„...lion… Valion!“
Sein geflüsterter Name drang nur bruchstückhaft zu ihm durch, als bedeutungslose Wortfetzen. Er konnte die Stimme nicht einmal zuordnen. Eine Hand rüttelte ihn an der Schulter und zerrte ihn mitleidlos vom Grund des Schlafs hinauf an die Oberfläche; da hatte jemand den festen Vorsatz, ihn aus dem Bett zu werfen. So energisch, wie er durchgeschüttelt wurde, konnte das nur Arinda sein.
Mit einem unwilligen Laut wurde er halb wach, und versuchte gleich darauf sich die Decke über den Kopf zu ziehen. „Lass mich schlafen“, murmelte er und drehte sich weg, vergrub sein Gesicht in seinem Kissen. Es konnte auch noch gar nicht so spät sein, sonst hätte die Sonne durch das Fensters seines Zimmer geschienen und ihn geweckt.
Die rüttelnde Hand ließ jedoch nicht locker, und im nächsten Moment musste Valion sein Bettzeug festhalten, damit es nicht entführt wurde. Aber darauf war er vorbereitet, und ein schläfriges Grinsen zog über sein Gesicht; warum versuchte Arinda überhaupt noch, ihm die Decke zu stehlen? Inzwischen musste sie ihre Lektion doch gelernt haben.
Mit geschlossenen Augen und nicht einmal zur Hälfte wach zog er seine Decke mit einem entschlossenen Ruck wieder zu sich heran. Der darauf folgende Laut der Entrüstung wurde abrupt erstickt, als Valion zum Gegenangriff überging. Er packte sein Kissen, zog es unter seinem Kopf hervor und hieb damit geradewegs nach dem Störenfried. Empörtes Schnaufen bestätigte ihm, dass er getroffen hatte, aber wenn er dachte, dass er damit gewonnen hatte, hatte er sich getäuscht. Bevor er sich wieder umdrehen und einfach weiter schlafen konnte, bekam er sein Kissen postwendend zurück, direkt auf den Kopf.
Gleich darauf balgten sie sich; er versuchte sein Kissen zurück zu bekommen, sie stopfte es ihm ins Gesicht, ließ es aber erst recht nicht los, als er es weg zerren wollte. Sie lachte laut und amüsiert auf, während sie sich über ihn beugte und ihn mit seinem Kissen schlug, und obwohl sie wirklich niederträchtig vorging, musste er trotzdem mitlachen. Aber sein schlaftrunkener Verstand registrierte verwirrt, dass das nicht Arinda war, sie war zu groß und die Stimme zu dunkel. Seine Mutter? Nein, noch dunkler.
Schließlich hatte er genug und hob die Hände, um sich zu ergeben. „Ich bin wach“, schnaufte er, und sie ließ das Kissen sinken, sodass er sich endlich aufrichten und ihr ins Gesicht sehen konnte.
Im nächsten Moment wünschte er, er hätte es nicht getan. Nur, um noch einen Moment länger in dem Glauben zu bleiben, dass er zuhause war, statt unendlich weit davon entfernt.
Er erfasste seine Umgebung mit einem Blick. Er war nicht im Haus seiner Eltern, sondern im Halbdunkel eines Wagens. Das war nicht sein Bett, nur ein Lager. Und die Frau, die neben ihm saß und sich über ihn beugte war weder seine Mutter noch eine seiner Schwestern, sondern die Dienerin, deren Namen er nicht kannte.
Sie musste bemerkt haben, dass seine gute Laune mit einem Mal wie weg geblasen war, denn der amüsierte Ausdruck wich aus ihrem Gesicht. Er wurde ersetzt von Verwirrung und Sorge, und Valion sah die unausgesprochene Frage in ihren Augen, auch ohne dass sie sie formulieren musste: Was hast du?
„Es ist nichts“, murmelte er abwehrend und senkte den Blick, „Tut mir Leid wegen dem Kissen.“
Das schien das Letzte zu sein, das sie kümmerte, denn sie ging überhaupt nicht darauf ein. Stattdessen sah sie ihn lange und erwartungsvoll an, fast, als würde sie darauf bestehen, dass er seine gedrückte Stimmung erklärte. Aber den Gefallen tat er ihr nicht, und schließlich gab sie mit einem Achselzucken und einem leisen Seufzen auf und wandte ihren forschenden Blick ab.
Stattdessen fiel ihr etwas anderes ins Auge, und sie runzelte die Stirn. Valion folgte ihrem Blick und entdeckte das Bündel mit dem Spiegel und den Scherben, das er vor dem Schlafengehen unter sein Kopfkissen gesteckt hatte. Er hatte bis jetzt überhaupt nicht mehr daran gedacht. Nun lag es offen auf dem Boden, und das Glas schimmerte, trotz des Stoffs, der um den Spiegel und die Scherben gewickelt war, verräterisch im Dunkeln.
Bevor er selbst danach greifen konnte,hatte die Dienerin das Bündel schon aufgehoben. Ihr Blick verdüsterte sich, als sie begriff, was sie in der Hand hatte, und im nächsten Moment hielt sie es Valion ungehalten unter die Nase. Ihr Gesichtsausdruck war unmissverständlich.
Lass das nicht offen liegen.
Vermutlich hatte sie jedes Recht verärgert zu sein, denn immerhin hatte sie seine Sachen vor der Entdeckung bewahrt, aber trotzdem regte sich Widerwillen in Valion. „Ich habe noch kein Versteck dafür gefunden“, murmelte er ausweichend, und im Grunde entsprach das ja auch der Wahrheit. Er hätte in der Dunkelheit niemals einen sicheren Ort gefunden, an dem er seine Sachen unterbringen konnte, und er hatte nicht gewagt, wieder Licht zu entzünden. Es war ihm zu auffällig vorgekommen.
Er streckte die Hand aus und wollte ihr das Bündel abnehmen, aber im selben Moment zog sie die Hand weg und machte stattdessen eine wegwerfende Geste. Du solltest es loswerden, sagte sie mit ihrer Mimik, und ließ keinen Zweifel daran, dass sie das todernst meinte.
„Nein!“, antwortete er ungehalten und hielt ihr die offene Hand hin, als Aufforderung, dass sie seine Sachen zurückgeben sollte, aber noch weigerte sie sich, stur und mit zusammengezogenen Brauen, hob fragend die Schultern.
Warum?
„Das gehört meiner Schwester! Zufrieden? Also gib her!“
Sie erstarrte, forschte wieder in seinem Gesicht, ob er das ernst meinte. Erst als sie sich darüber sicher war, hielt sie ihm das Bündel hin. Aber ihr Blick blieb darauf fixiert, als könnte sie durch reine Willenskraft durch den Stoff hindurch sehen. Es schien ihr so wichtig, dass er wie automatisch seufzte und fragte: „Willst du es sehen?“ Sie nickte, und fast gleichzeitig hoben sie den Kopf und sahen sich um. Keiner von ihnen lächelte darüber, obwohl sie im gleichen Moment bemerkten, wie reflexhaft der jeweils andere reagiert hatte. Dafür war die Gefahr viel zu groß und die Konsequenzen viel zu ernst.
Erst als sie beide geschwiegen, gelauscht und sich umgesehen hatten, legte Valion sorgfältig die Überreste des Spiegels frei und legte die Scherben sorgfältig beiseite, bevor er ihr den Rahmen reichte, den sie so vorsichtig entgegen nahm wie ein rohes Ei.
Sie betrachtete den Spiegel von allen Seiten, fuhr mit den Fingern die Details in der Struktur der Schnitzerei nach. Winzige Reflexe tanzten über ihr Gesicht, wieder gespiegelt von den letzten, hartnäckigen Glassplittern im Rahmen.
„Der gehört Mila“, begann Valion wie von selbst, „Sie ist sieben. Wenn du nicht aufpasst, stolpert sie in Gedanken über ihre eigenen Füße. Deshalb hat Mutter ihr den Spiegel weggenommen, damit ich ihn aufbewahre. Weil sie ihn fallen lassen würde. Ich- manchmal hab ich ihn ihr wieder gegeben, und sie hat ihn stundenlang angesehen. Sie mag Vögel… und-“
Er brach ab. Plötzlich hatte er schon wieder Tränen in den Augen, aber er schämte sich nicht, als er sie weg wischte, denn seinem Gegenüber schien es nicht besser zu gehen. Sie sah wehmütig aus, als hätte auch sie in diesem Moment jemand vor Augen. Vielleicht sogar ein kleines Mädchen in Arindas oder Milas Alter, mit der gleichen Stupsnase und dem gleichen lockigen schwarzen Haar wie ihre große Schwester.
„Hast du auch Schwestern?“, fragte er. Sie nickte, legte den Spiegel auf ihren Schoß, schien zu zählen, hob dann beide Hände, und Valion zählte ebenfalls. Sechs, das war viel. „Und Brüder?“ Sie zögerte, hob dann zwei Finger. „Wo sind sie jetzt?“ Sie zuckte nur mit der Achseln, verschloss den Mund mit der Hand, schüttelte den Kopf. Kann ich dir nicht erklären.
„Aber du könntest es mir sagen“, protestierte Valion verzweifelt. Weil es wichtig war. Er wollte mehr über sie wissen, jetzt, da er noch mehr als sonst das Gefühl hatte, dass sie etwas gemeinsam hatten. Dass sie vielleicht beide die selbe Art von Heimweh hatten. „Du kannst sprechen. Warum redest du nicht mit mir?“ Sie zögerte, diese Frage zu beantworten. Als sie sich schließlich äußerte, schien es mehr ein vorgeschobener Grund als alles andere zu sein. Wir könnten belauscht werden, sagte sie schließlich mit einigen Gesten. „Ich weiß“, sagte er und seufzte, „vielleicht werden wir gerade jetzt belauscht. Aber… was ist schon dabei, wenn jemand deine Stimme hört? Du musst mir keine Geheimnisse verraten. Ich kenne nicht mal deinen Namen.“
Sie hob die Hände um zu antworten, und wurde abrupt unterbrochen. „Fleurie?“
Die tiefe Männerstimme, die den Namen rief, schien direkt vom Eingang des Wagens zu kommen, und sie zuckten beide zusammen, völlig ertappt. Der Rufende klang nicht zornig, aber doch Ehrfurcht gebietend genug, dass Valion den Drang spürte zu antworten. „Meint er dich?“, flüsterte er hastig, während er sich den Spiegel griff, und Fleurie - endlich kannte er ihren Namen - nickte hastig, sprang auf, wobei sie unmerklich und ohne erkennbaren Grund zusammen zuckte, und bedeutete ihm, zu bleiben wo er war und seine Sachen zu verstecken, bevor sie los hastete.
