich nicht beruhigen zu können, und wenn er Luft holte, klang es wie das gequälte Luftholen eines Ertrinkenden. Valion sprang auf, wobei seine Schulter aufheulte und die Handschelle sich in seinen Arm grub, und rief entsetzt herüber: „Jan? Jan! Alles in Ordnung?“ Das Husten und Keuchen dauerte an, und Valion überlegte fieberhaft, wie er Tarn herbei rufen könnte. Wenn es überhaupt jemand gab, der Jan helfen konnte, dann er. Nur dass Valion keine Ahnung hatte, wo er jetzt war und ob er nicht gerade schlief. Valion murmelte einen Fluch und schrie dann aus vollem Hals: „He! Wir brauchen Hilfe!“ Niemand antwortete, die Räder knirschten einfach monoton über den Boden und der Wagen fuhr weiter. Valion wollte zu einem weiteren Ruf ansetzen, aber Jan keuchte plötzlich „Halt bloß die Klappe!“, bevor er in einen neuen Hustenanfall verfiel. Das Keuchen und Husten schien abzunehmen, trotzdem fragte Valion besorgt nach: „Bist du ganz sicher?“ Die Antwort war nur ein genervtes Schnauben.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Jan wieder sprechen konnte. „Verdammt“, fluchte er endlich leise, und Valion hörte wie seine Schlafpritsche knarrte, als er sich erhob. „Jan? Geht es dir besser?“, fragte Valion besorgt. „Ja ja, halbwegs. Bitte ruf niemand her, verstanden?“ „Aber du klangst als würdest du gleich ersticken!“, wandte Valion irritiert ein, „Ich wollte doch nur nicht-“
„Völlig egal!“, schnitt Jan ihm das Wort ab, und er klang gleichzeitig wütend und panisch. Seine Stimme wurde immer lauter und heftiger, als er sagte: „Hol. Niemand. Her. Nie! Ich kann mir nicht leisten, dass Tarn her kommt und mir endgültig bescheinigt, dass ich zu krank zum Reisen bin! Ich bin jetzt schon kurz vor einem Rauswurf!“ Valion schüttelte nur verwirrt den Kopf. „Aber warum denn? Sie müssen dich doch mitgenommen haben, und-“ „Nein! Ich weiß nicht, was bei dir los war, bei dem ganzen Lärm, den du verursacht hast, aber bei mir war es anders! Sie haben mich nicht einfach mitgenommen, verstehst du? Ich habe bezahlt, um hier zu sein, und zwar einen ganzen Haufen Geld!“
Valion lauschte mit offenem Mund und kam sich vor wie ein Idiot. Das ergab keinen Sinn. Warum sollte jemand hier sein wollen? Und warum ausgerechnet Jan, mit seinem sorglosen Leben, seinen Liebeleien, seiner Familie? „Aber... aber es ging dir doch gut. Euer großer Hof, eure ganzen Knechte... warum wolltest du das aufgeben?“, stammelte er. Jan lachte nur, hustete, und lachte weiter. „Sie sind alle krank geworden, noch vor mir“, erklärte er lachend, aber es klang gleichzeitig, als wäre er den Tränen nahe. „Wir haben Vieh gekauft, von dem wir dachten es wäre gesund, aber dann... zuerst wurden die Kühe krank. Dann wurde mein Bruder krank und starb, und dann wurden fast alle Knechte krank und niemand wollte mehr zu unserem Hof... und alles lag brach.“ Das Gelächter brach um in Schluchzen, und Valion wünschte sich, er könnte die Wand zwischen ihnen nieder reißen. Wie sollte er Jan trösten, wenn er nur seine Stimme hören konnte? „Jan...“, begann er, aber die Stimme versagte ihm. Vielleicht gab es jemand, der wortgewandt genug war, allein mit Worten das zu tun, wofür man eigentlich eine Umarmung benötigte. Aber Valion war es nicht.
„Wir haben... die Kühe getötet... verbrannt und einen Haufen Geld verloren... aber es war zu spät“, erklärte Jan abgehackt. „Am Ende flohen fast alle vom Hof... krank oder gesund.“ Er schniefte, atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, dann sagte er: „Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht krank. Aber ich sah keine andere Möglichkeit als wegzugehen, ich kratzte alles zusammen was noch da war und hab die Händler angebettelt, dass sie mich mitnehmen. Ich will das Geld zurück verdienen. Ich kenne den Preis für einen Sklaven, weißt du? Wenn mich irgendjemand kauft, kann ich das Geld meiner Familie schicken, und sie können den Schaden wieder gut machen. Sie könnten von vorn anfangen! Es kann doch nicht alles verloren sein, verstehst du? Das ist das Erbe meines Urgroßvaters... meines Großvaters...“ Jan atmete schluchzend aus, aber er schien jetzt ruhiger, so als hätte das Aussprechen seiner Geschichte ihm etwas Frieden gegeben. Aber kurz darauf setzte der bellende Husten wieder ein, tief aus der Brust. Er röchelte, spuckte und war einen Moment still.
Er jagte Valion einen Schauer über den Rücken, als er leise sagte: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.“