Als sie schließlich den Weg zurück zum Pestwagen einschlugen, war die Dunkelheit endgültig hereingebrochen. Irgendwo auf dem Weg hatten sich ihnen zwei Wächter angeschlossen, und Valion erkannte schließlich, dass sie tatsächlich auf ihn und Tarn gewartet hatten. Er war versucht, Tarn einen vielsagenden Blick zu zuwerfen, aber dann verbot er es sich. Jede Andeutung, dass sie ein gemeinsames Geheimnis hatten, egal wie unauffällig, konnte jetzt gegen ihn verwendet werden.
Valion nutzte stattdessen die Zeit, sich umzusehen und sich die Gesichter anderer Diener und Wächter einzuprägen, die ihrer Arbeit rund um den Wagenzug nachgingen. Die Wächter waren sämtlichst große, kräftige Männer. Sie trugen keine Abzeichen oder identifizierenden Kleidungsstücke, sondern stachen nur durch ihre Größe und Masse aus der Schar der Dienerschaft heraus, und teilweise durch eine beeindruckende Anzahl von Narben. Nicht alle von ihnen trugen Waffen, und Valion bemerkte, dass einige das Lager zielstrebig verließen und in die Dunkelheit außerhalb der Laternen und Kochfeuer eintauchten. Er zählte eins und eins zusammen und schloss daraus, dass einige der Wächter im Dunkeln, außerhalb des Lichtkreises, bewaffnet auf der Lauer lagen und sowohl Eindringlinge als auch Flüchtlinge überraschen konnten.
Die Dienerschaft setzte sich aus erwachsenen Männern und Frauen zusammen. Der Abend war für sie anscheinend die anstrengendste Zeit des Tages. Fast alle waren in ihre jeweiligen Aufgaben vertieft, kochten, reparierten, wuschen und prüften Vorräte, und viele warfen Valion nur einen desinteressierte Seitenblick zu und wandten sich dann ab. Doch einige starrten ihn auch unverhohlen neugierig an. Nach wie vor sah er keine anderen Sklaven, und auch die Menschenhändler und deren Familien waren nicht zu sehen. Er fragte sich, ob sie den nächtlichen Trubel einfach verschliefen und stattdessen die Tage nutzten, oder ob sie es vorzogen ungestört zu sein.
Er hätte sich gern weiter umgesehen, doch im nächsten Moment waren sie auch schon am Pestwagen angekommen. Valion betrachtete sein Gefängnis von außen. Zuvor, als er es verlassen hatte, hatte er sich nicht die Zeit genommen einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es war tatsächlich der schlichteste unter den Wagen, und er war auch kleiner als die anderen, doch gleichzeitig mutete er massiv an, wie eine Festung aus Holz. Auch die gespannten Stoffplanen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er gebaut worden war um als Gefängnis zu dienen.
Mit innerem Widerwillen kletterte Valion in den Wagen, hielt aber sogleich inne. Er registrierte erstaunt, dass bereits eine Laterne und Tarns Medizintasche im Inneren standen, und dass sein Kleidungsbündel nachlässig zur Seite gefegt worden war. Und noch eine Überraschung wartete auf ihn - seine Handfessel war getauscht worden gegen eine Fußfessel mit größerem Umfang. Für einen Moment fragte er sich verdutzt, wie das sein konnte - Tarn hatte sein aufgeschürftes Handgelenk bemerkt, bevor sie aufgebrochen waren und hatte keine Gelegenheit gehabt, diesen Austausch zu veranlassen. Die Erkenntnis, dass er von Beginn an genau beobachtet worden war und jemand sofort auf eine Verletzung reagiert hatte, die er selbst nicht einmal für wichtig nahm, bestätigte nur alle Warnungen, die Valion erhalten hatte. Jemand beobachtete ihn sehr genau und nahm von jedem Detail Notiz.
Tarn trat hinter Valion herein. Ein Blick auf sein Gesicht bestätigte, dass er die selben Schlüsse zog, doch er verbarg seine Überraschung besser. Er trat zur Seite und ließ den ersten Wächter gewähren, der ebenfalls hereingekommen war, Valion wortlos die Fußfessel umlegte und sie sorgfältig schloss. Damit schien seine Aufgabe schon erledigt zu sein, denn er verließ den Wagen ohne Gruß oder weiteren Blick.
Valion sah sich verloren im Wagen um und dachte daran, dass er etwas vermisste. Dann fiel ihm ein, dass er noch kein Wort von Jan gehört hatte, dabei hätte ein Kommentar oder Witz von ihm doch eigentlich das erste sein müssen, das er hörte. Er erwog für einen Moment, Jan aufzuwecken, aber dann hielt er sich zurück. Er hatte zwar eine Menge zu erzählen, aber das konnte auch bis zum nächsten Morgen warten.
„Ich schätze Jan schläft schon”, flüsterte er Tarn zu, der sich vor seine Medizintasche gekniet hatte und einen sauberen Verband aussuchte. Er lächelte ein wenig bei Jans Erwähnung und flüsterte zurück: „Wer schläft sündigt nicht. In Jans Fall entgehen der Welt dadurch vermutlich eine ganze Menge Sünden.” Valion lachte leise auf und versuchte sich trotz Fußfessel bequem hinzusetzen, dann streckte er ungefragt seinen Arm aus und ließ sich verbinden. Sie sprachen nicht, und es war Valion recht. Er wollte Jan nicht wecken, und sie hatten heute genug besprochen. Auch so schwamm sein Kopf schon - er nahm sich fest vor, sich sofort hinzulegen.
„Geht es so?”, fragte Tarn, als er fertig war. „Ja, danke. Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass ich derartig überwacht werde, sonst hätte ich jetzt immer noch eine Handfessel”, scherzte Valion, doch Tarns ernster Blick ließ ihn das sofort bereuen. Niemand durfte wissen, dass er eingeweiht war, und selbst ein Scherz konnte ihn verraten. Wie konnte er sicher sein, dass nicht gerade jetzt jemand mithörte? Plötzlich befiel ihn eine unheimliche Beklemmung, die gar nicht mehr von ihm weichen wollte, und er musste sich zusammenreißen, sich nicht hektisch umzusehen. Er dachte an seinen Zusammenstoß mit dem Spion, der ihn aus dem Hinterhalt überfallen und zu Boden geworfen hatte und meinte, einen Atemhauch im Nacken zu spüren. Unbehaglich verschränkte Valion die Arme. „Tut mir Leid”, murmelte er.
„Ich sollte jetzt gehen”, sagte Tarn kurz angebunden, „mich erwartet heute Nacht noch Arbeit.” Valion nickte eingeschüchtert, und Tarn tat es in diesem Moment Leid, dass er ihn schon so früh eingeweiht hatte. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Valion von selbst begriff wie er sich verhalten musste. Jetzt war er unnötig verunsichert und misstrauisch. Er würde darüber hinweg kommen, aber es würde Zeit brauchen.