Valion gehorchte und sammelte schnell und leise alles ein, während er lauschte, wie Fleurie zum Ausgang des Wagens ging. „Hier steckst du“, brummte der Mann; offensichtlich war er ganz gezielt auf der Suche nach ihr gewesen war. „Wo steckst du, Mädchen? Hättest längst zurück sein müssen mit dem Jungen.“
Die Antwort war kurze Stille, während Fleurie sich wohl verständlich machte. Valion nutzte die Zeit, um sein Bündel einzuwickeln und schnell wieder unter sein Kissen zu schieben. Hastig legte er seine Decke zusammen und richtete das Kissen, damit hoffentlich niemand auf die Idee kam, sein Lager noch einmal auseinander zu nehmen, vor allem nicht aus dem banalen Grund, dass es unordentlich war. Dann griff er sich seine Jacke und seine Schuhe, das Einzige, das er vor dem Schlafen gehen abgelegt hatte und spurtete zum Ausgang.
Er trat nach draußen und duckte sich instinktiv, als er sah, wer da gekommen war um sie abzuholen. Die meisten Wächter waren schon große und grobe Gestalten, aber dieser Mann überragte sie noch einmal um ein gutes Stück. Er war ein Koloss, ein lebendig gewordener Felsen mit einem Kreuz so breit wie zwei Männer. Valion schätzte ihn auf Jefrems Alter, um die fünfzig. Sein Haar war so unauffällig dunkelblond, dass es auch grau hätte sein können, genau wie sein kurz geschnittener Bart. Valion erinnerte sich vage, ihn schon aus der Entfernung gesehen zu haben, bei den Pferdeknechten.
„Da bist du“, stellte der Mann kurz angebunden, aber nicht unfreundlich fest. „Komm mit.“ „Wohin?“, fragte Valion, während er in seine Schuhe schlüpfte, aber die einzige Auskunft die er erhielt war ein gebrummtes „Zu Jefrem.“ Das schien alles zu sein, was er an Erklärung für nötig befand, denn im nächsten Moment stapfte er schon los. Valion blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und sich im Stillen zu fragen, was Jefrem von ihm wollte. Marceus hatte zwar gestern vorgeschlagen, dass er mit ihm reden würde, aber seitdem hatten sie sich nicht mehr gesprochen. Und er hatte auch Anya und Jadzia gesehen, wie sie mit Jefrem gesprochen hatten, also war noch längst nicht sicher, was da auf ihn zu kam.
Wenigstens musste er Fleurie nicht darum bitten, dass sie ihn begleitete - sie beeilte sich ihm zu folgen und blieb wie selbstverständlich an seiner Seite.
Zu dritt bahnten sie sich einen Weg durch das geschäftige Treiben, das heute noch hektischer zu sein schien als sonst. Es konnte kaum an den Durchsuchungen liegen, die rechtfertigten kein Chaos diesen Ausmaßes. Jeder, der nicht irgendetwas durch die Gegend trug oder reparierte, war entweder damit beschäftigt, Listen zu konsultieren oder verärgert den Kopf zu schütteln. Sie schienen die Bestände zu prüfen, aber warum?
Dazu kam der Lärm, der, je näher sie ihrem Ziel rückten, immer stärker anschwoll. Hammerschläge, geschäftiges Sägen, das Brechen von Holz und das Geräusch von Gegenständen, die zu Boden geworfen wurden, manchmal sogar das Splittern von Keramik, ohne dass Valion zuordnen konnte, was es damit auf sich hatte.
Trotz der Geschäftigkeit kamen sie gut voran, denn niemand wagte es, ihrem hünenhaften Begleiter im Weg zu stehen, und der schien wiederum sorgsam darauf zu achten, dass seine Schützlinge nicht um gerempelt oder von ihm abgedrängt wurden. Er war gleichzeitig ein menschlicher Pflug, an dem sich die Menge links und rechts teilte, und ein geduldiger Schäfer, der seine zwei Schäfchen durch das allgegenwärtige Durcheinander führte. Wenn ihm niemand Platz machte, dann schuf er ihn mit seinen großen Händen. Zwischendurch, wenn Valion oder Fleurie drohten den Anschluss zu verlieren, hielt er inne und wartete auf sie.
Das, und der Umstand, dass Fleurie ihm ohne Bedenken folgte, ließen Valions Befangenheit ihm gegenüber schnell schwinden. Er war vielleicht groß und einschüchternd, aber nicht ansatzweise so aggressiv oder überheblich wie einige Wächter. Nur deshalb wagte Valion schließlich, ihn trotz seiner Wortkargheit wieder anzusprechen.
„Warum gehen wir zu Jefrem?“, fragte er, und der Mann wandte sich im Gehen ihm zu, runzelte die Stirn. „Hrmm… hat keiner was gesagt?“, fragte er. „Nein“, gab Valion ehrlich zu, und Fleurie hob die Hände, zu einer Ich konnte es ihm ja schlecht erklären-Geste.
Der Mann nickte langsam, und erklärte dann, immer noch kurz angebunden: „Weiß auch nicht. Sollte dich nur abholen. Frag’ ihn nachher.“ Anscheinend hatte er damit alles gesagt, denn er schwieg erneut. Gesprächigkeit gehörte wohl einfach nicht zu seiner Art, und bevor Valion sich überlegt hatte, wie er die Unterhaltung weiter führen könnte, waren sie auch schon an ihrem Ziel, dem Zentrum des Chaos.
Es gestaltete sich als schwierig, die Verheerung auf einen Blick zu erfassen. Hauptsächlich, da einfach alles im Umkreis schwarz war und vor Nässe triefte. Valion blickte auf einen Haufen von durchweichten und verkohlten Trümmern, die irgendwann einmal ein Zelt und ein Wagen gewesen sein mussten. Das Feuer musste gewaltig gewesen sein. Was ihn aber offenbar nicht daran gehindert hatte, es in aller Seelenruhe zu verschlafen. Valion hatte keine Ahnung, wie das zugegangen sein konnte, und gleichzeitig seltsam froh, dass er zumindest diese Aufregung verpasst hatte.
Überall waren Diener und Knechte wie Ameisen damit beschäftigt, die Ruinen in ihre Einzelteile zu zerlegen, und damit war auch der Lärm erklärt. Brauchbares wurde von Unbrauchbarem getrennt, Verlorenes anscheinend auf Listen notiert, Dinge demontiert und repariert. Es war unmöglich, den Überblick zu behalten.
Noch während Valion sich umsah und versuchte, bekannte Gesichter zu erkennen, entdeckte er Anya; wie immer zog sie selbst in einer Menschenmenge die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Sie stand bei einer Gruppe von drei Frauen, anscheinend in ein ernstes Gespräch vertieft. Keine der drei war schlicht genug gekleidet, um eine Dienerin sein zu können. Allerdings konnten ihre teuren Kleider und sorgfältig frisierten Haare kaum darüber hinweg täuschen, dass sie alle blass und übermüdet waren. Eine der Frauen, eine dunkelhäutige Frau etwa in Anyas Alter, hustete immer wieder krampfhaft in ein Taschentuch und schwankte leicht.
Anya wiederum war anders gekleidet als sonst, praktisch und ungewöhnlich zurückhaltend. Er sah nur ihren Hinterkopf und ihren Rücken, aber sie hatte ihre langen Locken heute aufgesteckt und geflochten, sodass sie ihr bei der Arbeit nicht in die Quere kamen, und ihr Kleid zeigte Rußflecken. Valion hätte ihr eigentlich nicht zugetraut, dass sie sich selbst die Hände schmutzig machen würde. Empfand sie das nicht als unter ihrer Würde?
Dann legte eine der Frauen vertraulich eine Hand auf Anyas Unterarm und wies in seine Richtung. Sobald Anya ihn sah, verabschiedete sie sich schnell und ging energischen Schrittes auf Valion und Fleurie zu.
Valion erschrak fast, als er beim Näherkommen die tiefen Ringe unter ihren Augen sah. Auch Anya sah unendlich müde aus, als hätte sie nur eine oder zwei Stunden am Stück geschlafen. Trotzdem schien sie heute seltsam gelassen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht vertiefte sich sogar noch, als sie Fleurie und ihrem Begleiter zu nickte. „Da seid ihr ja. Danke für deine Hilfe, Mischa“, sagte sie und winkte ihren Begleiter fort, bevor sie sich ganz Valion zuwandte.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, ihr nicht mehr so misstrauisch zu begegnen, weckte Anyas plötzliche Gelassenheit schon wieder seinen Argwohn. Warum war sie so gut gelaunt? Selbst wenn ihre Ruhe ihrer Müdigkeit geschuldet war, er hätte erwartet, dass sie ihm feindselig begegnen würde. Nach allem, was er getan hatte…
Der Gedanke war unwillkommen, brachte schlagartig sein Schuldbewusstsein zurück, und ließ seine Wange in Erinnerung an Jadzias Ohrfeige glühen. Gestern wolltest du dich noch entschuldigen, und jetzt verdächtigst du sie schon wieder. Was ist denn los mit dir?
