„Singend öffnet der Sieg uns das Tor. Die Freiheit lenkt unsere Schritte. Und von Nord nach Süd hat die Kriegstompete...“ Jemand sang. Es war eine leise, aber kräftige Mädchenstimme, und eine Hand berührte ihn an der Wange. Valion stöhnte und erwachte aus einer wirren Abfolge von Träumen. Seine Schulter schmerzte, und er wollte nach der Stelle tasten, aber der Gesang endete abrupt und seine Hand wurde festgehalten. Er sah auf zu Arinda, die heftig den Kopf schüttelte. „Nicht, Val!“, sagte sie ernst. „Mama hat gesagt du darfst sie nicht anfassen!“
Schlagartig kam alles zurück, was in der Nacht geschehen war. Seine Schulter schmerzte, weil er gebrandmarkt worden war, und danach war er ohnmächtig geworden. Jemand musste ihn in sein Bett gebracht haben. Valion blinzelte und versuchte seine Augen an das Licht zu gewöhnen. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Kälte der Nacht war verflogen, es musste fast Mittag sein.
„Ist er aufgewacht?“, fragte Mila ihre große Schwester und kam zu seinem Bett. Ihre kleine, immer schmutzige Hand tastete vorsichtig nach Valion und strich über sein Haar, und er umschloss sie mit seiner eigenen, viel größeren Hand und nickte. „Ja, das Lied hat mich geweckt“, murmelte er und gähnte. „Was hast du da gesungen?“ Arinda zuckte nur mit den Schultern, ein bisschen trotzig. „Mama singt es manchmal wenn sie denkt, dass niemand da ist der zuhört. Sie hat gesagt wir sollen dich aufwecken, aber vorsichtig, also nicht auf dir herum springen oder so.“ Valion schmunzelte, obwohl ihm gar nicht danach war. Arinda konnte ein echtes Raubein sein. Sie weckte schlafende Menschen am liebsten schnell und gründlich durch energisches Zerren an der Bettdecke oder im Zweifelsfall der schlafenden Person selbst.
„Es heißt aber Trompete, nicht Tompete“, erklärte er und rappelte sich in den Sitz auf. Irgendjemand hatte seine Schulter komplett verbunden, nachdem er ohnmächtig geworden war. Prüfend fuhr er mit der Hand über die sauberen Binden und bewegte vorsichtig die Schultern, aber das ließ er schnell wieder sein. Der Schmerz, der beim Erwachen noch erträglich gewesen war, flammte jetzt wieder auf, und als Dreingabe zu dem heißen Brennen schien auch jeder einzelne Muskel in seinem Körper wund. Er fragte sich einen Moment, ob all das nur eine Folge seiner Verbrennung war, aber dann fiel ihm ein, dass er schon vor seiner Brandmarkung einiges abbekommen hatte, beim Kampf gegen Eraviers Schläger.
Valion erwog für einen Moment, die Binden abzunehmen, aber vermutlich war das eine schlechte Idee. Der Verband war außerdem beweglich genug, dass er ihn problemlos unter der Kleidung tragen konnte. Es war sicher besser, wenn er einfach aufstand und sich gleich anzog.
Arinda schien zu erraten, was er vorhatte und reichte ihm ein Hemd. „Das hat Mama bereit gelegt, als du rein getragen wurdest. Sie sagt, mehr sollst du erstmal nicht anziehen“, erklärte sie. Vorsichtig erhob Valion sich vom Bett. „Was ist eine Trompete?“, fragte Mila unvermittelt, ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie wieder einmal in ihren Grübeleien versunken gewesen war. Es fiel ihr immer schwer ein Thema fallen zu lassen, wenn es sie interessierte. „Keine Ahnung, irgend so ein Gewehr bestimmt.“, sagte Arinda im Brustton der Überzeugung, dann sang sie: „Und von Nord nach Süd hat die Kriegstrompete das Signal zum Kampfe geschmettert!“ Valion schüttelte den Kopf und streifte sich sein Hemd langsam über. „Nein, eine Trompete ist ein Musikinstrument“, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Warum sang seine Mutter solche Lieder? Hatte er irgendetwas nicht bemerkt, das hier schon seit langem vor sich ging? Wenn er darüber nachdachte, wie sorglos er noch vor zwei Tagen gewesen war, wie wenig er von der Welt gewusst hatte und wie wenig ihn alles kümmerte, gestand er sich ein, dass das gut sein konnte. Es war, als wäre er eingeschlafen und an einem anderen Ort, in einem anderen Land aufgewacht.
Mila unterbrach seine Grübeleien, als sie fragte: „Hat jemand im Dorf eine Tom... Trompete?“ Valion lachte, obwohl es weh tat. „Ich glaube nicht. Aber Grinar hat sich mal eine Art Tröte selbst gebaut...“ Er brach ab, er konnte nicht sprechen und sich aufs Anziehen konzentrieren. Jede Bewegung jagte neue, pochende Schmerzen durch seinen Arm und den Oberkörper, aber das durfte er nicht zeigen, nicht gegenüber Mila und Arinda. An ihren besorgen Blicken sah er jedoch, dass er sie kaum täuschen konnte, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die vielen kleinen Notlügen und Vereinfachungen, die man Kindern erzählte, bei ihnen nicht mehr wirken würden.
In diesem Moment konnte er seine Mutter gut verstehen, die ihn manchmal wehmütig anblickte und mit einem Seufzen verkündete, dass er erwachsen wurde. Dieses Gefühl beschlich ihn immer öfter, wenn er er seine Schwestern beobachtete. Dabei hatte er beide als Kleinkinder zwar hin und wieder gehalten und gefüttert, aber damals waren sie ihm noch unendlich langweilig vorgekommen. Bei Milas Geburt war elf Jahre alt, und wenn er auf seine Schwestern aufpassen musste, opferte er die Zeit, die er sonst draußen mit seinen Freunden beim Spielen und Raufen verbracht hätte. Erst als die beiden nicht mehr ständig am Rockzipfel seiner Mutter hingen, hatte er begonnen eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Das Erstaunen und die Ehrfurcht, mit der sie ihn und seinen Vater betrachteten, war ihm zunächst lästig gewesen, aber irgendwie war er mit der Zeit in die Rolle des großen Bruders hinein gewachsen. Jetzt sah er sich damit konfrontiert, dass die Mädchen eines Tages aus dieser Beziehung herauswachsen würden. Die beiden würden nicht immer einen Beschützer brauchen, der ihre aufgeschlagenen Knie versorgte oder sie abends zu Bett brachte. Eine Andeutung davon sah er bereits jetzt, in der Art, wie sie ihn betrachteten, und gleichzeitig zeigte es, wie unterschiedlich sie trotz der identischen blonden Wuschelhaare und Stupsnasen waren.