Aber hätte er den eigenständigen Lernprozess auch unbeschadet überstanden? Tarn musste sich eingestehen, dass er davon nicht überzeugt war. Valion hatte etwas Seltenes, Wertvolles, eine ehrliche und naive Unvoreingenommenheit, die ihresgleichen suchte. Er ging auf Menschen zu, als wäre er völlig blind für ihre Fehler oder Schwächen. Es war eine rare und gefährliche Eigenheit - wie behütet musste der Junge aufgewachsen sein, dass diese Offenheit nie zerstört worden war? Rührte es wirklich daher, dass er einfach keinen Kummer kannte, oder war das ein unabänderlicher Wesenszug? Das fragte Tarn sich seit dem Moment, als er Valion im Haus seiner Eltern zum ersten Mal wirklich begegnet war. Valion hatte ihm von einem Moment auf den anderen völlig vertraut, ohne Fragen, ohne Wenn und Aber. Und das Merkwürdige war, dass es abfärbte. Er hatte das Gefühl ein besserer Zuhörer und aufmerksamerer Arzt zu sein, nur dadurch, dass Valion genau das von ihm erwartete. Vielleicht war es das, was Eravier an ihm aufgefallen war. Er suchte die Sklaven passend zu ihren angestrebten Käufern aus, und er musste eine vage Ahnung gehabt haben, wer Valions charakterliches Gegenstück war.
Doch es stellte sich die Frage, wie lange Valion seine Einstellung aufrecht erhalten konnte. Tarn fürchtete und war sich gleichzeitig sicher, dass seine neue Umgebung ihn unweigerlich zerbrechen würde, und gerade deshalb hatte er das Gefühl, Valion davor bewahren zu müssen. Selbst wenn es bedeutete, dass er lernen musste sich vor seiner Umgebung zu fürchten.
Der Grundstein dafür war gelegt, das war das Wesentliche. Er musste aufhören zu versuchen, die Zukunft vorherzusehen, vor allem jetzt. Für heute war es genug. Beschwichtigend sagt er: „Schlaf jetzt, und mach dir nicht zu viele Sorgen. Morgen wird es anstrengend genug.” Valion nickte zur Antwort, nicht überzeugt, aber in dem offensichtlichen Versuch, tapfer zu sein. Es war anrührend, und er strich seinem Schützling durch die struppigen blonden Haare. „Kopf hoch.” Bevor er sich dazu hinreißen lassen konnte, noch mehr Sympathie zu zeigen, nahm er seine Tasche und die Laterne und verließ den Wagen.
Außerhalb des Wagens erwartete ihn nicht die Stille und Dunkelheit der Nacht, obwohl er sich gern ein paar Minuten Ruhe gegönnt hätte. Stattdessen tauchte er in die lärmende, fast taghelle Betriebsamkeit des Lagers ein. Kurz nach Sonnenuntergang erreichten die Vorbereitungen für den nächsten Tag ihren Höhepunkt. Die Feuer brannten jetzt besonders hell, und das Nachtmahl für die Händler war kurz vor der Fertigstellung. Aber bevor es so weit war und er selbst etwas essen konnte, hatte er noch zu tun.
Er sah sich um, ob er einen der anderen Händler ausmachen und nach Eraviers Verbleib fragen konnte. Zu seinem Ärger entdeckte er nur Karvash in Begleitung einer seiner Frauen, wie sie durch das Durcheinander flanierten und allen im Weg standen. Wo auch immer Karvash hinging, er wirkte als würde er in einem gepflegten Park spazieren gehen und Konversation machen. Leider erschöpften sich damit seine Talente. Seine Statur bewegte sich wie alles was er tat im absoluten Mittelmaß, er war weder groß noch klein und weder dick noch dünn. Er war Mitte dreißig und nicht unattraktiv, was ihm zu seinen drei Mätressen verholfen hatte, die er auch ohne kirchlichen Segen seine Ehefrauen nannte, und er hatte die Frechheit besessen sie alle auf diese wochenlange Reise mit zu schleppen. Er war ein kriecherischer Nichtsnutz, und eigentlich nur auf Zutun eines Gönners hier. Eravier hatte Karvash von Anfang an Tarns Fürsorge überantwortet, und Tarn hasste jede Minute, die er damit zubringen musste in Karvashs Nähe zu sein.
Widerwillig steuerte Tarn auf ihn zu, mit der festen Absicht, sich nicht in ein Gespräch verwickeln zu lassen, und fragte ohne Umschweife: „Wo ist Eravier?” Karvash, der sich offensichtlich gestört fühlte, wandte sich mit einem Stirnrunzeln zu ihm um. „Tarn. Ich hoffe du kannst mir Gutes von den Pferden berichten? Ich denke nämlich, dass weitere Ausfälle unsere Reise nur unnötig verzögern werden.” Tarn verbiss sich eine Bemerkung. Karvash hatte sich recht früh im Verlauf ihrer Reise eine Aufgabe gesucht, oder besser gesagt, er beschäftigte sich mit Dingen, die nicht in seiner Verantwortung lagen und die Jefrem und er selbst bestens im Griff hatten, wie die Auslastung der Pferde. Es war nicht kompliziert - die Pferde brauchten genügend Pausen, genügend Futter und Wasser und eine medizinische Versorgung, nichts, was ein Stallmeister und ein Arzt nicht koordinieren konnten. Einige Pferde fielen immer wegen Verletzungen aus, entweder für eine kurze Zeit, oder für den Rest der Reise - in diesem Fall wurden sie getauscht. Aber Karvash hatte sich in den Kopf gesetzt, den Ausfall jedes Pferdes und jede Einteilung der Tiere kritisch zu kommentieren, vor allem wenn er eine »mangelnde Auslastung« vermutete. Im Fall der Stute, die sich am Geschirr verletzt hatte, hatte er besonderen Starrsinn bewiesen, und Tarn stritt sich seit Tagen mit ihm darüber, wann sie wieder ihre Last tragen konnte. „Ich denke, dass Joshanna für den Rest der Reise einsatzbereit ist. Wo ist Eravier?”, antwortete er knapp angebunden. „Ich denke, wir sollten schnellstmöglich darüber sprechen, was-”, setzte Karvash an, aber Tarn unterbrach ihn nachdrücklicher: „Wo ist Eravier? Er erwartet mich. Ich kann ihm natürlich gern sagen, dass du mich aufgehalten hast, Karvash, dann diskutierst du das mit ihm aus.” Für einen Moment herrschte empörte Stille, dann sagte Karvash verschnupft: „Er hat unser Gespräch heute etwas eher beendet und sich sofort in seinen Wagen zurückgezogen.” Tarn nickte und ging ohne ein weiteres Wort davon, aber er hörte Karvashs Frau in seinem Rücken empört fragen: „Warum lässt du dir das immer wieder von diesem Diener gefallen, Gael?” Und auch Karvashs teils empörte, teils hämische Antwort darauf verstand er laut und deutlich: „Es gibt nur einen von dem er sich das Maul stopfen lässt, Schatz, und das ist Ansin Eravier. Aber der tut es gründlich.” Tarn überlegte, ob er zurück gehen und Karvash vor den Augen aller zusammenschlagen wollte, bis er nach seiner Mutter schrie, aber wie so oft zähmte er seine Wut. Karvash hielt sich für klug, aber das Offensichtliche auszusprechen war keine Kunst.