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht eine Entschuldigung zu stammeln, aber dazu kam er gar nicht mehr, weil Anya das völlig ignorierte. Stattdessen verkündete sie, gut gelaunt und voller Überzeugung: „Also, Herzchen, ich habe dir Arbeit besorgt!“
„Was?“, fragte Valion, jetzt auf völlig neue Art verwirrt. „Arbeit?“ „Ja, davon hat Landvolk wie du doch bestimmt schon gehört“, erklärte Anya, ein amüsiertes Funkeln in den Augen, und fügte, als wäre das völlig selbstverständlich, hinzu: „Nach dem Feuer gestern — das du natürlich komplett verschlafen hast, wie ich bemerkt habe, deinen gesunden Schlaf möchte ich haben — gibt es einige Aufräumarbeiten. Ganz davon abgesehen, dass wir sehen müssen, was noch zu retten ist und wie weit wir unter diesen Umständen überhaupt kommen. Und da du offensichtlich nur Unsinn anstellst, wenn du dich langweilst, habe ich mit Jefrem gesprochen. Du wirst heute unter seiner Aufsicht aushelfen. Vielleicht hast du dann auch weniger Energie für deine zerstörerischen Tendenzen und sonstigen Sperenzchen.“
„Meine was?“, fragte Valion. Langsam kam er sich regelrecht begriffsstutzig vor, und Anya unterstützte dieses Gefühl nach Kräften, indem sie ihn ansah, als wäre er ein bisschen dumm. „Deine Wutanfälle, Dummerchen. Mir ist aufgefallen, dass du ungehalten wirst, wenn du nichts zu tun hast“, sagte sie gehässig. Valion wusste gar nicht, ob er jetzt wütend oder verblüfft sein sollte, weil sie ihm sein Fehlverhalten vom Vortag nicht nur so aufs Brot schmierte, sondern sich gleich noch mit harter Arbeit bei ihm rächte. „Zu deinem Glück, oder Pech, wie man es sehen will“, fuhr sie fort, „brauchen wir gerade jeden Mann… und halbstarken Knaben. Aber keine Sorge, wenn alle mit anpacken, werden wir morgen alle Vorbereitungen für die Abreise getroffen haben.“
„Abreise?“, fragte er überrumpelt, und hätte sich danach am liebsten selbst eine verpasst. Anya war anscheinend nicht die Einzige, die zu wenig geschlafen hatte. Er hörte sich an, als hätte man das Innere seines Kopfes mit Quark getauscht.
Anya lächelte süß, was vermutlich bedeutete, dass sie ihn heimlich auslachte, und schloss mit den Worten: „Frag’ einfach Jefrem, wo du mit anfassen kannst. Vielleicht wirst du dann wach, oder zumindest aufnahmefähig. Es wäre ein Wunder, aber ich bin ein hoffnungsvoller Mensch. Fleurie? Du kommst mit, ich brauche dich.“
Und damit rauschte sie auch schon wieder davon. Fleurie runzelte die Stirn, zuckte dann aber gegenüber Valion die Achseln, nickte ihm zu und folgte Anya.
Valion sah ihnen einen Moment nach, unschlüssig, was er tun sollte. Anya kehrte zu ihren vorherigen Gesprächspartnern zurück und nahm offensichtlich ihre Unterhaltung wieder auf, nicht ohne, dass die drei Frauen sich neugierig zu Valion um wandten und ihn aus der Ferne musterten. Die jüngste von ihnen, eine hübsche blonde Frau, fing Valions Blick und zwinkerte ihm zu, warf ihr Haar zurück. Ihr Gebaren war ganz Anya, und er beschloss, lieber das Weite zu suchen und endlich heraus zu finden, wie er behilflich sein konnte. Eine Anya, mit der er zurecht kommen musste, war bei weitem genug.
Es gestaltete sich schwierig, im Gedränge überhaupt jemand zu finden. Niemand wusste genau, wo Jefrem war, und die Auskunft lautete meistens: „Sieh mal da drüben nach.“ Leider war die Auskunft war bei jedem neuen „da drüben“ die gleiche. Und die meisten arbeiteten ohnehin so konzentriert, dass Valion nicht stören wollte. Die Stimmung war immer noch angespannt, und umso energischer schien sich jeder einzelne auf die Arbeit zu stürzen, als ließe sich die Unruhe damit vertreiben.
Auf seiner Suche umrundete Valion das große, zerstörte Zelt und betrachtete die Verheerung, die das Feuer angerichtet hatte. Obwohl das Skelett, das die Zeltplanen getragen hatte noch mehr oder minder stand, wirkte es instabil. Versengter Stoff flatterte traurig im Wind oder hing immer noch tropfend an verkohltem Holz. Der Boden war von den Massen an Löschwasser schlammig aufgeweicht.
Valion hatte das Zelt gerade halb umrundet, als ihm Marceus ins Auge fiel. Mit in die Seiten gestützten Armen stand er da und rief jemand, der in den Ruinen des Zeltes hantierte einige Worte zu, die über dem allgegenwärtigen Lärm unverständlich waren. Valions Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er ihn sah, nur um dann wie verrückt zu schlagen. Er fühlte sich sofort verlegen, und das Schlimmste war, dass er nicht einmal wusste, ob Marceus sich freuen würde ihn zu sehen. Seit gestern hatten sie schließlich kein Wort mehr miteinander wechseln können.
Zaghaft ging er auf Marceus zu, und er konnte nicht anders, als ihn dabei die ganze Zeit anzustarren. Wo hatte er die letzten Tage überhaupt seine Augen gehabt? Immerhin hatte er Marceus noch vor Jan wirklich kennen gelernt, und auch auf Anhieb gemocht.
Aber anscheinend hatte er bis heute völlig übersehen, wie gut aussehend Marceus wirklich war, selbst in seiner eher abgerissenen Kleidung, die rußig und mit Schlamm bespritzt war. Die breiten Schultern, das dunkle Haar, die starken Arme, die vollen Lippen, die trotz seiner Konzentration ein leichtes Lächeln zeigten… einfach alles an ihm wirkte anziehend auf Valion. Und dieser Anziehung auf dem Fuße folgte das schlechte Gewissen und die Verwirrung, alle noch so stark und frisch wie am vorigen Tag. Fast hätte er sich umgedreht und das Weite gesucht, weil ihm nicht ein sinnvoller Satz einfiel, den er zur Begrüßung hätte sagen können.
Reiß’ dich zusammen, schalt er sich selbst, du bist hier um beim Arbeiten zu helfen, und für sonst nichts. Sag’ einfach Hallo.
Grimmig ignorierte er sein klopfendes Herz.
Marceus rief gerade laut „Ihr könnt anfangen!“ zum Zelt hinüber, als er bemerkte, dass Valion neben ihm aufgetaucht war. Er schien erst überrascht, und dann verlegen zu sein. „Oh, hallo“, sagte er knapp, wandte sich dann aber gleich wieder ab, um konzentriert geradeaus zu starren. Aber dass Valions Auftauchen ihn aus dem Konzept brauchte, konnte er nicht verbergen. Er biss sich unsicher auf die Unterlippe, und die Röte auf seinen Wangen war fast unmerklich - aber eben nur fast.
Die Möglichkeit, sich einfach zusammen zu reißen, rückte für Valion schlagartig in weite Ferne. „He-“, begann er, und seine Stimme war plötzlich so heiser, das er sich räuspern musste. „Ich bin zum Helfen da.“ Marceus nickte, sah ihn aber immer noch nicht an und blickte weiter konzentriert gerade aus. „Gut, es gibt auch einiges zu tun. Aber jetzt ist es gerade-“ „Hör zu, wegen gestern-“, begann Valion unvermittelt, und weil Marceus immer noch gerade aus sah, stellte er sich einfach direkt in sein Blickfeld.
Nur, dass Marceus das gerade gar nicht zu passen schien. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt um-“, begann er nervös, aber Valion wollte sich nicht abwimmeln lassen. „Ich wollte nur sagen, dass-“ — „Ja, aber nicht- pass auf!“
Bevor Valion überhaupt verstand, was passierte, legte sich eine von Marceus Händen auf seinen Rücken und die andere auf seine Schulter, und er zog ihn zwei Schritte mit sich. Völlig überrumpelt stolperte Valion direkt in seine Arme und außer Reichweite. Er spürte nur einen Luftzug in seinem Rücken, hörte Knirschen und Splittern, und dann landete direkt hinter seinen Füßen, genau an dem Fleck, an dem er eben noch gestanden hatte, etwas mit so viel Wucht auf dem Boden, dass Matsch hoch spritzte. „Ich sagte doch, das ist nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte Marceus und grinste schief zu ihm herunter.
„He, alles in Ordnung?“, brüllte eine Stimme hinter ihnen, die Valion vage bekannt vorkam, aber er nahm sie nur am Rande war. Er war viel zu abgelenkt davon, dass Marceus Hand immer noch auf seinen Rücken lag, und er sich immer noch unbeholfen an ihn klammerte. Marceus war warm, und Valion konnte seinen Herzschlag spüren, ein wenig schneller als normal. Vielleicht weil sie sich beide erschrocken hatten. Oder weil sie sich immer noch aneinander fest hielten. Aus der Nähe sah er noch besser aus. Und er roch gut. Wenigstens stand jetzt für Valion außer Frage, warum er ihn gestern geküsst hatte; die Frage war eher, warum er das nicht schon viel eher getan hatte.
Und wenn du ihn nicht gleich los lässt, kannst du auch gleich eine öffentliche Kundgebung abhalten, stellte sein Verstand spöttisch fest, und hastig trat er einen Schritt zurück und wäre fast über den Großteil der Dachkonstruktion gestolpert, die nur wenige Zentimeter hinter ihm zu Boden gestürzt war. Ohne mit der Wimper zu zucken griff Marceus wieder zu und hielt ihn an der Hand fest, sodass er nicht fiel.
„Das war knapp“, sagte er halb erschrocken, halb amüsiert über Valions verdutzten Blick. „Du musst aufpassen, hier ist alles instabil, und die Planen sind klatschnass und verdammt schwer. Das da wäre uns beim Abbau vermutlich alles auf den Kopf gefallen.“ „Also habt ihr es einfach gleich einstürzen lassen?“, fragte Valion mit einem skeptischen Blick auf das Wirrwarr von gesplitterten Holz und verkohlten, nassen Stoff. „Ja, und ich sollte verhindern, dass sich jemand direkt drunter stellt. Wie du zum Beispiel.“ „Tut mir leid“, sagte Valion kleinlaut, aber Marceus lächelte nur. „Schon gut.“
Einen Moment schwiegen sie. Marceus hielt immer noch Valions Hand fest, und er machte keine Anstalten sie los zu lassen. „Also, wegen gestern…?“, fragte er zaghaft. Und Valion hätte fast, völlig ohne Nachzudenken, angefangen zu reden. Es war ihm plötzlich egal, wer zuhörte, oder wer sie sah, wie sie sich an den Händen hielten, oder irgendwelche Schlüsse daraus zog.
Im nächsten Moment wurden sie fast von einem der Pferdeknechte über den Haufen gerannt, der wie der Blitz zu ihnen gelaufen war. „Himmel, ich frage, ob ihr in Ordnung seid, und ihr antwortet nicht?“, fragte er gereizt und umrundete die herab gestürzten Dachgerüste mit einem prüfenden Blick, bevor er Marceus fixierte. Der ließ vor Überraschung reflexartig Valions Hand los.