Arinda runzelte die Stirn und sah bekümmert, aber auch wütend aus. Sie war neun und der Überzeugung, jetzt erwachsen zu sein und über alles Bescheid zu wissen. „Es tut weh, oder?“, fragte sie streng und fügte hinzu: „Mama hat mir alles erzählt, aber vor Mila sollen wir nicht darüber reden, weil sie zu klein ist!“ Valion unterdrückte ein Schmunzeln und widersprach nicht, obwohl er genau wusste, dass seine Mutter natürlich nur einen Bruchteil von dem erzählt hatte, was vorgefallen war. Aber es war einfacher, Arinda das Gefühl zu geben Mila einen Schritt vorraus zu sein, es bestätigte sie in ihrer Rolle als große Schwester. Vor Mila wiederum blieb einfach nichts verborgen. Ihr wohnte eine Wissbegier und Auffassungsgabe inne, die jeden in Verlegenheit bringen konnte, und dazu machte sie gern lange Ohren. Auch diesmal schien sie wieder mitgehört zu haben, denn sie piepste empört: „Bin ich nicht! Und außerdem war ich ja selbst dabei! Und dass dieser Eravier in seinem komischen Lager-“ Arinda unterbrach sie an Valion gewandt: „Siehst du, das darf sie gar nicht wissen!” Sie fixierte Mila böse, die unbehaglich einen kleinen Schritt rückwärts machte, und fragte drohend: „Hast du etwa wieder gelauscht? Mama hat’s dir verboten! Und das erzähle ich ihr auch!“ „Petze!“ „Schnüffelnase!“ „Selber Nase!“
„Ich gehe jetzt nach unten“, sagte Valion deutlich, was die erhoffte Wirkung hatte, denn die Mädchen unterbrachen ihr Wortgefecht. Arinda sagte: „Aber Mama redet noch mit den anderen, und wir dürfen sie nicht stören, hat sie gesagt! Wir sollen erst kommen, wenn sie ruft.“ Valion stutzte. „Welche anderen? Worüber reden sie?“ „Sie sagen, dass du fortgehen musst, weil Eravier uns sonst mitnimmt.“, platzte Mila heraus, „Musst du wirklich mit ihm mitgehen?“
Valion starrte sie sprachlos an. Was sollte er dazu sagen? Er konnte kaum widersprechen, ohne dabei wie ein Lügner zu wirken, dazu hatten die zwei viel zu viel gehört und sich selbst zusammengereimt, doch gleichzeitig sträubte sich alles in ihm, ihr zuzustimmen. Vielleicht, weil er es selbst noch nicht verinnerlicht hatte?
Ja, er musste fort, schon heute. Er musste alles zurück lassen. Und zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewusst, dass er nicht nur dieses Haus verlassen würde, sondern auch die Menschen, die darin lebten. Seine Mutter, die in guter Stimmung alle zum Lachen bringen konnte. Seinen Vater, der seine Schwester manchmal beide gleichzeitig hochhob um zu beweisen, wie stark er war, und niemals jemand im Stich ließ. Arindas naseweise Ratschläge und dass sie sich manchmal so sehr mit ihm raufte, bis sie beide blaue Flecke hatten und wie verrückt lachten. Oder Mila, deren Kopf ein großer, schillernd bunter Irrgarten voller seltsamer Ideen und Vorstellung war und die immer alles wissen musste. Er wollte nicht gehen, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, seine Familie nicht bei sich zu haben. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu, nahm ihm jegliche Atemluft.
Er wollte nicht weinen, nicht vor seinen kleinen Schwestern. Er wollte nicht, dass sie sich fürchteten, oder dass sie sich Sorgen darum machten, was aus ihm wurde. Irgendwann, wenn sie alt genug waren, würden sie erfahren, was wirklich passiert war, was aus ihm geworden war, und das würde schwer genug sein. Aber er konnte weder seine Tränen aufhalten, noch den Schmerz verbergen.
Milas Gesicht wurde sofort schuldbewusst, und Arinda rief ärgerlich: „Oooh Mila, du bist so blöd! Ich hab dir gesagt, dass du das nicht fragen sollst!“ „Aber ich dachte doch nicht, dass er w-weint!“, schniefte Mila jetzt selbst. Sie konnte niemand weinen sehen, ohne selbst in Tränen auszubrechen, noch nie. „Es tut mir Leid!“, heulte sie und tappte auf ihren Bruder zu, der sich zurück auf sein Bett setzte und sie bereitwillig in den Arm nahm. Natürlich füllten sich Arindas Augen jetzt auch mit Tränen, obwohl sie wie immer versuchte die große, erwachsene Schwester zu sein. Aber Valion streckte die Hand aus und nahm sie einfach mit in den Arm, und sie da gab auch sie ihren Widerstand auf.
„Ich will nicht, dass du weg gehst, Val“, schluchzte Mila und krallte ihre Hand in sein Hemd. „Ich auch nicht“, sagte Valion heiser und streichelte ihren Kopf. Arinda weinte stumm, den Kopf an seine Schulter gebettet, und umklammerte seinen Arm. Ihr Schmerz war lautlos, sie hatte die Augen schlossen, und nur ihr Gesicht zeigte, dass sie litt. Er streichelte ihre nasse Wange und wünschte, dass er etwas hätte sagen können, das ihr half damit fertig zu werden. Aber das konnte er ja noch nicht einmal selbst.
Es dauerte eine Weile, bis er sich besser fühlte, aber es war auch gut so. Er wusste, dass es ein Abschied von vielen war, und umso fester hielt er die beiden in seinen Armen und versuchte, sich diesen Moment einzuprägen. Die Art, wie die Sonne durch das Fenster schien und ihr Haar zum Leuchten brachte. Die großen, blauen Augen. Die kleinen, dünnen Arme, die ihn festhielten, und die bedingungslose Liebe. Und das Wissen, dass sie ihn vermissen würden, so schmerzhaft es auch war.
Als die Tränen versiegten, fühlte er sich sauberer, mehr wie er selbst. Der Schrecken des letzten Tages hatte ihn gelähmt, aber seinen Kummer zu teilen hatten den Schatten der über ihnen lag zumindest für einen Moment vertrieben.
Er trocknete Milas nasses Gesicht sanft mit seinem Ärmel, etwas, das er schon oft getan hatte, und musste lächeln. Es gab ihm das Gefühl von Stärke und Handlungsfähigkeit zurück, sich so um sie zu kümmern. Mila ließ es sich gefallen, während sich Arinda selbst energisch das Gesicht rubbelte, als wollte sie die Traurigkeit abreiben. Ihre Nase wurde davon ganz rot.