Valion hatte eigentlich vorgehabt, sich sofort schlafen zu legen. Er griff nach seinem Kleiderbündel und hob es an, wollte es unter seinen Kopf schieben, und hörte ein leises, mahlendes Knirschen und Klirren.
Verwirrt richtete er sich auf, sein Bündel immer noch in den Händen. Er bewegte es hin und her, und das selbe, leise Klirren erklang. Was war da drin? Hatte ihm jemand etwas zugesteckt, während er weggewesen war? Ungeduldig breitete er sein Bündel aus, und als erstes rieselten ihm kleine, silbrige Splitter entgegen. Er betastete sie vorsichtig, und prompt bohrten sich einer davon in seine Fingerkuppe, sodass er schmerzerfüllt aufzischte. Ein kleiner Blutstropfen bildete sich und rann seine Hand hinab, und ärgerlich steckte er den Finger in den Mund. Wer auch immer diesen Gegenstand in sein Gepäck gestopft hatte, würde Ärger kriegen. Vorsichtig schüttelte er die Splitter aus, und plötzlich fielen ihm größere Splitter entgegen und landeten klirrend auf dem groben Holzboden, und dann ein runder, glänzender Gegenstand. Er betrachtete ihn entgeistert, und sein Spiegelbild, durchzogen von geisterhaften, spinnwebgleichen Rissen, starrte zu ihm zurück. Milas Spiegel.
Wie war das möglich? Valion griff nach dem geschnitzten Rahmen und hob den Spiegel hoch, und weitere Splitter lösten sich und fielen leise klirrend zu Boden. Er musste ihn an dem Tag seiner Abreise geistesabwesend eingesteckt haben. Oder hatte jemand anders ihn zu seinem Gepäck gelegt, zum Beispiel seine Mutter? Er wusste es nicht, und sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Doch jetzt, da er ihn sah, befiel ihn schon wieder Heimweh. Das letzte Mal, als er hineingesehen hatte, war er zuhause gewesen und hatte gepackt. Jetzt saß er hier, und hatte einen wichtigen Wertgegenstand seiner Familie zerstört. Oder irgendjemand anders. Wer auch immer seine Sachen beiseite geräumt hatte, war dabei wohl nicht zimperlich gewesen.
Plötzlich befiel ihn Angst. Was war, wenn er seine Sachen verlor, oder nicht behalten durfte? Wenn sie jetzt schon nachlässig mit seinen Gebrauchsgegenständen umgingen, würden sie später nicht einfach damit aufhören. Er umklammerte den Spiegelrahmen fest. Er war zerbrochen, aber wer immer noch eine kostbare Erinnerung. Kurz entschlossen drehte er den Rahmen um, schüttelte ihn vorsichtig und ließ die Scherben herausfallen, die sich nicht mehr in der Einfassung hielten. Dann sah er sich um. Er musste den Spiegel verstecken, wer weiß für wie lange. Warum hatte er bisher nur nach einem Ausweg gesucht, und nicht nach einem Versteck? Er musste lernen besser zu planen. Verstecke waren so wichtig wie Fluchtwege, das musste er sich jetzt einprägen.
Hastig sprang er auf, sah sich den Wagen erneut an, rüttelte an losen Brettern im Boden und an den Seiten des Wagens. Doch er fand keine losen Dielen, die er verschieben oder zur Seite biegen konnte. Stattdessen ertastete er zwischen einigen Brettern Hohlräume, wo sich das Holz im Lauf der Zeit zusammengezogen und Lücken hinterlassen hatte. Kurz entschlossen zog er sein Hemd aus, das er nun schon einige Tage trug, und warf es auf den Boden. Er wollte sich sowieso seit geraumer Zeit umziehen. Schnell schüttelte er die letzten Splitter aus seinem frischen Hemd und zog es hastig über, obwohl seine Schulter protestierte, dann versuchte er sein schmutziges Hemd mit bloßen Händen zu zerreißen. Aber er schien nicht stark genug zu sein, denn so sehr er auch zerrte, er schaffte es nicht den Stoff aufzutrennen. Er bewirkte nur, dass seine Schmerzen im Rücken und in den Schultern aufflammten.
Hilfesuchend sah er sich um, und sein Blick fiel auf einige der größeren Spiegelsplitter. Perfekt. Er fuhr aus seinem Hemdsärmel und benutzte ihn, um seine Hand gegen die scharfen Kanten der Scherbe zu schützen, dann begann er zu schneiden und zu reißen. Er betete, dass nicht gerade jetzt jemand kommen und seine Arbeit stören würde. Er hatte jetzt ein Versteck, zusätzlichen Stoff, ein Erinnerungsstück und eine provisorische Waffe, alles Dinge die er unbedingt sichern musste. Sein übermüdeter, hyperaktiver Verstand fragte sich während er arbeitete einen Moment, ob er jemand mit einem der Glassplitter töten könnte, und er entschied kurzerhand, dass er es im Hinterkopf behalten musste. Wenn schon nicht töten, so konnte er zumindest eine Menge Schaden anrichten, beispielsweise im Gesicht. Er hätte beinahe darüber gelacht, dass er tatsächlich erwog einen oder mehrere ausgewachsene Männer mit einer Glasscherbe anzugreifen, aber verkniff es sich.
Endlich hatte er das Hemd in Fetzen zerlegt, und bettete den Spiegel darauf, dann begann er ihn einzuwickeln. Hastig ging er zu einem Spalt, der vermutlich auch tagsüber im Dunkeln liegen würde, nahe der Trennwand, und schob er den Spiegel in seinem Bett aus Stofffetzen in den Spalt, immer vorbereitet darauf, dass jemand hereinkommen würde. Seine Stirn war plötzlich schweißnass, und er wischte sie geistesabwesend ab, während er er den Spiegel Stück für Stück in seinem Versteck versenkte. Zwischendurch verhakten sich die Verzierungen immer wieder, und er musste rütteln und die Verkantung lösen, aber schließlich hatte er es endlich geschafft. Waren nur noch die Scherben übrig. Für sie hatte er einen einzelnen Stoffstreifen aufgespart. Er wickelte die größten Splitter schnell und sorgfältig ein, den Rest versuchte er so weit zu verstreuen, dass sie nicht mehr auffielen. Wenn er Glück hatte, würden sie bald in die zahlreichen Vertiefungen des Holzbohlenbodens fallen und dort unentdeckt bleiben. Alle Splitter bis auf einen versteckte er in einer weiteren Vertiefung, den letzten steckte er in eine Ritze in der Seitenwand, gleich neben der Stelle, an der er zu schlafen pflegte.
Erst jetzt lies er sich erschöpft fallen. Die Angst, dass sein Tun entdeckt werden könnte, hatte ihn völlig aufgepeitscht. Für einen Moment fürchtete er, dass er Jan mit seiner hektischen Arbeit aufgeweckt hatte, aber es war immer noch ruhig.