„Tut mir leid Danilo, ich-“ „Egal. Euch hat nichts erwischt, oder?“, fragte Danilo, und gab sich erst zufrieden, als Marceus den Kopf schüttelte. „Na gottseidank… so was wie damals können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen.“
Valion hätte beinahe zu einer Frage angesetzt, was er damit meinte, aber Marceus schüttelte bedeutungsvoll den Kopf.
Frag nicht. Lange, lange Geschichte.
Die Gewissheit, dass niemand zu Schaden gekommen war, schien Danilo jedenfalls sichtbar zu entspannen. „Schön, dann bauen wir jetzt den Rest ab. Der ist stabiler, da kann weniger schief gehen“, sagte er, bevor sein Blick wieder auf Valion fiel und er ihn kurz und eindringlich musterte, als wollte er ihn einschätzen. Sein Urteil schien nicht besonders positiv auszufallen, denn als er sich wieder an Marceus wandte, klang er wieder gereizt.
„Und was ist mit ihm?“ „Das ist Valion. Er-“, versuchte Marceus zu erklären, aber er wurde unwirsch unterbrochen: „Ist er nur zum Zuschauen da?“ „Eigentlich soll ich- ich meine, ich wollte helfen“, warf Valion ein. Noch ein kritischer Blick, der abschätzend zwischen ihm und Marceus hin und her wanderte. Valion fragte sich einen Moment lang, woher er diese Art von Musterung kannte, aber zuerst fiel es ihm nicht ein.
Stattdessen ließ er sich stumm und ein wenig ärgerlich erneut taxieren, als wäre er ein besonders gut verkleideter Verbrecher, der seiner Enttarnung harrte. Er versuchte, möglichst ungerührt zurück zu starren, aber an Danilo gab es nicht viel zu sehen. Er hatte dunkle, kurz geschnittene Haare und war nur ein wenig größer als Marceus, seine Haut eine Nuance heller, und er war eher sehnig als muskulös. Vermutlich war er ein paar Jahre jünger als Jefrem oder Mischa, aber Valion konnte sein Alter schwer einschätzen.
Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit der misstrauischen Musterung, nickte Danilo und sagte: „Na schön. Wir könnten noch jemand gebrauchen, der am Dach arbeitet. Da kommt ein halbes Hemd wie du uns gelegen.“
Sehr schmeichelhaft, dachte Valion sauer, aber er nickte nur, und endlich bedeutete Danilo ihm, dass er ihnen folgen konnte. Sie drängten sich zwischen den anderen Dienern und Knechten hindurch, die inzwischen damit begonnen hatten, das eingestürzte Dach auseinander zu nehmen, und stießen zu zwei anderen Männern, die ihre Ankunft schon erwarteten.
Einen der beiden erkannte Valion sofort: Mischa, der hünenhafte Mann, der ihn erst vorhin abgeholt hatte. Er trug jetzt ein großes Holzbeil, mit dem er vermutlich den maroden Teil des Zeltdaches zum Einsturz gebracht hätte, auch wenn er das vermutlich auch mit einer Hand geschafft hätte; das Beil wirkte in seiner riesigen Faust wie ein Spielzeug.
Der zweite war von Größe und Statur das genaue Gegenteil von Mischa; klein und schlank, mit einem runden Gesicht, wirkte er neben dem riesigen Knecht noch einmal wesentlich jünger, als er vermutlich war. Vielleicht lag das aber auch an seinem breiten, spitzbübischen Grinsen; als er bemerkte, dass Valion zu seinen Kameraden gestoßen war, fragte er amüsiert: „Oha, haben wir Verstärkung bekommen?“ „Das ist Valion“, kam Danilo jeder Erklärung zuvor und wechselte einen Blick mit den beiden Knechten. Valion konnte ihn nicht deuten, vielleicht abgesehen davon, dass er nicht sonderlich begeistert von seiner Anwesenheit war. „Er soll uns bei der Arbeit helfen. Hat Jefrem sich ausgedacht.“
Das schien sowohl eine unumstößliche Tatsache als auch ein Grund für weitere Blicke zu sein. Der zweite Mann warf einen Blick zu Mischa, der mit den Schultern zuckte, und grinste dann Valion an. „Gut. Ich bin Viljo. Am besten arbeitest du mit Marceus, ich denke, ihr seid noch am besten eingespielt. Los, wir haben zu tun.“ Und damit schien alles gesagt; vorläufig zumindest.
Sie begannen damit, die andere Hälfte des Zeltdachs, ein Gewirr von Stangen und nassem Stoff, auseinander zu nehmen. Tatsächlich war Valion froh, dass er nicht besonders groß und schwer war, denn die meiste Zeit stand er tatsächlich auf Marceus Schultern, auch wenn der felsenfest behauptete, es würde ihm nichts ausmachen. Die Arbeit war hart, und die triefend nassen Planen schmutzig und schwer, und in ihrem zerrissenen und löchrigen Zustand kaum von ihrem Gestänge zu lösen.
Neben ihm arbeitete Viljo, der seinerseits die meiste Zeit auf den massigen Schultern von Mischa stand. Was sie vom Dach abbauten, wurde am Boden sofort sortiert, das noch Verwendbare beiseite gelegt, was zu beschädigt war auf einen Haufen geworfen. Um sie herum arbeiteten andere Knechte, sammelten Gegenstände ein, nasse Kleidungsstücke, angesengtes Papier, Gebrauchsgegenstände. Der Haufen, auf dem sich der Abfall sammelte, war deutlich größer.
„Wenn wir Glück haben, kriegen wie am Ende aus den Resten noch ein sehr niedliches, kleines Zelt raus“, meinte Viljo, als wieder ein Großteil von dem, was er mit Valion abgebaut hatten, sofort beim Abfall landete. „Solange es dann nicht nur halb so hoch ist“, warf Marceus grinsend von unten ein, und Viljo, der die 1,60m nur in Schuhen mit dicken Sohlen und viel gutem Willen erreichte, stieg sofort darauf ein. „Dann wird es mein Zelt“, meinte er, „und ihr dürft euch wie bei Karvash anmelden, um mich in meinen Gemächern zu besuchen.“ „Wie denn besuchen? Auf Knien?“, brummte Mischa, dessen borstige Haare schon jetzt fast die Decke des Zeltes streiften. Er trug Viljo so mühelos auf seinen breiten Schultern, dass er nebenbei mit der anderen Hand das Zelt stützte, um es zu stabilisieren. Viljo feixte. „Für dich lasse ich mir einen Anbau einfallen.“ „Bau dir lieber ein paar ordentliche Stelzen, da hast du mehr davon“, lästerte Danilo von unten, und wich einem heimtückisch von Viljo geworfenen Stück nasser Plane aus, das neben ihm zu Boden klatschte.
So ging es die ganze Zeit; die drei vertrieben sich die Zeit im Gespräch, damit ihnen die Arbeit nicht langweilig wurde. Valion versuchte am Anfang, irgendwie daran teilzunehmen, aber obwohl er nicht direkt ignoriert wurde, war er doch seltsam ausgeschlossen. Die Gespräche liefen meist an ihm vorbei, auch wenn vor allem Viljo und Marceus sich Mühe gaben, ihn nicht außen vor zu lassen.
Und er wurde weiterhin genau beobachtet, vor allem, wenn er in Marceus Nähe war, was ihn mit der Zeit immer unsicherer machte. Marceus schien es zu bemerken, aber er war sich anscheinend unschlüssig, was er dagegen tun sollte.
„Mögen sie mich nicht?“, fragte Valion irgendwann, als er und Marceus gerade mit Viljos Erlaubnis eine Pause machten und sich das Gesicht wuschen. Das war auch einer der wenigen Momente, in dem sie fast allein gelassen wurde.
Marceus zuckte unschlüssig mit den Achseln, strich sich durch das verschwitzte Haar. „Ich denke eigentlich… doch? Ich weiß nicht.“ Er sah, dass Valion etwas geknickt war, und legte eine tröstende Hand auf seine Schulter. „Nimm es dir nicht so zu Herzen. Du machst deine Arbeit, das ist das Wichtigste. Und zwar gut.“
Valion nickte, und verschwieg wohlweißlich, dass er mit seiner Schulter zu kämpfen hatte und nicht wirklich das Gefühl hatte, hinterher zu kommen. Erst Recht nicht unter Danilos kritischem Blick. Er schien von den drei am wenigsten von ihm zu halten. Aber er wollte sich davon auch nicht die Laune verderben lassen. „Wenigstens sind wir zusammen“, sagte er, und griff zaghaft nach Marceus Hand. Er zog sie nicht weg; stattdessen lächelte er, und der fast unsichtbare Anflug von Röte war zurück. Valion hätte ihn allein dafür wieder geküsst, um sie aus der Nähe betrachten zu können. Kein Wunder, dass sie dich nicht aus den Augen lassen. Du benimmst dich wie ein Trottel, konstatierte der rationalere Teil seines Verstandes, aber er hatte heute bei weitem nicht die Oberhand.
Aber gleichzeitig musste er feststellen, dass hinter Marceus Lächeln auch Besorgnis lag. Und eine Spur Zurückhaltung und Unsicherheit. „Val-“, begann er. Und noch bevor sie ein weiteres Wort wechseln konnten, wurden sie wieder einmal unterbrochen.
„He, hier wird nicht gefaulenzt!“, rief Viljo ihnen zu. Er klang durchaus freundlich, aber auch unnachgiebig. Es gab noch genug zu tun, und sie wurden gebraucht. Marceus seufzte und warf Valion einen entschuldigenden Blick zu. „Die Arbeit ruft“, sagte er, und bevor Valion protestieren konnte, wandte er sich schon ab. Er gehorchte aufs Wort, egal was die anderen drei ihm sagten.
Viljo, der Marceus erwartet hatte und bereits im Gehen neue Anweisungen erteilte, warf Valion einen Blick zu, den er schon wieder nicht deuten konnte. Dann wandte er sich ab, und während er mit Marceus weiter ging, wurde Valion wieder überdeutlich bewusst, dass er ausgeschlossen war. In diesem Moment gehörte er nicht dazu. Und obwohl das Gefühl nicht gerade angenehm war, konnte Valion kaum wütend sein. Viljo sorgte sich um Marceus, das war offensichtlich, genauso wie Danilo oder Mischa. Sie kannten ihn schon eine Weile, sie mochten ihn, und es war unübersehbar, dass Marceus zu ihnen auf sah. Man konnte es kaum Freundschaft nennen, eher…
Und plötzlich begriff er. Familie.