„Mama hat gesagt, dass wir uns keine Sorgen machen sollen“, erklärte Mila mit wässriger Stimme, während sie sich abtrocknen ließ, „Aber mache ich mir auch nicht.“ „Warum?“, fragte Valion. „Weil“, sie unterbrach sich und holte tief und schluchzend Luft, „... du doch zurück kommst. Zu Besuch, oder?“ Valion nickte, obwohl er nicht wusste, ob das überhaupt möglich war. „Aber bald!“, forderte Mila. „Wie soll er das denn versprechen, wenn er gar nicht weiß, wo er hingeht?“, fragte Arinda und suchte wie so oft ihre Zuflucht lieber in Ärger als in Traurigkeit, „Er könnte ja sonst wohin fahren mit diesem Eravier! Bis... bis in ein anderes Land!“ Mila stutzte. „Stimmt“, gestand sie, brauchte aber nicht lange, um sich von diesem Schlag zu erholen. „Aber der wohnt gar nicht in einem anderen Land! Mama hat gesagt sie fahren in die Stadt!“ „Weißt du denn, wie weit das weg ist?“ „Nein! Du etwa?“
Das konnte noch eine Weile so weitergehen, wenn sich die beiden erst einmal an einem Thema festgebissen hatten. Valion entschied, sie jetzt allein zu lassen. „Bleibt hier oben. Ich rede jetzt mit Mutter“, sagte er und erhob sich vom Bett. „Aber wir sollten doch-“, wandte Arinda ein, doch Valion unterbrach sie: „Ich kann nicht länger warten. Ihr bleibt hier.“ Mila nickte und setzte sich folgsam auf sein Bett. Arinda wollte erst widersprechen, verschränkte aber dann trotzig die dünnen Arme und sah aus dem Fenster, normalerweise das Signal dafür, dass sie sich widerwillig mit etwas abfand. Valion warf den beiden einen letzten Blick zu, dann verließ er leise den Raum.
Er war kaum aus der Tür getreten, da hörte er schon die Stimmen. Jemand schien zu diskutieren, leise, aber energisch. Von seiner Position aus konnte er allerdings nichts sehen, dazu hätte er zwei Schritte in Richtung der Treppe machen müssen, um in den Hauptraum ihrer Hütte hinab spähen zu können. Er beschloss, sich ausnahmsweise ein Beispiel an Mila zu nehmen und zu lauschen.
Was ging dort unten vor? Er erkannte die Stimmen seiner Mutter und seines Vaters, aber es schienen zwei Männer bei ihnen zu sein, die er nicht einordnen konnte, außerdem eine alte Frau und ein Mann aus dem Dorf, deren Stimmen er wegen des Flüstertons nicht erkannte. „Aber was haben wir davon, ihn im Unklaren zu lassen?“, fragte seine Mutter gerade. Eine dunkle Stimme, die er nicht kannte und die ihm dennoch vage bekannt vorkam, murmelte: „Ich bin der selben Ansicht. Er würde damit zurecht kommen, er ist zäh.“
Die alte Frau schnaufte abfällig, und die dunkle Stimme fügte versöhnlich hinzu: „Auch wenn er ohnmächtig geworden ist, ja. Im Grunde ist es ein Wunder, dass er die Brandmarkung überhaupt überlebt hat.“ Valion begriff, dass es um ihn ging. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt“, gab eine fremde, junge Männerstimme zu bedenken. „Eravier ist misstrauisch, erst Recht seit Glivant. Er weiß, dass die Rebellion die Sklaven erreicht hat. Der kleinste Hinweis, dass euer Sohn eingeweiht ist, könnte ihn das Leben kosten. Wir sollten abwarten, bis Eraviers Verfolgungswahn nachlässt.“ „Warum können wir ihn nicht einfach aus allem heraus halten?“ Das war die müde Stimme seines Vaters. Auch diese Worte quittierte die alte Frau mit einem Schnaufen. „Du hast deine Bitten verwirkt, Ebran. Wir haben versucht, von ihm abzulenken, aber eure eigene Dummheit hat diesen Vorteil zunichte gemacht. Jegliche Gegenmaßnahme wäre zu gefährlich, für uns, und für die anderen“, schalt sie ihn leise, und jetzt konnte Valion die Stimme zuordnen. Sie gehörte zu Melva, der Witwe, die zurückgezogen am Rande des Dorfes lebte.
Alle, selbst versöhnliche Menschen wie Valions Mutter, nannten sie ein böses altes Weib. Es war bekannt, dass sie für niemand ein gutes Wort hatte außer für ihre wenigen Hühner und ihren alten, zahnlosen Hund. Wenn sie mit ihrem großen, schweren Stock durch das Dorf humpelte, wich ihr jeder der klug genug war sofort aus, sonst setzte es Stöße und böse Worte. Warum war sie dort unten? Alles wurde immer rätselhafter.
Valion verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und hätte am liebsten geflucht, als die alten Bodendielen laut knarrten. Sofort herrschte Totenstille im Raum unter ihm. „Was war das?“, fragte jemand leise, und Valion beschloss, dass er seinen Lauschposten jetzt aufgeben musste, wenn er nicht schrecklichen Ärger bekommen wollte. Er ging zur Treppe und stieg sie langsam hinunter, wobei er sich bemühte nicht den Eindruck zu machen, herum zu schleichen. „Ich bin es nur“, sagte er leise, und trat von der letzten Stufe hinab. Seine Mutter antwortete ebenso leise: „Ja, bitte komm hierher.“ „Er sollte nicht hier sein“, schalt Melva sie, aber sie zuckte nur mit den Schultern.
Sie waren tatsächlich zu sechst. Seine Mutter und sein Vater saßen blass und abgespannt auf der Holzbank vor dem Küchentisch. Das Gesicht seiner Mutter war stark angeschwollen, aber jemand schien ihre Nase gerichtet und den Arm seines Vaters geschient zu haben. Neben ihnen saß Melva auf einem Schemel, den Stock vor sich aufgestützt. Sie wirkte weniger griesgrämig als sonst und musterte ihn mit einem wachen, abschätzenden Blick. Neben ihr stand Grinar, der Schmied des Dorfes, und hob stumm die Hand zum Gruß. Die zwei Fremden, die nahe der Tür standen und immer wieder Blicke durch die Fenster warfen, trugen Kapuzenmäntel, die das Meiste ihres Gesichts und ihrer Kleidung verbargen. Einer der beiden war von schmalem Wuchs, vermutlich gehörte die jüngere Stimme zu ihm. Er hatte den Blick abgewandt, schien den Augenkontakt mit Valion bewusst zu meiden und zog die Kapuze noch weiter ins Gesicht. Valion wandte sich dem anderen zu, ein großer, bärtiger Mann. Er stand mit verschränkten Armen da und betrachtete Valion genau, und dabei schien sein Blick auffällig auf seiner Schulter zu ruhen. Valion beschlich ein Verdacht, die Stimme des Mannes war ihm bekannt vorgekommen.
„Tarn?“, fragte er leise, und Tarn nickte bestätigend. Sein Begleiter zuckte zusammen. „Woher weiß er deinen Namen?“, verlangte er zu wissen, aber Tarn winkte ab. „Von Eravier. Und ich habe Valion für die Brandmarkung vorbereitet. Danach würdest du mich auch kennen.“ „Du hättest etwas sagen sollen“, erklärte der andere gereizt, „Es ist ein Risiko, dass du jetzt mit uns hier bist.“ „Eravier hat mir schon gestern befohlen mich weiter um ihn zu kümmern, also beruhige dich“, sagte Tarn und wandte sich wieder Valion zu. „Wenn wir schon beim Thema sind, wie geht's der Schulter?“, fragte er. „Nicht besonders“, antwortete Valion wahrheitsgemäß. Für einen herrlichen Moment, während er konzentriert gelauscht hatte, hatte er sie ganz vergessen, aber jetzt, nachdem er daran erinnert worden war, waren die Schmerzen zurück. „Es war nicht geplant, dass Eravier dich selbst brandmarkt, das kannst du mir glauben. Der Idiot hätte dich fast umgebracht“, erklärte Tarn grimmig.