Plötzlich kam ihm die Stille falsch vor. Das war nicht die Stille die entstand, wenn jemand nebenan schlief. Er lauschte, und hörte keinen Atem, kein leises Rascheln einer Decke. Er hatte sich getäuscht. Jan schlief nicht. Jan war überhaupt nicht da.
Ungehalten steuerte Tarn auf Eraviers Wagen zu, der wie immer ein wenig abseits aufgestellt war und so zumindest die Illusion von Privatsphäre gewährte. Eravier reiste nicht in einer Kutsche, auch nicht tagsüber, ganz im Gegensatz zu den anderen Händlern. Das war weniger seiner Bescheidenheit als seinem gesunden Menschenverstand geschuldet, zumindest wenn man so kühn war Worte wie gesund und Verstand mit Eravier in Verbindung zu bringen. Die Reise in den Wagen war weniger prunkvoll, aber weitaus bequemer, und gewährte einen gewissen Luxus, was die Bewegungsfreiheit anging.
Eraviers Wagen wirkte von außen bescheiden, aber er war nicht nur breiter gebaut als die meisten, sondern auch leichter, und bot deshalb Kapazität für zusätzliche Luxusgüter: eine echte Strohmatratze mit einer regelrecht pompös wirkende Ansammlung von Decken und Kissen als Schlafstätte, einen Platz zum Schreiben und Essen, eine Kiste voller Bücher für die Zerstreuung an regenverhangenen Tagen und eine ebenso große Truhe für eine umfangreiche Reisegarderobe.
Betrat man den Wagen, so wie Tarn es jetzt tat, dann erkannte man sofort die Wohnstätte eines Kulturliebhabers. Der Innenraum war immer ordentlich und großzügig mit Laternen versehen, die es erlaubten sich an jedem beliebigen Ort niederzulassen und zu lesen. Allen Einrichtungsgegenständen haftete stets der angenehme Geruch von ätherischen Ölen an, eine willkommene Abwechslung zu dem sonst überall präsenten Geruch der Pferde.
Der positive Eindruck konnte natürlich schnell getrübt werden, beispielsweise durch zwei junge Männer auf dem Boden, die von jeweils zwei Wächtern eisern festgehalten wurden. Oder von frischen Blutspritzern auf dem Boden, dort wo der eine Junge, der jetzt leise schluchzte, vermutlich mit dem Kopf aufgeschlagen war. Oder von dem diabolischen Lächeln Eraviers, der an seinem Schreibplatz saß und von dort aus das Schauspiel beobachtete.
„Ah, Tarn”, sagte er einladend und winkte ihn herein. Er schien gute Laune zu haben, wie immer, wenn er die Oberhand hatte. „Komm doch herein.”
Tarn sammelte sich und trat über die Jungen hinweg und zu Eravier. Er warf nur einen flüchtigen Blick nach unten und erkannte keinen der beiden. Ihre Gesichter waren dem Boden zugewandt, sodass er nur sehen konnte, dass der schluchzende Junge dunkelhaarig war und der andere, der immer wieder verhalten hustete, hellblond. Eine vage Ahnung zerrte an ihm und seine Intuition sagte ihm, dass er einen der beiden kennen musste, aber er hatte keine Zeit darauf zu reagieren, deshalb schob er seine Gedanken schnell von sich und wandte sich ganz Eravier zu.
„Du wolltest mich sehen”, sagte er unverbindlich und nickte den Jungen zu. „Wegen ihnen?” „Nein nein, die sind nicht der Rede wert. Ich hatte nur das Bedürfnis nach etwas kultivierter Gesellschaft, nachdem ich mir eine geschlagene Stunde Gewäsch anhören musste, deshalb habe ich dich gerufen.” Tarn nickte. Eravier musste gerade aus der täglichen Besprechung mit den anderen Menschenhändlern kommen, und Tarn hätte lügen müssen wenn er behauptet hätte, dass er deren Gesellschaft schätzte. Karvash war eine Sache, er musste auf Eravier hören und seinen Befehlen Folge leisten, doch für Faure und Besnard galt das nicht. Sie akzeptierten Eraviers Führung der Reise nur widerwillig, auch wenn ihre Furcht ihnen einen gewissen Respekt gebot.
Das erklärte jedoch noch nicht, was die beiden Gefangenen bedeuteten. „Warum sind die beiden hier?”, fragte Tarn nach. „Ich hatte eine kleine Unterredung mit meinen Informanten. Du siehst hier meinen letzten gescheiterten Versuch, die Rebellion in meinen Reihen aufzuspüren”, erklärte Eravier im amüsierten Plauderton. „Gescheitert?” „In der Tat”, bestätigte Eravier mit der gleichen, heiterem Gelassenheit. „Ich habe das Gefühl, ich muss einige meiner Spione austauschen. Ich meine, stell dir das vor, ihn...”, sagte er und deutete auf den schluchzenden Jungen, „…hat man erwischt, wie er Nachrichten weitergab, und worum handelte es sich? Ein paar Liebesbriefchen an eine Sklavin.” „Nun, es ist verboten, dass Diener mit Sklaven Umgang haben. Du hast ihn überführt”, meinte Tarn mit einem Achselzucken. „Natürlich, aber ich bitte dich - das ist wohl kaum meine Zeit wert. Mein Spion war überzeugt, dass er die Verbindung zur Rebellion gefunden hätte. Wisst ihr was, schafft ihn raus.”, sagte er an zwei der Wachen gewandt, die den dunkelhaarigen Junge auf die zitternden Füße zogen. „Gebt ihm ein paar Peitschenhiebe, das sollte genügen. Moment, zeigt mir noch einmal sein Gesicht.” Die Wachen drehten den Jungen herum, und er starrte Tarn und Eravier aus großen, panischen Augen an. Tarn erkannte ihn, er war der Sohn eines älteren Dieners und Schuldsklave in zweiter Generation. Das war seine erste Reise im Wagenzug, und er war erst um die sechzehn Jahre alt. Tarn konnte sich gut vorstellen, dass Neugier und jugendlicher Übermut ihn dazu getrieben hatten die Regeln zu brechen. Jetzt erlebte er die kummervollen Auswirkungen einer unmöglichen und verbotenen Liebe und die postwendende Strafe dafür, was Mitleid in Tarn weckte.
Doch zumindest in einem Punkt hatte er Glück; er hatte ein unauffälliges, rundes Gesicht und eine Reihe alter Pockenmale, und Eravier verlor augenblicklich das Interesse an ihm. Er winkte gelangweilt ab und sagte: „Nein, vergesst es. So wie er aussieht, würde es keinen Spaß machen zu zusehen.” Tarn sah in den Augen der Wachen den selben entsetzten Ekel, den auch er spürte, aber genau wie er waren sie zu lange dabei, um sich Irgendetwas anmerken zu lassen. Sie nickten nur und warteten darauf, endlich fortgeschickt zu werden, was Eravier nun mit einer Handbewegung tat. „Erledigt das, dann lasst euch für den Wachdienst einteilen.” Die zwei Wachen verschwanden, und zurück blieb der andere Junge und die zwei Wachen, die ihn nach wie vor festhielten.