In seinem Kopf klang es merkwürdig, aber es gab überhaupt keinen Zweifel daran. Sie passten auf ihn auf, als wäre er ein Familienmitglied. Vielleicht nicht direkt wie auf einen Sohn, aber doch einen Neffen oder jüngeren Bruder. Und deshalb fühlte er sich auch so fehl am Platz: er gehörte nicht zu ihrer Familie. Er war nur ein misstrauisch betrachteter Freund, ein Fremder.
Und deshalb hatte er sich auch erinnert; er kannte diese strenge Musterung schließlich von beiden Seiten. Er war schon oft kritisch betrachtet worden, vor allem von Nishas oder Varas Vater, wenn er sie zum Spielen abgeholt hatte. Dafür hatten Gevin und Teron den einen oder anderen zweifelnden Blick eingefangen, wann immer sie Valion nach Hause gebracht hatten, vor allem, wenn sie völlig verdreckt, zerzaust und am besten noch mit blutigen Knien zur Tür herein schneiten. Und dazu die bohrenden Fragen, die ihm schon damals peinlich gewesen waren. Was habt ihr vor? Wohin geht ihr? Wann kommt ihr zurück? Macht ihr keinen Unfug?
In ihren Augen war er jetzt also ein neuer Freund, der sich erst beweisen musste.
Oder der Freund.
Blödsinn!, schalt er sich selbst und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass das Unsinn war, aber der Gedanke war hartnäckig. Verdammt, er musste mit Marceus reden, und zwar bald. Er war dabei, sich völlig in eine Idee zu verrennen, und das-
„Hallo!“ Zwei zarte, schmale Hände legten sich auf seine Schultern, und er zuckte erschrocken zusammen und drehte sich auf dem Absatz herum. Im ersten Moment war er sich sicher, dass Anya ihn angesprochen haben musste; der Tonfall, die Modulation, alles passte aufs Haar genau, auch wenn die Stimme sonst völlig anders klang.
Doch die Frau, die ihn angesprochen hatte und jetzt anlächelte, war deutlich jünger als Anya; sogar nur ein paar Jahre älter als Valion. Ihre teure Kleidung, die gerade Haltung und das aufwendig frisierte Haare ließen sie wirken wie eine Puppe. All das hätte fast darüber hinweg getäuscht, dass auch sie in dieser Nacht vermutlich nicht viel Schlaf bekommen hatte; die dunklen Schatten unter ihren Augen hatten sich nicht vollständig überschminken lassen.
„Hallo“, sagte er völlig perplex, und schwieg, weil er keinen blassen Schimmer hatte, was er sonst sagen sollte. Das musste er allerdings auch nicht, weil die junge Frau vor ihm es ganz genau wusste. „Ich heiße Josce“, erklärte sie heiter, in einem Plauderton, der gut in einen Ballsaal gepasst hätte, aber in den verkohlten Ruinen eines Zeltes eher fehl am Platz wirkte. „Du musst ein neuer Sklave sein. Ich habe dich noch gar nicht zu Gesicht bekommen, also dachte ich, ich stelle mich vor. Ich bin doch immer auf der Suche nach neuen Freunden.“ Sie zwinkerte kokett, trat einen weiteren Schritt an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter.
Valion hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass sie nicht hübsch war. Aber das erste was ihm in den Sinn kam war, sie mit Anya zu vergleichen. Das war unvermeidlich, wenn sie sich so offensichtlich wie sie verhielt. Und egal ob sie das realisierte oder nicht, Josce reichte kaum an Anyas natürlichen Charme heran, auch wenn sie sich anscheinend redlich bemühte, ihn nachzuahmen. Alles an ihr schrie nach einer verzweifelten Kopie. Er fühlte sich eher versucht, ihr einen Hinweis zu geben, was sie besser machen konnte.
Und dann war da natürlich die Tatsache, dass sie nicht gerade allein waren. Die Hektik und der Trubel waren inzwischen etwas zurück gegangen, und sie standen ein wenig am Rande des Geschehens, aber der eine oder andere warf ihnen bereits neugierige Blicke zu. Verzweifelt sah er sich nach Marceus und Viljo um, aber beide waren aus seinem Blickfeld verschwunden und konnten ihn nicht loseisen.
Notgedrungen versuchte er höflich zu sein. Immerhin wusste er noch nicht, was Josce eigentlich von ihm wollte. „Ich heiße Valion“, sagte er, und Josces Lächeln vertiefte sich. „So ein schöner Name“, zwitscherte sie, und trat einen weiteren Schritt näher.
Er war fast versucht, zurück zu treten, und gleichzeitig wollte er ihr nicht zeigen, dass ihm diese Nähe unangenehm war. Also stand er nur verkrampft da, während Josce sagte: „Ein schöner Name für einen schönen Mann. Und du hast so aufopferungsvoll mitgeholfen, mein zerstörtes Heim zu retten.“ „Das war dein Zelt?“, fragte er, froh endlich irgendein Gesprächsthema gefunden zu haben, und sie seufzte. „Ja, hier habe ich gewohnt, zusammen mit meinen Freundinnen und meinem… Gefährten.“ Sie drückte sich bewusst vage aus, aber etwas in Valions Gehirn rastete trotzdem ein.
Gael Karvash. Angeblich hat er drei Ehefrauen.
„Du bist eine von Karvashs Frauen“, sagte er, und bevor sie ihr strahlendes Lächeln zu einem niedlichen schmollenden Gesicht verwandelte, zeigte sich nur einen Sekundenbruchteil Wut in ihren Zügen; das äquivalent verräterisch zuckender Mundwinkel, nur nicht annähernd so charmant. „Nun ja, Gael und ich sind nicht wirklich verheiratet“, wich sie aus, „Ich meine, das ist auch nicht, wie sagt man, legal. Und eigentlich bin ich nur bei ihm, weil ich ja sonst nirgendwo anders hin kann.“
„Das tut mir Leid“, sagte Valion, weil er wirklich nicht wusste, was sie von ihm erwartete. Oder besser, er wusste es, er verstand nur nicht, warum. Sie wollte seine Aufmerksamkeit, egal wie, und statt sich auf eine Möglichkeit zu konzentrieren, schien sie einfach alles gleichzeitig auszuprobieren.
Nur stellte sie sich dabei derartig stümperhaft an, dass er nicht einmal misstrauisch wurde. Anya oder Jadzia waren vielleicht undurchschaubar, aber Josces Ambitionen waren es nicht, und wenn sie versucht hätte ihn irgendwie aufs Kreuz zu legen, hätte er das vermutlich im selben Moment erkannt. Und das Sonderbare war, dass sie ihm dadurch mit jeder weiteren Minute langweiliger erschien. Er hätte Anyas unberechenbare Gesellschaft jederzeit ihrer vorgezogen. Er sah sogar mit absoluter Klarheit voraus, dass Josce ihre Hand heben und seine Wange streicheln würde. Das wäre das gewesen, was Anya getan hätte, wenn sie wirklich Aufmerksamkeit wollte, also versuchte Josce das ebenso.
Deshalb fing er ihre Hand mitten in der Luft ab, als sie sie erst halb gehoben hatte, und schob sie weg. „Ich sollte jetzt weiter arbeiten“, sagte er, drehte sich um und ging. Er wartete nicht einmal ab, ob sie wütend werden würde.
Nun, das wurde sie nicht, stattdessen folgte sie ihm. „Warte doch! Ich möchte dich besser kennen lernen!“, protestierte sie, während sie hinter ihm her eilte. „Ich dich aber nicht“, murmelte er halb laut und beschleunigte seinen Schritt noch. Dummerweise schüttelte er sie damit nicht ab, im Gegenteil, sie schien noch entschlossener, ihn nicht entkommen zu lassen. Er betete stumm, dass er Marceus über den Weg laufen würde, Viljo oder sogar Danilo, aber an was sie auch immer jetzt arbeiteten, er bekam sie nicht zu Gesicht.
Immer mehr neugierige Augen konzentrierten sich auf sie, während er vor Josce floh, und fast war er versucht zu glauben, dass sie das beabsichtigte. Aber nein. Sie war sich eindeutig nicht bewusst, was sie da anrichtete.
Fast hätte er sich entschlossen, sich umzudrehen und ihr noch deutlicher zu sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte, als er Anya erspähte. Sie schlenderte gerade mit den beiden anderen Ehefrauen von Karvash über die Baustelle, und sie schienen über die Schäden zu sprechen. Ohne weiter zu zögern steuerte er auf sie zu und platzte in ihr Gespräch, indem er sich direkt vor Anya hin pflanzte.
„Ich muss mit dir reden!“, sagte er mitten in ihr verblüfftes Gesicht, und formulierte danach stumm mit den Lippen und zur Seite verdrehten Augen: „Rette mich!“
Ihm hinterdrein folgte Josce, inzwischen ein wenig außer Atem, weil sie nicht annähernd so lange Beine hatte und ihr Rock ihre Geschwindigkeit verringerte. „Ich will doch nur-“, setzte sie gerade an, sah, wem sie da unfreiwillig begegnet war, und verstummte abrupt. „Oh. Anya“, sagte sie schließlich, von einem Moment auf den anderen nicht einmal mehr vorgespielt charmant. Anyas Blick irrte einen Moment unentschlossen zwischen Valion und Josce hin und her, als versuche sie zu verstehen, welches Drama ihr da eben aus heiterem Himmel vor die Füße gefallen war.
„Da bist du ja, Valion“, sagte sie schließlich und zwinkerte ihm zu. „Ich wollte dich gerade rufen, ich habe ebenfalls noch etwas mit dir zu besprechen. Unter vier Augen natürlich, also schlage ich vor, dass du mitkommst.“ „Aber wir haben gerade-“, versuchte Josce gegen zu halten, aber weit kam sie damit nicht, weil sich eine von Karvashs Frauen einmischte.
„Und ich wüsste gern, wo du gewesen bist, Josce“, sagte sie sehr leise, und hustete wieder krampfhaft in ihr Taschentuch. „Das geht dich überhaupt nichts an, Adaliz!“, fauchte Josce beleidigt, „Ich bin hier keine Gefangene! Ich gehe, wohin ich will!“ - „Ja, aber nicht allein! Es ist gefährlich, das sollte dir nach letzter Nacht doch klar sein!“, mischte sich die andere ein, und nickte Anya auffordernd zu, dass sie gehen konnte.