„Geschwätz, Geschwätz“, schalt Melva die beiden, und schlug mit dem Stock ungeduldig auf den Boden. „Wir sind nicht hier, um Höflichkeiten auszutauschen! Unsere Zeit ist fast abgelaufen, das wisst ihr alle. Wir stimmen ab, der Grünschnabel natürlich nicht.“ Valion wollte fragen, was das alles sollte, aber seine Mutter trat zu ihm, zog ihn zu sich auf die Küchenbank und gebot ihm zu Schweigen. „Bleibt es bei dem, was wir zuerst besprochen haben? Hand hoch.“ Grinar und der Fremde unter der Kapuze hoben die Hand, Melva ebenso. Tarn schien zu zögern, hob dann aber ebenfalls die Hand. „Bis auf weiteres zumindest”, erklärte er, was ihm einen grimmigen Blick von Melva einbrachte, bevor sie verkündete: „Dann ist es beschlossen!“
„Wir können ihn nicht völlig im Unklaren lassen“, sagte Valions Mutter leise, doch die Alte schüttelte nur unwillig den Kopf. „Es ist beschlossen, und dieses Treffen ist hiermit beendet. Wer in diesem Haus nichts zu suchen hat, sollte es so schnell wie möglich verlassen. Wir sind in ständiger Gefahr entdeckt zu werden, das sollte euch doch klar sein.“ Damit erhob sie sich ächzend und humpelte zur Tür, warf einen prüfenden Blick durch alle Fenster und verließ dann das Haus. Grinar und der andere Fremde folgten ihr auf dem Fuße.
Nur noch Tarn und seine Eltern blieben zurück. Valion wandte sich Hilfe suchend zuerst seiner Mutter und dann seinem Vater zu, doch ihre Gesichter blieben verschlossen. „Was sollte das alles?“, fragte Valion verwirrt, „Warum waren sie hier?“ Seine Mutter schüttelte nur den Kopf. „Lass dich von Tarn untersuchen, dann pack’ deine Sache zusammen. Du hast nicht mehr viel Zeit.“ „Mutter...“ „Hörst du nicht, was ich gesagt habe?“, unterbrach sie ihn wütend, stand auf und lief aus dem Haus. Sein Vater erhob sich schwerfällig, seufzend. „Ich werde ihr nachgehen.“ An Tarn gewandt sagte er, mit deutlichem Ärger und Resignation in der Stimme: „Tut, was getan werden muss, und dann verschwindet. Ihr seid in meinem Haus nicht mehr willkommen. Niemand von euch. Ihr habt versagt.“ Dann schlurfte er, müde und gebeugt, den gebrochenen Arm haltend, aus der Tür.
Valion ließ sich schwer zurück auf die Holzbank sinken und verbarg sein Gesicht in den aufgestützten Händen. Alles um ihn drehte sich. Was war hier gerade passiert? Menschen, von denen er die meisten nur oberflächlich oder gar nicht kannte, hatten gerade über etwas abgestimmt, das vermutlich auch ihn betraf und das er nicht begriff. Es bestand eine Verbindung zwischen Melva, Grinar, seinen Eltern und den Menschenhändlern, aber er verstand überhaupt nicht, welche das sein sollte.
„Valion.“ Er erinnerte sich, dass Tarn immer noch im Raum war. Er hatte seinen Mantel abgelegt, und die Ärmel seines Hemdes hoch gerollt. Verzweifelt sah Valion zu ihm auf, öffnete den Mund um eine Frage zu formulieren, und hielt sich dann selbst zurück. „Ich bekomme sowieso keine Antworten, oder?“, fragte er stattdessen verzweifelt. „Das kommt darauf an, welche Fragen du stellst“, antwortete Tarn gleichmütig, während er ein sauberes Tuch aus seiner Tasche nahm, auf dem Küchentisch ausbreitete und dann begann, ein paar Büschel Kräuter und einige Gegenstände bereitzulegen. „Aber ich muss deine Schulter untersuchen. Zieh’ dein Hemd aus.“
Es kam Valion wie eine große Ironie vor, dass er das Hemd, in das er sich so mühsam hinein gequält hatte, wieder ausziehen musste. Er schälte sich langsam und vorsichtig heraus, während Tarn heißes Wasser, das Valions Mutter vermutlich schon eher auf dem Herd bereitet hatte, in eine Schale goss und einige getrocknete Pflanzenteile beimengte. Als letztes holte er eine tönerne Flasche hervor und goss eine Flüssigkeit hinzu, die nach Alkohol und scharfen Kräutern roch. Valion erinnerte sich an den Geruch, und er jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Seine Schulter war damit abgerieben worden, kurz vor seiner Brandmarkung.
„Was ist das?“, fragte er skeptisch, endlich von seinem Hemd befreit, und Tarn lachte. „Das ist also deine erste Frage? Medizin, ein Familienrezept. Mein Vater hatte die Verantwortung für ein paar wirklich schöne, wertvolle Pferde, weil er den Stall eines Fürsten führte, und für sie kam nur das Beste in Frage.“ Er begann mit geübter Hand, den Verband um Valions Schulter abzunehmen. Vermutlich war er derjenige gewesen, der ihn zuerst angelegt hatte. Dabei sprach er ruhig und freundlich weiter, und Valion konzentrierte sich auf das Zuhören, weil es den Schmerz ausblendete.
„Diese Pferde hatten nicht viel auszustehen außer ein paar Ausritte und Jagden, aber wenn sie sich verletzten und die Wunde sich entzündete, dann rührte mein Vater dieses Zeug zusammen, und alles verheilte innerhalb von Tagen.“ Valion verzog das Gesicht. „Ich bin aber kein Pferd.“ Tarn schmunzelte und erklärte: „Egal ob Pferd oder Mensch, die Wirkung ist bei beiden fast gleich. Und keine Angst, es wurden schon viele vor dir damit behandelt, natürlich auch Menschen. Mein Vater verkaufte alles, was er übrig behielt, an die Diener des Fürsten und die Leute aus dem Dorf. Das Zeug war ziemlich beliebt, für alles Mögliche. Manche behandelten Verbrennungen und Schnitte damit. Manche gurgelten damit um einen wunden Hals zu kurieren. Obwohl ich nicht empfehlen kann, etwas davon zu trinken.“ „Warum?“, fragte Valion, der bisher nur Erfahrung mit sehr schwachem Bier und hin und wieder Wein gemacht hatte. „Der Rauschzustand ist ziemlich stark, und ein paar Leute meinen, sie hätten danach komische Dinge gesehen, was mich bei der Liste an Zutaten nicht wundert. Aber manche wollten es nur deshalb trinken, bis jemand im Wahn vom Heuboden fiel. Das war's dann für ihn, und ich glaube das hat die meisten von dieser Idee kuriert. So, lass uns das ansehen.“
Er hatte alle Binden gelöst und entfernte vorsichtig die inzwischen trockene Wundauflage. Valion sog scharf die Luft ein, als sich der Stoff von der Haut löste und kühle Luft darüber strich, aber der Schmerz ließ schnell wieder nach und kehrte zurück zu dem anhaltenden Brennen.