„Und was ist mit ihm?”, fragte Tarn, der spürte dass Eravier genau das von ihm erwartete. „Der ist ein interessanterer Fall. Sein Name ist Jan…” Tarn fuhr zusammen und richtete seinen Blick auf den Jungen. Natürlich, der Husten hätte ihn sofort auf die Spur bringen müssen, aber er war so verflucht müde, dass er es ignoriert hatte. Jan lag völlig still, aber auf einen Wink von Eravier hin zerrte einer der Wächter ihn hoch. Er war jetzt um einige Schrammen, einen Schnitt im Gesicht und ein blaues Auge reicher, dennoch sah er heute wesentlich gesünder aus als sonst. Er schwieg, aber er starrte Tarn und Eravier mit einem vernichtenden Blick an. Tarn, der bisher fest davon ausgegangen war, dass Jan immer noch in seiner Zelle schlief, wurde sofort von einer üblen Vorahnung befallen. Jan und Valion standen sich von Beginn an recht nahe, eine Freundschaft aus heiterem Himmel. Wenn Valion ihm gegenüber auch nur ansatzweise die Rebellion erwähnt hatte, lagen sein und Valions Leben jetzt in Jans Händen. „Du kennst den Jungen?”, fragte Eravier lauernd, und Tarn riss sich zusammen. Was auch geschah, er durfte sich keine Blöße geben. „Er sitzt im Pestwagen ein. Ich habe mich mehrmals um ihn gekümmert.” „Dann hast du bestimmt schon Bekanntschaft mit seinem losen Mundwerk gemacht”, sagte Eravier heiter. „Ich musste ihn nicht nur schlagen, sondern auch noch drohen, ihm die Zunge herauszuschneiden und ihm das Messer direkt vor’s Gesicht halten, damit er wusste, dass ich es ernst meine.” Jan blickte nur trotzig drein, und Tarn bewunderte für einen Moment seine absolute Unverfrorenheit. Es gab nicht viele Menschen, die Eravier so weit herausforderten und das nicht nur überlebten, sondern ihren Widerstand auch noch aufrecht erhielten. Eravier fuhrt fort: „Mein Spion informierte mich, dass er und unser neuster Schützling einige intensive Gespräche geführt haben. Und du weißt, was ich von unserem kleinen Valion halte.” „Er steht möglicherweise mit der Rebellion in Verbindung”, sagte Tarn nüchtern. „Hinter diesem unschuldigen Gesicht verbirgt sich möglicherweise etwas außerordentlich Teuflisches, und ich bin äußerst daran interessiert es aus ihm heraus zu schälen. Gern auch wörtlich”, meinte Eravier, und das perverse Vergnügen in seiner Stimme jagte Tarn einen Schauder über den Rücken. Er würde Valion zu gegebener Zeit davor warnen müssen, dass Eravier auf dem besten Wege war, eine Obsession für ihn zu entwickeln. „Leider war unser kleiner Freund hier nicht sehr hilfreich dabei, das Geheimnis unserer Neuanschaffung ans Licht zu bringen”, fuhr Eravier bedauernd fort, und Tarn atmete innerlich auf. „Ihre Gespräche lassen sich auf vier sehr einfache Themen herunterbrechen: Freunde, Familie, Kindheitserlebnisse, und wie viele Schlampen unser kleiner Freund hier gefickt hat. Sehr fleißig, und sehr uninteressant.”, dozierte Eravier kalt, und Tarn verbiss sich einen scharfen Kommentar. Was auch immer Jan in seiner Freizeit getrieben hatte und was er davon Valion erzählt hatte, ging nur ihn etwas an. Doch genauso abrupt wie Eraviers Laune, so konnte auch seine Wortwahl unvermittelt ins Vulgäre und Verletztende abgleiten.
Jan schien es allerdings gelassen hinzunehmen, im Gegenteil, es gab ihm nur neue Munition für sein eigenes loses Mundwerk. „Da wir jetzt mein Liebesleben und meine Schlampen abgehakt haben, hätte ich eine Frage.” Eravier fixierte ihn und gab einer der Wächter einen Wink, und prompt bekam Jan eine Ohrfeige. Er lachte nur, brach in Husten aus, der sich aber schnell beruhigte, und ignorierte Tarns warnenden Blick, um Eravier weiter anzustarren. „Ich deute das mal als Sprecherlaubnis”, ätzte er und kassierte die nächste Ohrfeige, die wieder ihre Wirkung verfehlte. Verächtlich nickte er den Wärtern zu und sagte: „Das ist ein bisschen lasch. Wie war das vorhin, es gibt eine Peitsche?” „Jan!”, versuchte Tarn ihm Einhalt zu gebieten, aber Eravier brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und betrachtete Jan nachdenklich. „Man kann sagen, was man will, aber er ist ein charmantes Kerlchen. Gut, stell’ deine Frage.” Jan nickte und fragte: „Ich wüsste gern, ob ich endlich aus dem Pestwagen heraus verlegt werden kann. Ich bin gesund. Tarn, sag’ ihm, dass ich gesund bin.”
Eravier runzelte die Stirn und wandte sich ebenfalls an Tarn: „Ich bin etwas verwirrt, was es mit ihm auf sich hat. Wer hat ihn gekauft?” „Faure”, gab Tarn pflichtschuldig Auskunft. „Es wurde Geld an uns gezahlt, damit er mitkommen kann, seine Familie wird bei seinem endgültigen Verkauf kompensiert.” Eravier seufzte. „Faure, Faure… warum treibt er nur solche Spielchen? Das ist doch viel zu kompliziert. Wozu der Aufwand? Er ist ein hübscher Junge, man wird sich um ihn reißen. Warum musste er zahlen?” „Zu dem Zeitpunkt waren er und seine ganze Familie krank. Es war ein zu großes Risiko, dass er stirbt.” Eravier lachte auf. „Und Faure hat ihn trotzdem mitgenommen? Er muss einen passenden Käufer im Auge haben, denn wenn nicht, dann Gnade ihm Gott. Und wie steht es jetzt um Jan? Du hast doch bestimmt eine Empfehlung für ihn, als Arzt”, sagte er mit unverhohlenem Hohn. Tarn ignorierte den Spott und sah zu Jan, der seinerseits nur ihn fixierte. Sein Blickwar flehentlich und voller vager Hoffnung, und Tarn war sich bewusst, dass er seine Pläne und Hoffnungen zerstören würde. Dennoch sagte er: „Ich bin überzeugt davon, dass er unter Schwindsucht leidet. Im Moment hat er die erste Phase der Krankheit überwunden. Es gab Fälle, in denen Menschen durch viel Pflege gesund wurden, aber wir werden nie wissen, ob er die Krankheit wirklich noch hat. Ich gehe nicht davon aus, dass Jan es schaffen kann. Die Belastung seiner Ausbildung wäre zu viel, und wir müssten ihn immer isolieren. Wir werden eventuell nie einen Käufer finden, und sollte er einen neuen Schub erleiden könnte er seinen Käufer infizieren. Eventuell wird er einfach sterben. Ich bezweifle, dass es sich lohnt abzuwarten.”