„Komm, wir mischen uns hier besser nicht ein“, flüsterte sie Valion leise zu, und er ließ sich sanft von ihr beiseite schieben. Sie machten sich auf den Weg, und das letzte, das Valion von dem Wortgefecht hinter ihnen hörte, war ein wütendes „Ich brauche niemand, der-“ von Josce, dann waren sie außer Reichweite.
Ein paar Schritte gingen sie schweigend nebeneinander, bis Anya wieder das Wort ergriff. „Also, was war da los? Was hast du mit Josce zu schaffen?“ Das war eine verblüffend normale und wenig boshafte Frage. Auch sonst schien Anyas aggressive Fröhlichkeit vom Morgen jetzt zu fehlen; vielleicht bedeutete das, dass sie zufrieden damit war, ihm Arbeit aufgehalst zu haben, und die gestrigen Ereignisse damit als ausgeglichen ansah. Aber sicher war Valion sich damit nicht, zumal er keine Ahnung hatte, was sie nun mit ihm besprechen wollte. Bestimmt nicht Josce.
Er zuckte mit den Schultern und antwortete ein wenig säuerlich: „Ich habe nichts mit ihr zu schaffen, ich kenne sie überhaupt nicht!“ „Nun, da schien sie anderer Ansicht zu sein“, wandte Anya ein, und sie musterte ihn aufmerksam, vermutlich um zu erkennen, ob er sie anlog. Nun, das tat er nicht. „Ich habe keine Ahnung, warum“, protestierte er. „Sie war einfach plötzlich da und hat auf mich eingeredet.“ „Hm“, war der nachdenkliche Kommentar von Anya dazu, dann hielt sie vor einem kleinen Zelt inne, das offensichtlich ihr Ziel gewesen war. Sie ging jedoch nicht hinein, sondern wandte sich ihm zu, musterte ihn noch einmal, bevor sie nickte.
„Gut, ich glaube dir, aber wenn das so ist, solltest du ihr vermutlich aus dem Weg gehen. Wer weiß, was sie vorhat…“ Sie verstummte, aber nicht abrupt - ihre Gedanken schienen einen Moment einfach wegzudriften, und sekundenlang starrte sie nur abwesend ins Leere, an Valion vorbei. Erst in diesem Moment wurde offensichtlich, wie todmüde sie sein musste, und wie überzeugend sie schon die ganze Zeit vor spielte, dass sie wach und aufnahmefähig war. Ihre eiserne Selbstbeherrschung hielt sie aufrecht und ihre Augen offen, und obwohl Valion sich dagegen wehrte, empfand er wieder Respekt für sie. Wenn sie eines war, dann zäh.
Von einem Moment auf den anderen schien sie ihre Konzentration zusammen zu raffen, und als sie sich wieder Valion zu wandte, war sie zurück bei ihrer wachen, aufmerksamen Fassade. „Du solltest generell darauf achten, mit wem du dich hier abgibst. Ich muss dir ja hoffentlich nicht erklären, dass es für einen Sklaven, selbst für dich, keine gute Idee ist, allzu oft mit der jungen Frau eines anderen Mannes gesehen zu werden?“ „Aber mit dem Mann einer anderen Frau schon?“, fragte er schneidend, und ärgerte sich im gleichen Moment, dass er schon wieder so wütend auf sie wurde. Diesmal lag es nicht einmal an ihr; ihre Worte hatten ihn nur gerade schmerzhaft daran erinnert, dass er diese Predigt schon gehört hatte, ganz am Anfang dieser Reise, von Tarn. Und sie hatte ihm einerseits nichts genützt, und andererseits stand er jetzt ausgerechnet mit Anya auf einem besseren Fuß als mit Tarn. Er konnte die aufwallende Enttäuschung nur mühsam herunter schlucken.
Anya schien etwas davon in seinem Gesicht zu lesen, denn obwohl ihre Mundwinkel wieder zuckten, diesmal nicht zu einem Lächeln, sondern eher in die andere Richtung, ging sie nicht auf die Provokation ein. „Ja, und ich sage dir auch warum: Wenn ich schwanger werde, ist das ganz allein mein Problem. Wenn Josce schwanger wird, hat Gael einen Bastard am Hals. Ganz davon abgesehen, dass er sie verstoßen könnte, könnte er außerdem darauf aus sein, sich an dir zu rächen. Betrogene, wütende Ehemänner sind hässliche Kreaturen, das kann ich dir sagen.“
Etwas an der Art wie sie das sagte ließ ihn aufhorchen. Ihr Blick und ihr Ausdruck waren noch ernster als zuvor, als wüsste sie genau, wovon sie sprach, und er war versucht sie zu fragen, was sie damit meinte. Und gleichzeitig wusste er, dass es ihr nicht bewusst war, dass sie etwas von dieser Gefühlsregung nach außen durchscheinen ließ. Wäre sie ausgeschlafen gewesen hätte er nichts davon bemerkt, sie hätte es verborgen. Und hätte er sie jetzt gefragt, hätte sie wahrscheinlich alles abgestritten.
„Aber genug davon, wir lassen deinen Freund warten“, sagte sie, und trat in das Zelt, und er folgte ihr verwirrt. Wen meinte sie mit-?
Oh.
Das Innere des Zeltes war eher klein und spärlich ausgestattet, aber Valion kam auch gar nicht dazu, sich weiter umzusehen. Einerseits, weil Marceus vor ihm stand und unbehaglich mit den Füßen scharrte. Auf der anderen Seite, weil Jefrem neben ihm stand und eine ernste Mine aufgesetzt hatte.
Jefrem wandte sich sofort Anya zu, und Valion wartete regelrecht darauf, dass sie anfangen würde, ihn in ihrer gewohnten Art um den Finger zu wickeln, aber er wartete vergebens. Die beides begrüßten sich wie zwei Generäle auf dem Schlachtfeld, ernst und würdevoll, mit einem erkennenden Kopfnicken. „Das sind wir”, sagte Anya, und Jefrem antwortete: „Gut.“ Mit ernster Miene betrachtete er Marceus und Valion, die in düsterer Vorahnung ebenfalls einen Blick tauschten. „Dann reden wir jetzt mal über euch beide.“
Auch das noch.
Etwa eine halbe Stunde später waren Valion und Marceus dem Kreuzverhör entkommen und bewaffnet mit einem sehr späten Mittagessen. Sie hatten die ausdrückliche Anweisung, sich eine Weile auszuruhen und über alles nachzudenken, und obwohl Valion sich innerlich dagegen sperrte, war er doch genauso in Gedanken versunken wie Marceus.
Sie saßen nebeneinander im Schatten eines Wagens, den Rücken bequem angelehnt, abseits des Trubels und unbeobachtet, und kauten jeder stumm auf ihrem Essen. Marceus brachte dem mehr Enthusiasmus entgegen als Valion und vertilgte auch bereitwillig die Reste, die ihm herüber gereicht wurden; Valion hatte kaum Hunger.
Ungefragt hatten sie zu ihrer Ration sogar jeder einen Apfel erhalten, von einer älteren Dienerin. Das eingebrannte E auf ihrem Handgelenk, das Valion schon reflexhaft gesucht hatte, hatte ihm bestätigt, dass sie Marceus vermutlich schon länger kannte und ihm deshalb etwas extra gab. Valion wurde langsam besser darin, zu unterscheiden, wer zu wem gehörte, die kleinen Allianzen zu überblicken. Wer zusammengehörte, schien selbst in der Lagersituation zusammen zu bleiben, selbst wenn Diener bei Dienern und Wächter bei Wächtern blieben.
Unentschlossen drehte Valion den Apfel in Händen, während er überlegte, welche Position die neuen Sklaven in all dem einnahmen. Nicht die Arbeitssklaven der Menschenhändler, die unter den freien Knechten und Dienern nicht auffielen und im Hintergrund verschwanden. Nicht er, oder Jadzia oder Anya, denn sie hatten einen Sonderstatus, und ironischerweise mit den anderen Sklaven nie zu tun. Er dachte an die in den Käfigen zusammen gepferchten Menschen, von denen er sich fern hielt, obwohl er zu ihnen gehörte. Und den unüberbrückbaren Abstand zwischen ihm und den anderen Menschen um ihn herum. Jefrem hatte ihn mehr als deutlich hervor gehoben.
„So… ihr zwei“, hatte er gebrummt, und die massigen Arme verschränkt. Valion kannte diese Geste von seinem Vater, und Marceus war sie wohl von Jefrem gewohnt, denn sie sahen beide betreten auf ihre Füße. Das sah nach einer Standpauke aus, oder zumindest einem ernsten Vortrag. Das ganze wurde nicht besser dadurch, dass Anya sich an seine Seite stellte. Zumindest schien sie an dieser bevorstehenden Moralpredigt nur insoweit beteiligt zu sein, dass sie alles abnickte.
„Na, jetzt schaut nicht drein wie zwei Verbrecher. Wirklich falsch gemacht habt ihr ja bisher noch nichts. Habe mich, was das angeht, schon umgehört“, fuhr Jefrem etwas weniger streng fort, und sah in Anyas Richtung, die nickte. „Ich hielt es für das Beste, ihn alles wissen zu lassen“, sagte sie, und klang dabei erstaunlich ruhig und neutral. „Die Regeln sind für Valion aufgehoben, aber das heißt nicht-“ „-dass ihr keinen Fehler macht, oder euch nicht Ärger einhandeln könntet“, beendete Jefrem ihren Satz. Anscheinend hatten sie sich ganz genau überlegt, was sie sagen wollten, wie Valions Mutter und Vater, wenn sie ihn wegen irgendetwas zur Rede stellten. Die Ähnlichkeit war geradezu unheimlich. Aber zumindest war damit der Anlass ihres Gesprächs vom Vorabend endlich geklärt. Valion war erleichtert, aber gleichzeitig schämte er sich. Er hatte hinter Anyas Verhalten nach einer Verschwörung gesucht, und stattdessen war die ganze Sache absolut banal gewesen.
„Außerdem erinnere ich mich, ein paar Regeln aufgestellt zu haben“, fuhr Jefrem erneut fort, und jetzt war sein strenger Blick allein auf Marceus gerichtet. „Und ich denke, du weißt auch, von welcher Regel ich spreche, sonst hättest du bestimmt nicht so ein schlechtes Gewissen. Was habe ich dir eingetrichtert?“ „Sklaven sind Tabu“, murmelte Marceus betreten, „Aber-“ „Kein aber“, sagte Jefrem. „Sklaven-“
-sind Tabu, dachte Valion, während er seinen Apfel in den Händen drehte, und der Satz hinterließ auch jetzt noch, nachdem schon alles ausgestanden war, einen bitteren Nachgeschmack.