Tarn schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Dachte ich mir“, brummte er, „gestern im Dunkeln war es nicht so gut zu sehen, aber er hat das Eisen eindeutig zu lange auf deiner Haut gelassen. Du hast Glück, dass du noch lebst. Ein paar Momente mehr, und die Verbrennung wäre vielleicht zu tief geworden.“ „So schlimm sind die Schmerzen gar nicht“, erklärte Valion verwirrt. „Ja, weil ich die Verbrennung ziemlich großzügig betäubt habe“, stellte Tarn sachlich fest. „Es wird lange dauern, bis das ausheilt, und ziemlich scheußlich aussehen.“ „Was soll das heißen?“, fragte Valion, mühsam die Aufregung unterdrückend. Bedeutete es das, was er dachte?
Tarn tränkte ein frisches Tuch in dem Sud und begann methodisch, Valions Wunde abzutupfen und betrachtete sie dabei von allen Seiten. Er war vorsichtig, und trotzdem zuckte Valion bei jeder Berührung zusammen. Dann sagte er mit Bestimmtheit: „Niemand wird hier jemals ein E erkennen können. Das wird eine große, unförmige Narbe.“ Er schien überrascht, als Valion erlöst auflachte. „Der Gedanke gefällt dir? Eravier wird ziemlich wütend sein. Und egal ob gebrandmarkt oder nicht, bist du jetzt sein Eigentum.“
Wie sollte Valion das erklären? Es erschien ihm wie Gerechtigkeit. Er hatte an diesem Abend Qualen gelitten, die er nie gekannt hatte, und für einen Moment war es ihm erschienen als hätte die Brandmarkung sein früheres Leben unwiderruflich von ihm getrennt. Das war schließlich Eraviers Absicht, Valion sollte ein Sklave werden und ihn als seinen Besitzer akzeptieren. Dass ein Teil dieses Vorhabens fehlgeschlagen war, egal, welche Narben er davon trug, schien wie ein Zeichen, dass es nicht so einfach sein würde, ihn aus seinem alten Leben heraus zu reißen und in jemand völlig neuen zu verwandeln.
Aber all diese Gedanken ließen sich unmöglich ausdrücken, nicht hier, vor einem völlig Fremden. Dazu fehlten ihm jetzt die Worte. Er sah nur zu Tarn auf, der ein anderes Stück Stoff tränkte und sorgfältig auf die Wunde auflegte. „Schon gut“, sagte Tarn sanft, „Ich kann mir schon denken, dass es dich erleichtert. Halte das Gefühl fest. Noch bist du nicht besiegt.“
Das war nicht das, was Valion erwartet hatte zu hören, und er betrachtete Tarn nachdenklich und zum ersten Mal genauer. In der Masse der Männer, die sie gestern Abend umringt hatten war er wegen seiner Statur nicht aufgefallen. Er war groß und auch muskulös, und sein dichter, dunkler Bart ließ ihn älter und bedrohlicher wirken, als er wirklich war. Deshalb war Valions erster Eindruck von ihm der eines Schlägers gewesen, ein bloßer Handlanger, genauso grob und feindselig wie alle anderen. Aber die Situation und das kalte graue Mondlicht mussten ihn getäuscht haben. Valion war sich inzwischen sicher, dass Tarn an diesem Abend gegen niemand die Hand erhoben hatte und vermutlich nur anwesend gewesen war, um die Brandmarkung auszuführen. Der freundliche Ton, der wachsame Gesichtsausdruck, die hoch gerollten Ärmel und der geschickte Umgang mit seinem Werkzeug brachten Valion zu der Überzeugung, dass er die meiste Zeit als Arzt, vielleicht auch als Veterinär arbeiten musste.
Je mehr er ihn betrachtete, desto weniger konnte er seine Person mit der Tatsache in Einklang bringen, dass er ein Gehilfe Eraviers war. Er schien ein guter Mensch zu sein.
„Warum arbeitet ihr für Eravier?“ Valion überraschte nicht nur Tarn mit der plötzlichen Frage, sondern auch sich selbst. Tarn schwieg kurz, dann fragte er: „Spielt das eine Rolle?“ Er griff nach frischen Binden, um das getränkte Stofftuch über der Wunde zu fixieren, aber Valion hielt seine Hand fest und zwang ihn damit, zuzuhören.
„Für mich schon! Ich weiß überhaupt nicht mehr, wem ich trauen soll! Meine Eltern und Melva und Grinar wissen irgendetwas, und sie haben euch und dem anderen vertraut, aber wieso? Sie sollten euch hassen, euch nicht einmal ins Haus lassen, wenn ihr für Eravier arbeitet! Das ergibt alles keinen Sinn! Ihr habt über Pläne gesprochen und über Dinge abgestimmt als … ich weiß nicht, als wärt ihr eine Gemeinschaft? Ich will wissen was hier vor sich geht!“
Tarn seufzte. „Es gibt einen guten Grund, warum man beschlossen hat, dich nicht einzuweihen“, sagte er. Valion wollte protestieren, doch Tarn schnitt ihm das Wort ab: „Du denkst vielleicht, dass es wie früher nur darum geht, dass du zu jung bist. Glaub mir, ich kenne dieses Gefühl, und du liegst falsch, verstanden? Es geht hier um dein Leben, und um das vieler anderer Menschen. Ich kann dir nur einen Bruchteil von dem sagen, was ich weiß. Du kannst jetzt zuhören, oder du kannst stur bleiben und wirst gar nichts erfahren.“ Er pausierte, abwartend, ob Valion fortfahren würde, ihm Fragen zu stellen, aber der hielt wohlweislich den Mund. Er erkannte ein Ultimatum, wenn es ihm gestellt wurde.