Tarn konnte beobachten, wie mit jedem seiner Worte mehr Farbe aus Jans ohnehin blassem Gesicht wich. Als er seine Diagnose beendete, war Jan völlig am Boden zerstört, das sah man auf den ersten Blick. Von seiner frechen und arroganten Art war nichts mehr übrig, keine Bemerkung und kein dummer Spruch folgten, er war sprachlos. Nach einem Moment ließ er den Kopf sinken und starrte nur noch den Boden des Wagens an.
Eravier beobachtete Jan nachdenklich. Tarn kannte ihn schon lange genug um zu wissen, dass hinter seiner Stirn ein Plan Gestalt annahm. Eravier bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen, als er aufstand, die Wachen ein Stück von Jan abrücken ließ und sich väterlich neben ihm nieder kniete, um ihm eine Hand auf dessen Schulter zu legen. „Das muss jetzt ein ziemlicher Schlag für dich sein, nicht wahr, Jan?”, fragte er freundlich. Es war immer wieder unheimlich, diese Verwandlung zu sehen. Von einem Moment war das Gesicht des grausamen, desinteressierten Menschenhändlers wie ausgelöscht, und macht dem Gesicht eines besorgten, freundlichen Menschen Platz, der nur das Beste für alle wollte. „Deine Familie hat so viel Geld in deine Zukunft investiert.” Jan nickte vage, und Tarn hätte ihn am liebsten gewarnt, nicht darauf einzugehen, aber stattdessen konnte er nur mit versteinertem Gesicht dastehen und abwarten, wie Jan auf diese Behandlung reagieren würde. Das Problem war, dass die Sklaven, die zu ihnen kamen, fast immer jung waren. Sie wurden aus ihren Familien gerissen, und es war nicht ungewöhnlich, dass sie sich an die erste Vater- oder Mutterfigur klammerten, die sich ihnen anbot. Er selbst hatte das schon oft genug ausgenutzt, aber ein Raubtier wie Eravier dabei zu beobachten, wie er genau das selbe tat, war ekelhaft.
„Es muss schrecklich für dich sein, dass du sie jetzt so enttäuschst”, sprach Eravier weiter und riet offensichtlich ins Blaue hinein. „Das war meine letzte Chance, unseren Hof zu retten”, murmelte Jan. Er gab einen erstickten Laut von sich und unterdrückte ihn schnell mit seiner Hand, als wäre er kurz davor zu schluchzen. „Und man bedenke, wie sehr du um deinen Platz gekämpft hast. Nicht so wie andere, die einfach von der Straße mitgenommen werden und sofort ausgezahlt werden… Aber es ist noch nicht alles verloren Jan. Du bist nicht so weit gekommen, dass ich dich jetzt hinaus werfe. Egal, was Tarn sagt.” Er warf Tarn einen strengen Blick zu, der sich völlig automatisch verteidigte: „Ich will nur das Beste für-” „Für alle anderen, natürlich, aber müssen wir nicht auch das Wohlbefinden unserer einzelnen Sklaven garantieren? Jan, du gehst natürlich nicht. Wir werden abwarten und sehen, ob du vollständig gesund werden kannst”, fuhr Eravier völlig ernst fort, und Tarn fragte sich, wie er es schaffte nicht über seine eigenen Worte zu lachen. „Wirklich?” Jan hob den Kopf und starrte Eravier völlig fassungslos an. „Versprochen.” Tarn konnte es kaum fassen, aber Jan lächelte und sagte aus vollstem Herzen: „Danke! Das werdet ihr nicht bereuen! Ich tue alles, wirklich alles!” „Na na, du sollst nur deine Ausbildung zum Sklaven ernst nehmen. Etwas anderes verlange ich gar nicht von dir!”, sagte Eravier milde und tätschelte seine blonden Locken. Er erhob sich und half Jan, ebenfalls aufzustehen. „Ich denke, du solltest jetzt vorläufig in deinen Wagen zurückkehren, und morgen werden wir das übliche Prozedere hinter uns bringen und sehen, wo wir dich unterbringen.” Jan nickte eifrig, und ließ sich bereitwillig von den Wachen führen. Kurz bevor sie den Wagen verließen, gab Eravier ihnen jedoch dass Zeichen Halt zu machen und wandte sich noch einmal an Jan: „Aber du weißt natürlich, dass ein Sklave loyal sein muss, nicht wahr? Niemand, der nicht sehr dumm ist, beißt die Hand, die ihn füttert. Vielleicht solltest du dich fragen, wer deine Freunde sind, und wer hinter deinem Rücken dein Unglück plant. Oder meines. Menschen, die nicht so hart wie du um ihren Platz gekämpft haben und ihn gar nicht zu schätzen wissen.” Es war nicht schwer zu erraten, wen er meinte. Jan nickte ernst. „Ich verstehe.” Eravier nickte ebenfalls und sagte: „Sehr gut. Geh jetzt.”
Als die Wachen mit Jan im Schlepptau verschwunden waren, betrachtete Eravier konzentriert die Blutflecken auf dem Boden des Wagens. „Ärgerlich”, murmelte er und strich sich das blonde Haar aus der Stirn. Tarn stand nur da und wartete ab, was seine nächste Anweisung sein würde. Nach einem Moment wandte Eravier sich an ihn und fragte: „Na, war das nicht herzerfrischend?” Tarn zuckte vage mit den Schultern und sagte: „Darüber erlaube ich mir kein Urteil.” Eravier lachte und ließ sich ausgestreckt auf seine Schlafstätte sinken. „Ach Tarn, verschlossen wie immer. Ich hätte etwas mehr Bewunderung für den jungen Mann erwartet. Immerhin ist er fast so ein guter Lügner wie ich. Er hat mir natürlich kein Wort abgekauft, und ich ihm ebenfalls nicht.” Tarn war verwirrt. „Aber er schien-” „Natürlich war er am Boden zerstört - er wird vermutlich sterben, und das auch noch völlig umsonst. Ich wäre ebenfalls leicht konsterniert. Aber er hat keinen Moment angenommen, dass ich ihn aus reiner Herzensgüte hier behalten will. Ich habe es in seinem Blick gesehen - er wusste sofort, was ich von ihm erwarte. Ich denke, ich werde ihm etwas Zeit geben, um eventuelle Bedenken zu zerstreuen, was Verrat angeht. Und wer weiß, vielleicht ist er genau der Spion, den ich brauche, immer vorrausgesetzt, dass er nicht schnell und hässlich abkratzt. Er sieht so hübsch aus, wenn er einem direkt ins Gesicht lügt. Es ist dieses gewisse Etwas in den Augen.” Eravier streckte sich und schloss genießerisch die Augen. „Kann ich jetzt gehen?”, fragte Tarn unruhig nach. „Du hast zur Zeit viel zu tun, nicht wahr?”, fragte Eravier. „Nun, es tut mir Leid, aber ich bin nicht in der Stimmung dich zu schonen. Sei in einer Stunde wieder hier. Für den Moment kannst du verschwinden.”