Er verstand durchaus, warum Jefrem diese Regel aufgestellt hatte. Anya hatte zwar, immerhin in genau der gleichen Lage, durchaus schlüssig argumentiert, dass sie weder jetzt noch später Gefahr liefen, bestraft zu werden. Aber die Kluft war da. Jefrem hatte es nicht ausformuliert, aber das war auch nicht nötig gewesen.
„Wenn du den nicht isst, kann ich ihn haben?“, fragte Marceus unvermittelt, und ohne zu zögern reichte Valion den Apfel weiter. Er hätte ihn sowieso nur so lange in den Händen gedreht, bis er braun wurde. Stattdessen betrachtete er lieber Marceus, wie er herzhaft hinein biss. Vermutlich würde er das ganze Ding mit nur vier Bissen auch noch verschlungen haben.
Egal, was wir tun, sie werden immer versuchen uns zu trennen, dachte er unvermittelt, und das tat weh. Und gleichzeitig hatte er den Verdacht, dass Marceus das schon vom ersten Moment an klar gewesen war.
Ich bin auch nicht diese Art von Sklave, wie du.
Damals hatten diese Worte Valion verletzt. Aber vielleicht verstand er jetzt besser, was damals schon zwischen ihnen gestanden hatte, ohne dass er selbst es begriffen hatte. Die mahnenden Worte von Jefrem, die schon zu diesem Zeitpunkt Marceus Wahrnehmung beherrscht hatten. Die ihn jetzt vorsichtig sein ließen, und unsicher.
Je länger Valion darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass er sich selbst in eine schwierige Lage gebracht hatte. Er konnte sich Freunde wie Tarn oder Marceus suchen, konnte versuchen Jefrems Vertrauen zu gewinnen oder sich mit Marceus Hilfe sicher auch irgendwann Mischa, Viljo und Danilo als Vertraute gewinnen. Sich einreden, dass Fleurie seine Freundin sein konnte, oder dass er Josce vielleicht irgendwann genug abgewinnen würde, um nicht sofort vor ihr davon zu laufen.
Aber die einzigen, an die er wirklich heran kam und die vielleicht auch an ihn heran kommen würden, waren die anderen Sklaven. Die, die er mied und nicht verstehen wollte. Und vielleicht vor allen anderen Anya.
Anya, der er immer noch nicht traute, obwohl sie immer wieder bewies, dass sie nicht so biestig oder durchtrieben war, wie er dachte. Oder zumindest nicht immer. Sie hatte ihn wieder mit Marceus zusammen gebracht, und sie gezwungen, zusammen zu arbeiten. Hatte mit Jefrem gesprochen, ihm alles erklärt, und sich, zur Krönung des ganzen, am Ende ihres Verhörs auch noch bei Marceus entschuldigt. Aber auch zwischen ihnen lag eine Kluft, und selbst wenn er sie hätte überwinden wollen, er wusste überhaupt nicht, wie er das anstellen sollte. Wie er das mangelnde Vertrauen zwischen ihnen ausgleichen konnte, wenn es nötig war.
„Willst du wirklich nichts mehr?“, fragte Marceus unvermittelt, und hielt ihm im nächsten Moment den kläglichen Rest des Apfels, vielleicht noch zwei Bissen, unter die Nase. Er schien zu spüren, dass Valion grübelte, und das war vermutlich sein Versuch, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Aber Valion winkte nur ab. „Na gut, dein Verlust“, sagte Marceus mit einem Achselzucken und aß den Rest im Ganzen auf. Nichts blieb übrig, nicht einmal die Kerne.
Dann strich er sich die Hände am Gras unter ihnen ab und seufzte sehnsüchtig. „Schade, dass wir nur zwei bekommen haben.“ Valion musste trotz seiner schwermütigen Stimmung grinsen. Er hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Marceus so verfressen war. „Soll ich gehen und behaupten, du hättest mir meinen Apfel geklaut? Vielleicht bekomme ich dann noch einen.“ Marceus setzte ein hoffnungsvolles Gesicht auf, und brachte Valion zum Lachen. „Das war nur Spaß“, sagte er, aber sein Lächeln verblasste im nächsten Moment wieder, als er an die großen Apfelbäume zuhause dachte, und wie wahrscheinlich es war, dass diese Äpfel noch von seinem Zuhause stammten. Einfach alles in seiner Umgebung konnte zur Falle werden, zur Tür zu einer weiteren Erinnerung. Würde das jemals aufhören?
Marceus, der seinen Stimmungswechsel genau beobachtet hatte, fragte verwirrt: „Was ist los?“, und nach einigem Zögern antwortete Valion: „Ach nichts… es ist nur, bevor ich-“ Er stockte. Gefangen genommen wurde, hatte er sagen wollen, aber verbiss es sich. Er wollte nicht daran denken. „-bevor ich hierher kam, hat irgendjemand von euch meiner Familie Äpfel abgekauft. Am ersten Tag. Und immer, wenn ich welche sehe…“ „Oh“, sagte Marceus, der genau zu verstehen schien. „Ja... Ist vermutlich Blödsinn. Es sind sicher nicht mal unsere Äpfel. Aber ich frage mich bei jedem den ich sehe, ob ich es bemerken würde. Heraus schmecken woher er kommt, meine ich.“ Marceus seufzte und sah schuldbewusst aus. „Ich hätte ihn dir lassen sollen. Jetzt ist es zu spät.“
Im nächsten Moment hatten sie beide den selben Gedanken, und sie konnten es im Gesicht des jeweils anderen lesen. Valion öffnete als erstes den Mund, und Marceus schüttelte mit einem Grinsen den Kopf, bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte. „Man könnte meinen, wir hätten Jefrem gar nicht zugehört“, sagte er, aber er klang kein bisschen vorwurfsvoll. Und weil Valion ihn immer noch anstarrte, ohne zu wissen, was er sagen sollte, nahm er ihm auch das ab: „Na mach schon.“ „Im Ernst?“, fragte Valion leise nach. „Ja.“
Valion sah die Unsicherheit in seinem Blick. Und noch etwas anderes, das er nicht zuordnen konnte. Und doch konnte und wollte er sich davon nicht abhalten lassen. Er wollte Marceus küssen, selbst wenn er dadurch das Chaos nur verschlimmerte und alles ignorierte, was Jefrem ihnen gesagt hatte.
„Hört zu ihr zwei, dumm bin ich nicht. Ich kann wohl kaum was ausrichten, wenn ihr euren Kopf durchsetzen wollt“, hatte er zum Abschluss gesagt. „Schlimmstenfalls werdet ihr euch sowieso einfach heimlich treffen. Aber wenn ihr auf meinen Rat hören wollt: Hört auf, bevor es ernster wird. Und macht keinen Wind darum. Verstanden?“
Und sie hatten beide genickt und damit signalisiert, dass sie ihn verstanden hatten. Aber es war eine Sache, etwas aus dem Kopf heraus zu entscheiden, und eine völlig andere, sich auch daran zu halten. Und wenn es darum ging, sich von Marceus fern zu halten, hatte Valion keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er beugte sich vor, legte seine Hände auf Marceus Schultern und küsste ihn.
Er schmeckte süß, und vertraut. Natürlich hätte er so nie den Unterschied zwischen irgendeinem Apfel und einem von Zuhause heraus geschmeckt. Aber das war egal, weil es nur ein Vorwand war, und das wussten sie beide.
Und es war so schön wie beim ersten Mal. Einfach, unkompliziert, ohne Bedingungen oder große Erwartungen. Aber es war auch gefährlich, das spürte Valion deutlich. Alles, was er so verzweifelt aus seiner Wahrnehmung verbannt und fast vergessen hatte, war wieder da. Alles, was er wegen Nisha aufgegeben und tief in sich vergraben hatte. Die Sehnsucht nach Berührung, der Hunger nach Zuwendung. Vielleicht war alles zu schnell gegangen, vielleicht hätte er Jan von sich fern halten müssen. Nicht, weil es falsch war, sondern weil er ohne zu Zögern diesen verbotenen Teil von ihm berührt hatte. Ohne zu wissen, dass es ihn gab, oder wie ausgehungert er wirklich war.
Dieser Teil von ihm, der ihn ohne zu zögern die Hand heben und in Marceus dunkles Haar greifen ließ. Der ihn näher zu ihm heran rücken ließ, bis er irgendwie auf seinem Schoß saß. Es erschien ihm wie das einzig richtige, das, was er wirklich wollte. Seine Hände glitten über seine Brust, seinen Bauch, schlangen sich um ihn, erfühlten die Wärme seines Körpers und Anspannung seiner Muskeln. Er berührte seine Wangen, die wieder verräterisch gerötet waren, und versank in seinen braunen Augen. Und er wollte mehr, er wollte alles. Er wollte Marceus. Wenn er gestern daran gezweifelt hatte, jetzt zweifelte er nicht mehr.
Und er spürte, dass es Marceus nicht anders ging. Sein rasender Herzschlag verriet ihn, genau so wie seine schweren Atemzüge. Und doch war er ruhig, so beherrscht und zurückhaltend, wie Jan niemals gewesen war; Valion wollte sie nicht vergleichen, aber er kam nicht umhin, den Unterschied zu fühlen.
Jan hatte ihn gebrauchte, so verzweifelt wie ein Ertrinkender die Luft zum Atmen. Die Intensität ihrer Begegnung war so stark gewesen, dass es fast beängstigend gewesen war. Jans Liebe und das nach Verlangen nach ihm waren wild, stark, wie ein Sommergewitter, schön und unkontrollierbar; dass es schnell geschehen war, war Teil des Reizes und die Natur der Sache. Alles war zu intensiv, zu absolut, um lange anzuhalten.
Marceus hielt ihn einfach, liebevoll, aber nicht fordernd. Seine großen, rauen Hände strichen langsam, beruhigend über seinen Rücken, warm und beschützend. Und Valion konnte nicht anders als sich auszumalen, wie es sein würde, wenn sie sich liebten. Langsam, und zärtlich, eine schiere Unendlichkeit lang. Die Vorstellung hatte ihren eigenen, unwiderstehlichen Reiz.