Tarn nahm seine Arbeit wieder auf, verband für eine Weile nur stumm Valions Schulter. Unvermittelt begann er: „Die Bedingungen verschlechtern sich für alle hier im Land, das weißt du vielleicht.“ Valion wollte etwas sagen, erinnerte sich dann aber daran, dass er ja keine weiteren Fragen stellen durfte. Das letzte was er wollte war Tarn wütend zu machen, doch entgegen seiner Erwartungen sagte der nachsichtig: „Ich habe dir nicht generell verboten zu sprechen, Valion. Du scheinst darüber schon Bescheid zu wissen.“ „Mein Vater hat mir davon erzählt. Erst...“ Er stolperte über die Zeitangabe. Das war gestern gewesen, obwohl in der Zwischenzeit so viel passiert war, dass es ihm wie Jahre vorkam. „... erst gestern hat er mir erklärt, dass wir immer mehr Abgaben zahlen, und dass viele zu arm sind dafür und alles verlieren“, begann er noch einmal. Tarn nickte und fragte: „Wie viele, denkst du, finden sich damit ab?“ Valion dachte darüber nach, auch über den Zorn, den er gestern empfunden hatte, als er die Verletzungen seines Vaters gesehen hatte. Die Ungerechtigkeit ihres Schicksals hatte ihn rasend gemacht. „Ich könnte es nicht“, gab er zu. „Du, und viele andere. Alle, die heute hier waren, sind sich darüber einig, dass etwas geschehen muss. Deshalb sind wir Rebellen, im Verborgenen, und wir sind nicht die Einzigen. Es ist nicht einfach gegen diejenigen vorzugehen, die das Land am schlimmsten schinden, aber wir bekämpfen sie im Verborgenen. Menschen wie Eravier. Und als eine Gemeinschaft unterstützen wir uns auch gegenseitig, wenn es nötig wird. Deshalb waren wir hier. Deine Eltern haben uns um Hilfe gebeten und versucht Eravier von dir abzulenken.“ Er machte eine Pause, dann fügte er leise hinzu: „Ich sage es nicht gern, aber dein Vater hat Recht: wir sind daran gescheitert.“
Valion hoffte, dass Tarn noch mehr sagen würde, und wenn es nur ein Anhaltspunkt war, was man mit ihm vorhatte und wie es weitergehen sollte, doch Tarn vollendete nur sein Werk und trat einen Schritt zurück. „Gestern konnte ich nicht fragen, aber heute machen wir es richtig: Beweg' deine Schulter, ganz langsam. Schneidet der Verband ein, hast du das Gefühl, keine Luft zu kriegen?“ Valion hob vorsichtig den Arm, beugte danach den Rücken. Es brannte nach wie vor, aber der Verband bereitete ihm keine zusätzlichen Schmerzen und beschränkte auch nicht seine Bewegungen. „Nein, es ist in Ordnung.“ Tarn nickte und wusch seine Hände mit den Resten des warmen Wassers, als jemand dreimal an die Holztür der Hütte klopfte. Niemand trat ein, sie hörten nur Schritte, die sich rasch wieder entfernten. Tarn seufzte. „Das war mein Zeichen, ich muss weg. Ich hab noch einiges zu tun, ehe wir aufbrechen.“ Valion konnte nur stumm nicken und half ihm beim Einsammeln seiner Ausrüstung. Schließlich war alles verstaut, und Tarn warf sich seinen Umhang über, zog die Kapuze ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Wie zuvor Melva spähte er durch die Fenster, bevor er die Tür aufstieß.
Unvermittelt überfiel Valion der Wunsch, dass er nicht gehen würde. Vielleicht lag es daran, dass er der einzige war, der offen zu ihm gewesen war. Tarn hatte ihn bisher nur freundlich behandelt, nie über seinen Kopf hinweg geredet, und jetzt da er gehen wollte, fielen ihm tausend Fragen ein, die er noch nicht gestellt hatte. „Wann sehen wir uns?“, fragte er hastig. Tarn wandte sich zu ihm um. „Heute nicht mehr. Jemand anders wird kommen, um dich abzuholen, das wurde schon heute morgen entschieden“, erklärte er. Er sah Valions beunruhigten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Keine Sorge, ich habe ein Auge auf dich, und du wirst das durchstehen. Du hast kaum eine andere Wahl.“ Er strich sich müde über die Augen, als hätte er an etwas gedacht, das er schnell wieder vergessen wollte. Valion nickte, aber gleichzeitig fiel ihm eine letzte Frage ein, und schnell stellte er sie, bevor es zu spät war: „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt warum ihr-“
Tarn unterbrach ihn: „Warum ich für Eravier arbeite, trotz allem?“ Valion konnte nur stumm nicken. Etwas sagte ihm, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, auch wenn er nicht wusste, wieso. Da war wieder dieser Ausdruck, eine sorgsam hinter dem neutralen Ausdruck verborgene Gefühlsregung, als er sagte: „Junge, ich glaube du hast noch nicht ganz begriffen, wie weit der Handel mit Menschen um sich gegriffen hat. Was denkst du, was du auf meiner Schulter findest?“ Valion klappte der Mund auf. Er hatte keine Sekunde damit gerechnet, aber Tarn nickte nur. „Richtig, ich bin ein Sklave, so wie du. Der Unterschied besteht nur darin, welche Aufgaben wir zu erfüllen haben.“ Das war alles, was er noch sagte, er wandte sich ab und verließ die Hütte.
Wie betäubt ging Valion hinauf in sein Zimmer. Es war leer, Mila und Arinda mussten sich irgendwann an einen anderen Ort geschlichen haben. Er war zu müde, um herauszufinden wo sie sich herumtreiben mochten. Der Schlafmangel der letzten Nacht, die Wunde und alles was er gehört hatte zehrten an seiner Kraft. Er packte einige Kleidungsstücke in ein kärgliches Bündel zusammen, dann legte er sich auf sein Bett und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Die Sonne stand tiefer, als er aufwachte, und er war allein. Er richtete sich auf und stöhnte gequält, als er unbedacht seine Schulter belastete. Wo waren alle geblieben? Es war still, nur der Wind rauschte in den Bäumen, und ein paar Grillen zirpten vor dem Fenster.
Er stand auf und warf noch einmal einen Blick auf das Bündel, das er zusammengepackt hatte, doch er fand nichts, was er hätte hinzufügen können. Im Grunde besaß er nicht viel außer den täglichen Gebrauchsgegenständen, und musste er die überhaupt mitnehmen? War es nicht wahrscheinlicher, dass er Kleidung, Essen und alles weitere von seinem Besitzer erhalten würde? Er wusste es nicht.
Unruhig lief er in seinem Zimmer hin und her, überlegte, ob er dieses oder jenes mitnehmen oder hier lassen sollte. Kurzentschlossen öffnete er seinen Schrank, der ohne die bereits eingepackten Kleidungsstücke seltsam leer wirkte, holte eine kleine Holzkiste hervor, in der er seine wenigen Besitztümer aufbewahrte und öffnete sie.
Da waren die zwei Holzfiguren, die sein Großvater geschnitzt hatte, ein paar gepresste Blumen, die wunderschöne Kohlezeichnung eines Vogels, die ein fahrender Händler auf der Rückseite eines Briefes hinterlassen und Valion geschenkt hatte, als er sie mit großen Augen bewunderte, und ein paar andere Dinge. Beim Betrachten der Gegenstände gestand er sich ein, dass die meisten im Grunde nichts wert waren und nur für ihn eine Bedeutung hatten. Manches hätte er gern mitgenommen, entschied sich aber dagegen. Im besten Fall hätte er die Sachen nur mitgeschleppt, im schlimmsten Fall hätte sie jemand in die Finger bekommen, der sie nicht zu schätzen wusste und vielleicht wegwarf.