Hatte er eine Wahl? Natürlich nicht. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ er den Wagen, wobei er einen Bogen um die verschmierten Blutflecken auf dem Boden machte.
Während er sich durch den Trubel des Lagers schob, fragte er sich, wann er endlich dazu kommen würde länger als drei oder vier Stunden am Stück zu schlafen. Er hatte die Pferde am Hals, die Sklaven, Karvash und obendrein noch Eravier, der seit dem Überfall kaum Schlaf zu brauchen schien. Die Rebellion hatte ihn bis zu diesem Zeitpunkt nur marginal interessiert, aber jetzt schien er sie als sein neustes Spielzeug entdeckt zu haben, und er musste nicht einmal darauf achten, nichts zu beschädigen. In der übrigen Zeit ließ er seine überschüssige Energie an Tarn aus, oder zitierte ihn simpel hierhin und dahin, um ihm Zeit zu stehlen. Müde fuhr sich Tarn über die Stirn. Nur ein paar Stunden Schlaf…
„Jan? Jan, bist du da?”, flüsterte Valion, aber natürlich war das sinnlos. Jan war verschwunden, das wusste er jetzt. Sein Kopf fühlte sich plötzlich völlig leer an, und sein Haut brannte. Pure Panik brach über ihn herein, ließ sein Herz hämmern und Übelkeit in seiner Kehle aufsteigen. Weg. Jan war weg. Hatte man ihn fortgejagt, während er weggewesen war? Hatte man ihn wegen seiner Krankheit an einen anderen Ort gebracht? War er geflohen oder sogar tot?
Dreh’ nicht durch, sagte er sich selbst, und konnte es doch nicht. So furchtbar hatte er sich nicht einmal gefühlt, als er gebrandmarkt worden war. Schmerzen waren real, aber diese überwältigende Furcht plötzlich allein zu sein war es nicht. Es war als wäre ein Bezugspunkt aus seiner inneren Landschaft verschwunden, einer der wenigen, die er überhaupt besaß. Er dachte an dröhnendes Wasser in seinen Ohren und das Gefühl, Oben nicht von Unten unterscheiden zu können, und kämpfte dagegen an.
Langsam. Langsam, er musste nachdenken. Konnte er herausfinden, wo Jan war? Zum Teufel, er wusste nicht einmal wie Jan aussah! Aber vielleicht würde er ihn trotzdem erkennen, wenn er ihn sah.
Sehen. Er konnte hier nicht raus, aber vielleicht konnte er sich Sicht verschaffen. Er dachte an die einzelne Scherbe, die er versteckt hatte, schob seine Hand in den Ärmel und zog den einzelnen Glassplitter aus seinem Versteck heraus. Er überwand den übermächtigen Drang, einfach ein Loch in die Plane vor ihm zu fetzen und überlegte. Niemand durfte wissen, dass er einen scharfen Gegenstand hatte, geschweige denn etwas so gefährliches wie eine lange Glasscherbe. Sie würden alles durchsuchen, und natürlich auch alles finden, was er mühselig verborgen hatte. Denk’ nach, predigte er sich und rieb sich die Stirn. Es musste wie Abnutzung aussehen, wie das Werk eines Dornenbusches zum Beispiel, der den Wagen zufällig gestreift hatte. Im Halbdunkel ging er die Planen ab, soweit es die Fußfessel erlaubte, und suchte nach bereits vorhandenen Löchern. Er fand eine Stelle, an der der Stoff abgeschabt war und Fäden zog. Gut, durchatmen. Er würde mit anderen, wahllos verteilten Löchern beginnen. Sorgfältig ritzte und schabte er, zerfaserte den Stoff langsam zu einigen winzigen Rissen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber als er fertig war hatte er ein halbes Dutzend kleine, unterschiedlich große Löcher im Stoff. Endlich zufrieden mit seinem Werk konzentrierte er sich auf die ursprüngliche Stelle, die er genug verbreitern wollte um hindurchzusehen. In Millimeterarbeit trennte er Fäden durch, zog sie aus dem Stoffgeflecht, kreiertw einen Spalt, der wie zufällig aussah. Zunächst geriet er zu gerade, und er zog die Linie sorgfältig nach oben, sodass er schräg und unregelmäßig verlief. Endlich am Ziel angekommen zwang er sich dennoch, die Scherbe wieder sorgfältig zu verbergen, erst dann trat er an den schmalen Stoffspalt und zog ihn weit genug auseinander, um hindurchzusehen.
Er hatte Glück, sein Sichtradius war tatsächlich sehr umfangreich, dennoch war er enttäuscht. Er sah nur unbekannte Gesichter, abgesehen von einigen Dienern, die ihm von seinem Fußmarsch zurück zum Pestwagen vage bekannt vorkamen. Er sah einzelne Wächter, aber sie waren nicht in Begleitung von Gefangenen, sondern patrouillierten im Lager. Sklaven sah er nach wie vor keine.
Er suchte Minuten lang die Umgebung ab, und seine Hoffnung sank immer mehr, bis er plötzlich Tarn sah. Er verließ einen Wagen, der etwas abseits stand. Valion konnte seine Miene nicht erkennen, aber für einen Moment blieb er stehen und rieb sich müde die Stirn. Obwohl Valion eigentlich nach Jan Ausschau hielt, beruhigte es ihn Tarn zu sehen. Er hätte ihn gern gefragt, ob er etwas über Jans Verschwinden wusste, aber er machte sich keine Hoffnungen, dass Tarn heute noch einmal zurückkehren würde, und vielleicht war das auch besser so. Er wirkte noch erschöpfter als zuvor. Besorgt verfolgte Valion, wie er das improvisierte Lager durchquerte. Er sprach kurz mit einer Dienerin, die davon eilte, warf einen Blick auf das Essen, das auf den Feuerstellen kochte, schien einen Moment darüber nachzusinnen ob er essen sollte, und wandte sich dann davon ab. Valion schüttelte unwillkürlich den Kopf und kam sich gleichzeitig wie seine eigene Mutter vor. Tarn musste etwas essen, er sah aus als könnte er kaum noch stehen. Hätte er es gekonnt, er hätte ihn gezwungen sich auf die nächstebeste Sitzgelegenheit niederzulassen und sich endlich auszuruhen.
Stattdessen verfolgte er besorgt wie Tarn die Kochfeuer hinter sich ließ und eine andere Richtung einschlug. Er steuerte auf zwei Wächter zu, die gerade in Valions Blickfeld getreten waren. Sie hatte jemand zwischen sich, einen Jungen, der etwa in seinem Alter sein musste. Er war etwas kleiner als Valion und eher untersetzt, viel mehr ließ sich aus Valions Blickwinkel nicht erkennen. Tarn schien mit den Wachen zu sprechen, dann mit ihrem Gefangenen, und der Junge gestikulierte ausladend, schien sich gegen Tarns Worte zu verteidigen. Wie ein Blitz traf Valion die Erkenntnis, dass es Jan sein musste. Er war also tatsächlich noch im Lager, aber irgendetwas war geschehen. Valion versuchte mehr zu erkennen, aber Jan war zwischen den Wachen eingekesselt, und wurde jetzt weggeführt, hinter den Wagen entlang, doch eindeutig in seine Richtung. Sie brachten ihn zurück, und es konnte sich nur um Minuten handeln, bis er wieder da war.