Er grub weiter in der kleinen Kiste herum. Einiges, stellte er fest, gehörte ihm gar nicht, sondern war ihm von Mila und Arinda zur Aufbewahrung anvertraut worden. Zum Beispiel der teure Kamm mit den eingelegten rosafarbenen Steinsplittern, den Arinda von ihrer Großmutter vererbt bekommen hatte und jetzt noch nicht benutzen durfte, weil seine Mutter Angst hatte, sie würde ihn zerbrechen. Gleiches galt für den winzigen Spiegel, der Mila gehörte und in einem kunstvoll geschnitzten Holzrahmen steckte.
Valion nahm den Spiegel und betrachtete ihn, fuhr mit den Fingern die geschnitzten Vögel und Blüten nach, die ihn schmückten. Sein Spiegelbild beobachtete ihn dabei, sah ihn mit fragenden graublauen Augen an. Er sah blass aus, stellte er fest, müde und traurig. Wie oft hatte er sein Spiegelbild schon betrachtet? Er konnte sich vielleicht an vier, fünf Mal in seinem Leben erinnern. Es schien nicht notwendig zu sein, Zeitverschwendung. Er hatte eine Vorstellung von sich selbst, und egal wie akkurat oder nicht akkurat, er hatte kein Bedürfnis dieses Bild zu bestätigen oder zu korrigieren. Er fuhr sich durch das strubbelige, blonde Haare, das seine Mutter immer kurz schnitt, wenn es wieder begann seine Augen zu verdecken. Es war ihm egal, wie es aussah, er wollte, dass es ihm nicht die Sicht versperrte und im Winter seine Ohren wärmte, mehr erwartete er nicht.
Unwillkommen flüsterte die Stimme von Eravier in seinem Geist: Warum sind es immer nur die hübschesten von euch, die so viel Widerstand leisten?
Er krümmte sich innerlich. Hübsch? Er wusste nicht, ob das auf ihn zutraf. Er bestätigte gern, wie hübsch ein Mädchen oder ein Junge war, wenn einer seiner Freunde ihm davon vorschwärmte. Er bewunderte die Schönheit der Mädchen, wenn sie sich beim Dorffest die Haare mit Blumen schmückten oder flochten. Leuchtende Augen, ein fröhliches Lachen, sanfte weiche Hände, es gab vieles was er an anderen schön fand. Aber es hatte nichts mit ihm zu tun. Warum? Er wusste es nicht.
Vorsichtig legte er die Gegenstände in die Truhe zurück und stellte diese dann gut sichtbar auf sein Bett. Seine Schwestern würden sie sehen und verstehen, dass sie jetzt dafür verantwortlich waren, alles aufzubewahren. Vielleicht würde Arinda irgendwann sein Bett bekommen, oder sie würden einen Arbeiter aufnehmen, der Valions fehlende Arbeitskraft ersetzte und in seinem Bett schlafen durfte. Wenn Eravier Wort hielt, hatten sie bald genug Geld dafür. Der Gedanke, dass er ersetzt werden würde tat weh, aber was hatten seine Eltern für eine Wahl?
Er hätte vermutlich noch lange weiter gegrübelt, aber die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich und seine Mutter trat ein. „Val. Es ist soweit.“ Valion wandte sich zu ihr um und öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber dann brachte er doch nur ein Nicken zustande. Alles ging zu schnell, zu viele Fragen waren noch ungeklärt, aber er würde darauf vertrauen müssen, dass sich einfach alles fügte.
Als er aus der Tür trat, sah er die beiden Wächter, die gekommen waren um ihn abzuholen. Er wünschte sich Tarn herbei, es wäre einfacher gewesen, sich von ihm begleiten zu lassen. Die zwei, die jetzt vor dem Haus standen, waren grobschlächtige Kerle mit gemeinen Gesichtern.
Ein Stück entfernt von ihnen standen Mila und Arinda und wirkten verschüchtert, aber sie liefen zu Valion und umarmten ihn. „He, dafür ist keine Zeit mehr“, schnauzte einer der beiden Wächter, aber Valion ließ sich davon nicht beeindrucken. Er streichelte noch einmal über die Haare seiner Schwestern. „Wir dürfen nicht weiter mitgehen“, sagte Arinda und schien bitter enttäuscht. „Das ist auch besser so, glaub mir das“, sagte Valion, „Pass gut auf euch auf, verstanden? Wenn ich kann, dann besuche ich euch.“ Der andere Wächter, ein unfassbar hässlicher Kerl, lachte bei diesem Satz, und Valion überlegte für einen Moment eiskalt, ob er es darauf ankommen lassen und ihn schlagen sollte. Er war sich ziemlich sicher, dass die zwei den Befehl hatten, ihn nicht zu verletzen. Dann fiel ihm ein, dass dieser Befehl nicht für seine zwei Schwestern galt, und hielt den Mund. Widerwillig wandte er sich ab, umarmte auch seine Mutter noch einmal stumm, schulterte sein Bündel und ging los. Die zwei Wächter folgten ihm.
Während Valion ohne Hast den schmalen Weg von ihrem Haus zur Mitte des Dorfes entlang schritt, wurde er unablässig beobachtet. Er sah Nachbarn, Bekannte und Freunde seiner Eltern, alles Menschen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte. Sie alle starrten, manche offen auf der Straße, andere aus dem Schatten ihrer Häuser oder aus den Fenstern. Valion konnte es ihnen nicht verübeln. Niemand machte ein schadenfrohes Gesicht oder lachte. Sie wussten vage was geschehen war, und vielleicht fragte sich manch einer von ihnen, ob sie einem ähnlichen Schicksal entkommen waren. Er sah wenige der hübschen Mädchen und jungen Männer aus dem Dorf, und die, die ihn beobachteten hielten den Blick meist gesenkt oder spähten nur aus den Fenstern ihrer Häuser. Viele der Mädchen trugen trotz der Wärme Kopftücher, einige von ihnen hatten ihre Mütter oder Väter an der Seite, die sie zu bewachen schienen, als fürchteten sie, ihre Kinder könnten unbedacht auf sich aufmerksam machen und plötzlich ebenfalls in Eraviers Fängen landen.
Er konnte sie verstehen, das konnte er wirklich, aber gleichzeitig wünschte er sich, dass irgendjemand etwas tun, etwas sagen, ein letztes Mal zu ihm sprechen würde. Doch alle zogen sich furchtsam vor ihm und seinen Bewachern zurück. Es war ein einsamer Marsch bis zum Dorfzentrum. Auf dem großen Platz, umringt von Wächtern, standen die Wagen der Menschenhändler. Alle warteten.
Eravier war nicht zu sehen, genauso wenig wie die anderen Händler. Die Gesichter, die er sah, gehörten den Dienern, Wächtern und Wagenführern, die seinen Blick mieden. Einer der Wagen, das Schlusslicht des Zuges, schien für ihn bereitzustehen. „Da rein“, wies ihn der Wächter an. Valion schluckte. Er versuchte noch einmal in der stummen Menge der Dorfbewohner seine Freunde oder seinen Vater auszumachen. Nichts. Nicht einmal Gevin oder Nisha waren da, was ihn unglaublich traf. Diejenigen, die er ansah, zuckten zurück als hätte man sie bei etwas ertappt. Manche drehten sich um und gingen. Niemand kam auf ihn zu.
Das war es also. Er ging auf den Wagen zu, langsam und schleppend.
„Valion!“ Das war Varas Stimme. Valions Herz machte einen Satz, und ungläubig sah er zurück. Sie war es tatsächlich, mit rotem Gesicht, außer Atem, und sie schob sich durch die anderen Dorfbewohner, die sich nicht einig wurden, ob sie Vara fest halten oder vor ihr zurückweichen wollten. In ihrem Windschatten folgten Gevin und Teron, der aus irgendeinem Grund ein blaues Auge hatte, und schoben aus dem Weg, wer ihnen nicht Platz machen oder sie abhalten wollte.
„He, was wird das?“, hörte er einen der Wächter brüllen, aber es war Valion egal. Er ließ seinen Bündel fallen und stürmte auf seine Freunde zu. Er rannte sie beinahe um, war plötzlich zwischen ihnen in einer großen Umarmung. „Ihr seid hier“, flüsterte Valion fassungslos. Gerade eben hatte er sich damit abgefunden, dass niemand sonst ihn verabschieden würde, und jetzt waren sie fast alle hier.
„Es tut mir so leid, Valion“, sagte Vara, als sie Valion los ließ. „Unsere Eltern wollten uns nicht zu dir lassen. Ich habe wirklich alles versucht, gebettelt, aber sie hatten Angst, dass…“ „Dass sie dich auch mitnehmen?” Vara nickte wütend. „Und ich hatte eigentlich vor mit Gevin los zu ziehen und jemand ganz furchtbar zusammen zu schlagen”, erklärte Teron gewohnt großspurig, „aber das war dann wiederum unseren Eltern nicht geheuer. Mein Alter hat mir sogar eine verpasst.” Er deutete auf sein frisches Veilchen und verzog das Gesicht. Gevin nickte und schien sich schuldig zu fühlen. „Wir hätten viel eher kommen sollen, und jetzt ist es vermutlich zu spät, aber können wir nicht irgendetwas tun?” Valion schüttelte den Kopf. „Bitte versucht es gar nicht erst. Ihr wollte nicht wissen, was sie mit meinem Vater angestellt haben.” „Ehrlich gesagt wissen wir das schon”, sagte Gevin etwas unbehaglich. „Wir sind nur wegen ihm überhaupt hier.” Damit hatte Valion nicht gerechnet, und er musste ein ziemlich verdutztes Gesicht machen. „Was hat er getan?” Teron grinste und sagte: „Er ist bei unseren Eltern aufgekreuzt und hat sie so lange angebrüllt und geflucht, bis sie nachgegeben haben und uns gehen ließen. Meinen Vater hat er eine feige Ratte und einen Bastard genannt, und ihm dann für mein blaues Auge noch einen mitgegeben, trotz seines Arms! Das nenne ich mal eine starke Leistung!” „Es war fast ein bisschen unheimlich”, fügte Gevin hinzu. „Vermutlich kriegen wir nachher trotzdem noch einen Haufen Ärger, aber das hat sich gelohnt, denke ich”, ergänzte Vara. „Danke“, sagte Valion und meinte es aus tiefstem Herzen.
Plötzlich wurde er am Arm gepackt. „Das reicht jetzt!“, schrie ihn einer der Wächter an, und zerrte Valion mit sich. „Genug der Rührseligkeiten, wir haben auch noch was anderes zu-“ Er schrie auf und ging zu Boden, als ihm jemand ins Gesicht schlug. Wie aus dem Nichts war Valions Vater aufgetaucht. Fluchend hielt er sich die gesunde Hand, er hatte sich die Knöchel am Kinn seines Widersachers aufgeschlagen, aber er sah zum ersten Mal seit der letzten Nacht wieder wie er selbst aus, entschlossen und mutig. „Vater!“ Valion wusste nicht, was er sagen sollte, und beinahe hätte er dazu auch keine Gelegenheit gehabt, denn der andere Wächter sprang vor und wollte seinen Vater zu Boden werfen, aber Gevin stellte sich ihm in den Weg und rang mit ihm. Valions Vater fasste ihn fest an der Schulter und sah ihm noch einmal ins Gesicht. „Ich sage nicht Lebewohl, mein Junge“, sagte er heißer, „Weil wir Himmel und Erde in Bewegung setzen werden um dich zurück zu holen!“ Er umarmte seinen Sohn, dann schob er ihn von sich und gab ihm einen Stoß in Richtung seiner Freunde, und jetzt sah er auch, wen sein Vater in letzter Sekunde noch zu ihm gebracht hatte: Es war Nisha.
Sie hatte geweint, das sah man an ihrem geröteten Gesicht, und ihre wilden blonden Locken waren noch zerzauster als sonst, aber sie war genauso schön wie immer. Sie lief auf ihn zu und umarmte ihn so heftig, dass es weh tat, bevor sie sich von ihm löste und nach seinen Händen griff. Sie fanden beide kaum Worte, sich zu verabschieden, sahen sich nur an, bis Valion fragte: „Du gibst auf sie Acht, während ich weg bin?” Er nickte ihren Freunden zu, und das Beste war, dass er Nisha für diesen einen Moment noch einmal zum Lachen brachte. „Also für Teron würde ich keine Bürgschaft ablegen”, spottete sie, und so sah er sie am liebsten - fröhlich, ein bisschen bissig, sorglos, wenn auch nur für einen Augenblick. Er wollte etwas sagen, doch im nächsten Moment wurden die beiden getrennt. Weitere Wächter waren aus den Wagen gesprungen, sie zerrten Valion und Nisha auseinander, kesselten seine Freunde ein und drängten auch seinen Vater zurück, der nicht mehr widerstand, sondern nur seinen Sohn ansah.
Valion wurde regelrecht weg geschleift, er schaffte es gerade noch sein Bündel zu packen, dann wurde er in den Wagen gestoßen und dort zu Boden gedrückt. Ein Wächter, den er noch nicht gesehen hatte, schloss fluchend eine eiserne Schelle um sein Handgelenk und stürmte dann zurück nach draußen. Er erhaschte einen letzten Blick auf seine Freunde, die vor den Wächtern zurück wichen und wie Gevin seine blutende Lippe betaste. Valion glaubte, dass sich ihre Blicke einen Moment trafen und Gevin ihn tapfer angrinste, dann wurde die Plane des Wagens geschlossen und Valion sah nichts mehr. Er rappelte sich auf und versuchte einen Spalt zu finden, durch den er nach draußen spähen konnte, aber die Kette schränkte seinen Bewegungsradius zu stark ein. So hörte er nur noch einige unverständliche Rufe und das Knallen einer Peitsche, dann fuhr der Wagen mit einem Ruck an, und er ließ sein Heimatdorf hinter sich.