Valion wollte sich schon von seinem Beobachtungsposten zurückziehen, als sein Blick auf einen anderen Jungen fiel, der gerade von einem anderen Wächterpaar aus dem Schatten eines Wagens herausgezerrt wurde. Er gab Jan anscheinend ein erkennendes Kopfnicken, dann wurde er mit einem Stoß in seinen Rücken weiter geschickt. Von der ersten Sekunde an zog er Valions Blick wie magnetisch an. Er war sehr mager, aber er bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit durch die Welt, als würde ihm alles gehören. Er hatte wilde, leichte Locken, deren helle Farbe er im Schein der Feuer überhaupt nicht einschätzen konnte. Aber was Valion am meisten traf war, dass er genau wie Nisha aussah.
Es war keine zufällige Ähnlichkeit, obwohl er sich die Augen rieb und blinzelte, in der vagen Hoffnung, dass er sich das alles nur einbildete. Aber nein, er war ihr perfektes Ebenbild, der selbe lange Hals, die selben zierlichen Hände, die gerade Nase, die dichten dunklen Augenbrauen, die bei Nisha nur knapp an der Grenze zum Maskulinen vorbeischrammten. Und wie bei Nisha war Valion vom ersten Moment an völlig gefangen. Sein Herz begann zu hämmern, und er fragte sich sofort, wer dieser Gefangene war. Er wünschte, er hätte ihn länger im Blick behalten können, aber die Wachen zerrten ihn und Jan auseinander, und alle verschwanden aus seinem Blickfeld. Valion hätte am liebsten geflucht, aber stattdessen wandte er sich ab. Jan würde gleich zurück kommen, und wenn er den Jungen kannte, dann würde er ihm sagen können wer es war. Ungeduldig lief er auf und ab und lauschte auf Stimmen oder Schritte.
Nur wenige Minuten später schloss jemand die Tür zu Jans Quartier auf, und eine barsche Stimme befahl: „Los, rein da. Und wenn du mich nochmal trittst, wirst du den Tag bereuen an dem du geboren wurdest.” „Wie kommst du darauf, dass ich das nicht schon längst tue?”, fragte Jan gehässig, und Valion war unendlich froh, seine Stimme zu hören. Trotzdem verhielt er sich still, bis Jan angekettet worden war und die Wächter die Tür zu warfen, um diese ebenfalls zu verschließen. „Ich brauch’ jetzt erstmal eine Pause”, brummte eine der Wachen, und sie stapften davon, wohin auch immer sie ihre nächste Aufgabe führte.
Trotzdem wagte Valion erst nach einer längeren Wartezeit, Jan zu rufen. „He, Jan!” „Oh, du bist wach. Ich dachte du schläfst schon.” „Nein, noch nicht. Bist du in Ordnung?”, fragte Valion besorgt. „Na klar. Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch”, brummte Jan von der anderen Seite und seufzte. „Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht, als du nicht da warst”, gab Valion offen zu. „Ich dachte erst du schläfst, und dann… ich hab schon befürchtet sie hätten dich rausgeschmissen.” Jan schwieg einen Moment, dann sagte er: „Du hast dir Sorgen gemacht?” Es klang ungewöhnlich gerührt, und Valion vermutete, dass es auch für Jan ein langer Tag gewesen sein musste. Es war untypisch für ihn, dass er nicht sofort mit einem starken Spruch antwortete. Dennoch beschloss er ehrlich zu sein und sagte: „Und was für welche! Ich wusste ja nicht, ob du noch kränker geworden bist, oder… keine Ahnung, ich war ziemlich in Panik.” Er musste jetzt selbst etwas darüber lachen, wie erschrocken er wirklich gewesen war. „Du hättest mich sehen sollen, ich war wie ein Huhn ohne Kopf.” Es folgte noch mehr ungewöhnliche Stille. „Jan? Geht es dir gut?” „Was? Ja, ja...”, antwortete Jan abwesend, aber seine Stimme schwankte, „Ist etwas ungewohnt, dieses Gefühl… dass es tatsächlich jemand kümmert, wenn ich nicht da bin.” Valion schwieg irritiert. Er hatte bisher immer den Eindruck gewonnen, dass Jan früher beliebt gewesen war, dass es viele Menschen gegeben hatte, die ihn mochten. Aber er wollte nicht ausgerechnet jetzt nachbohren, stattdessen fragte er: „Was wollten sie von dir?” Jan seufzte. „Sie behalten mich hier… vorerst. Das wollten sie mir sagen. Ich bin nicht so krank, dass ich unbedingt weiter hier drin sitzen muss, also werde ich genauso wie du morgen umquartiert werden. Aber sie sind nicht sicher, ob ich wieder gesund werde. Ich werde vorläufig bleiben, aber langfristig könnte das trotzdem das Aus bedeuten.” „Also gute und schlechte Nachrichten”, meinte Valion etwas bedrückt, und Jan stimmte zu: „Ja, kann man so sagen. Aber he, es ist ja nicht alles schlecht. Wir hatten heute beide Gelegenheit, uns etwas draußen umzusehen. Was hast du gesehen?” „Es ist ein bisschen spät, meinst du nicht? Wir sollten lieber versuchen zu schlafen.”, wandte Valion ein. „Kannst du nach der ganzen Aufregung denn schlafen?”, fragte Jan kläglich. „Ich hab eher das Gefühl, ich werde jeden Moment die Wand hier hoch laufen. Den einen Meter, den ich mit dieser Kette vorwärts komme, sollte ich wohl sagen.” Valion wollte protestieren, weil sie allen Schlaf brauchten, den sie bekommen konnten. Aber gleichzeitig war er selbst nervös, was der morgige Tag bringen würde, und die Aufregung Jan gesehen zu haben legte sich noch lange nicht. „Eigentlich nicht”, gab er zu. „Wir können uns genauso gut noch unterhalten. Aber ich lege mich trotzdem schon hin.” Valion schob sein Bündel zurecht und breitete seine Decke aus, und er hörte, wie Jan nebenan das selbe tat. Für einen Moment lagen sie beide still, und nur ihr Atem war zu hören. Valion starrte an die Decke des Wagens und dachte daran, dass darüber tausende Sterne am Himmel standen. Es wäre schon gewesen, wenn er sie mit Jan hätte betrachten können.
„Erzähl’ mir was”, forderte Jan ihn auf, und seine Stimme klang plötzlich verloren. „Egal, was du heute gemacht hast. Ich will alles hören.” Valion sah hin zu der Wand, die ihn von Jan trennt, und er stellte sich vor, dass Jan in diesem Moment dasselbe tat, als er sagte: „Vielleicht kann ich einschlafen wenn ich deine Stimme höre.”