Und obwohl sie so unterschiedlich waren, war sein Verlangen nach ihnen beiden gleich stark. Er hätten nicht lieber mit Jan geschlafen als mit Marceus, und Marceus nicht Jan vorgezogen. Er wollte sie beide, jeden für das, was er war; und tief in seinem Inneren, in dem Teil, der noch nicht begraben war unter den tausenden Regeln für Moral und Anstand, und noch nicht erstickt von bitteren Erfahrungen und all dem, was er gelernt hatte, stellte er dieses Verlangen nicht in Frage.
Und dann, mit einem Mal, völlig unvermittelt, schob Marceus ihn zurück, unterbrach ihren Kuss. Verblüfft starrte Valion ihn an, und der Ausdruck, den er in seinen Augen sah, gefiel ihm nicht. Als hätte er einen Entschluss gefasst, der ihn nicht mit einbezog und von dem Marceus wusste, dass er ihm nicht gefallen würde. „Ich kann das nicht“, sagte er.
Valion hielt inne und sah ihn eine Weile nur an, um sich zu versichern, dass er das wirklich ernst meinte. Auch wenn sein eigener Körper sich hartnäckig weigerte, das zu akzeptieren. Nicht jetzt, nicht so. „Aber warum-“, begann er, aber Marceus ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich kann es einfach nicht. Nicht wenn ich weiß, dass er vielleicht irgendwo da draußen ist und keine Ahnung hat, was hier los ist.“
Er sprach von Jan, und das versetzte Valion einen Stich. Warum fing er jetzt davon an? Warum so? Einen Moment zuvor war alles noch in Ordnung gewesen, und bevor er sich zurück halten konnte, hatte er diesen Gedanken laut ausgesprochen. „Eben war das noch kein Problem“, murmelte er gereizt, und Marceus seufzte. „Ja, aber dann… mir ist etwas klar geworden. Könntest du-?“ Auch das noch. Widerwillig erhob Valion sich von Marceus Schoß und ließ sich wieder neben ihn fallen. Der Boden war hart und kalt, und er vermisste die Nähe beinahe augenblicklich.
„Warum?“, fragte er, aufgebrachter als er wollte. „Warum jetzt? Was ist dir klar geworden?“ Marceus seufzte und strich sich nervös durchs Haar, und Valion wusste gleich, dass ihm die Erklärung nicht gefallen würde. „Es ist nur… hör zu, kann ich dir eine Frage stellen? Auch ohne, dass du gleich wütend wirst?“ Ich bin nicht wütend, wollte Valion protestieren, aber das wäre glatt gelogen gewesen. Er war nicht darauf gefasst gewesen, dass die Dinge so ablaufen würden. Sie waren sich so nahe gewesen, und jetzt, von einem Moment auf den anderen, war Marceus distanziert. Er zwang sich dazu, das wusste Valion; oder vielleicht wollte er auch glauben, dass es so war.
„Frag’ schon“, sagte er ungehalten, und fügte, als er Marceus zweifelnden Blick sah, etwas milder hinzu: „Ich werde nicht wütend.“ Marceus atmete seufzend aus, und dann fragte er, sehr ernst und sehr neutral: „Wenn wir… ich weiß nicht, zusammen sein würden, denkst du, du könntest darauf verzichten mit mir zu schlafen? Bis wir wirklich sicher wissen, was mit Jan ist?“
„Was?“ Das war das einzige, das Valion im ersten Moment heraus brachte. Er verstand die Worte, aber er wusste überhaupt nicht, wie er sie sortieren sollte. Wozu?, wollte er fragen. Warum? Wie kam Marceus auf eine derartige Frage? Was hatte das mit dem ganzen Rest zu tun? Und gleichzeitig war ihm klar, dass Marceus alles von seiner Antwort abhängig machte. Und dass er nicht gewinnen konnte. Er wollte mit ihm zusammen sein. Nicht weniger oder anders als mit Jan.
Und Marceus hielt das für falsch. Wenn er mit einem Nein antworten würde, würde es hier enden. Einfach so, nur, weil er ihm nahe sein wollte. Und gleichzeitig wussten sie beide, dass er gelogen hätte, wenn er dieses Versprechen gegeben hätte. Er wollte ihn nicht einmal jetzt loslassen, wie hätte das mit der Zeit besser werden sollen? Und vermutlich war der Kuss nur dazu da gewesen, um ihnen beiden genau das bewusst zu machen. Nur dafür hatte Marceus sich erlaubt ihn noch einmal so nahe an sich heran zu lassen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass Valion mehr wollte, und er selbst nicht. Etwas in Valions Inneren zuckte schmerzerfüllt zurück, ballte sich furchtsam zusammen, unter der Last dieses Urteils.
„Muss ich darauf antworten?“, fragte er, und verdammt, er hatte versprochen, nicht wütend zu werden, aber jetzt war er es trotzdem. Er fühlte sich innerlich kalt, und wund. „Nein“, sagte Marceus, und jetzt sah er bekümmert aus. „Hör zu, ich mag dich, aber das hier ist einfach… falsch. So können wir das nicht anfangen.“ „»So«? Wie denn »so«?“, fragte Valion heftig. „So beliebig. Als würdest du nur Jan gegen mich austauschen.“
Die Worte hätten nicht so weh tun dürfen. Aber sie trafen Valion mit voller Wucht, und ihnen auf dem Fuß folgten die Erinnerungen. Die ganze Geringschätzung, die Enttäuschung. Genau deshalb hatte er alles fallen lassen, alles in sich vergraben. Hatte aufgehört, sich auch nur Nähe zu wünschen, nur um dieses Gefühl der Scham und der Wertlosigkeit nicht spüren zu müssen. Hatte geschwiegen, alles abgeschnitten.
Sei nicht traurig, du hast ja noch die anderen. Die müssten dir doch genügen.
Da du anscheinend jedem beliebig zu Willen bist…
Aber das war nicht, was er empfand. Seine Gefühle waren nicht beliebig. Er liebte nicht zufällig, oder weniger stark, und die Menschen, die er liebte, waren nicht austauschbar für ihn. Für ihn war das völlig klar. Für den Rest der Welt war es eine Lüge.
Er kam stolpernd auf die Füße. Weg. Er wollte nur weg. Er konnte das nicht alles noch einmal durchstehen; sich noch einmal alles anhören, und im Inneren verzweifeln. Aber bevor er auch nur einen Schritt weit gekommen war, war Marceus schon aufgesprungen, und griff nach seiner Hand. Er zog sie hastig weg. „Lass das!“, fauchte er ihn an, und Marceus ließ seine Hand sinken, aber er stellte sich ihm trotzdem in den Weg. „Warum willst du jetzt abhauen?“, fragte er, und Valion spürte, wie die aufsteigenden Tränen ihm die Luft abschnürten. „Wozu soll ich denn bleiben? Du hast mir gesagt, was du von mir hältst. Ich habe dich verstanden, und das wars.“ „Ich glaube eher, du hast alles falsch verstanden“, sagte Marceus bekümmert, und vorsichtig griff er noch einmal nach Valions Hand. Und diesmal zog er sie nicht weg.
Vielleicht lag es an seinem Blick. Oder auch nur daran, dass Valion ihm bisher immer alles hatte sagen können, egal was es war. Die Worte waren einfach da, in einem einzigen, langen Wortschwall. „Du bist nicht einfach nur ein Ersatz für Jan! Und das wärst du auch nie gewesen! Und ich hab es so satt mich jedes Mal dafür rechtfertigen zu müssen! Ich hab mir das doch nicht ausgesucht!“
Er atmete zitternd aus, und er wehrte sich nicht, als Marceus sich ihm näherte, ihn umarmte. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Und so, wie du alles verstanden hast, habe ich es nicht gemeint“, sagte er langsam, und mit ruhiger Stimme. Und Valion glaubte ihm. Zumindest, dass er ihn nicht hatte verletzen wollen. Und er brauchte ihn, das wurde ihm klar. Als Freund noch viel mehr als Geliebten, als Zuhörer und als Halt. Als einzige Person, mit der er über Jan sprechen konnte.
Jan.
„Ich vermisse ihn“, flüsterte er, „Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Ihm alles erklären.“ „Ich weiß. Mir wäre es auch lieber, er wäre jetzt hier“, antwortete Marceus. „Ich kenne ihn kaum, und ich kann ihn jetzt schon nicht besonders leiden, aber zumindest könnte ich mich dann entschuldigen.“ „Wofür denn?“, fragte Valion, und Marceus schnaubte leise und amüsiert. „Dass ich ihn angelogen habe. Ich habe ihm immerhin gesagt, ich würde ihm nicht den Freund ausspannen.“ Das war komisch, und gleichzeitig bitter. Obwohl es wehtat, muss Valion trotzdem lächeln.„Denkst du, du würdest uns einfach auseinander bringen?“, fragte er, und bereute es im gleichen Moment, bis Marceus leichthin antwortete: „Ich? Nein. Und das macht mir eigentlich auch gar nichts aus. Nicht der einzige zu sein.“ Er pausierte kurz, und als er weiter sprach, klang er wieder ernst. „Aber ich bin nicht sicher, ob es Jan etwas ausmachen würde, und du bist es doch auch nicht. Wir machen das nicht hinter seinem Rücken aus. Nicht, ohne zu wissen, was er dazu sagt. Alles andere wäre-“ „-falsch. Ich weiß“, beendete Valion den Satz für ihn, und Marceus nickte. „Warte ab. Wir werden sehen, ob wir etwas von Jan hören. Und es würde mich wundern, wenn nicht.“
Valion nickte stumm. Letztendlich blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, auch wenn er wünschte, es hätte eine Alternative gegeben. Aber vielleicht war es tatsächlich besser so. Vielleicht brauchte er jetzt dringender einen Freund als alles andere. Und zumindest hatte er trotzdem jemand, der ihn im Arm hielt.
Er hatte diesen Gedanken kaum zuende gedacht, als Marceus sagte: „Und bis dahin… könntest du aufhören dich an meinem Hintern festzuhalten?“ Valion stutzte, und bemerkte im nächsten Moment, dass er Recht hatte. Fast hätte er sich entschuldigt, aber dann sah er das amüsierte Lächeln in Marceus Gesicht, und wusste, dass er das nicht musste. „Macht man das nicht unter Freunden?“, fragte er betont unschuldig, und Marceus zuckte ebenso betont unschuldig mit den Schultern. „Ich sagte dir doch, ich habe nicht besonders viele Freunde. Sag du’s mir!“ Im nächsten Moment prusteten sie beide vor Lachen.
Marceus brachte ihn bis zu seinem Quartier zurück. Sie sprachen nicht, nicht einmal, als sie sich zum Abschied kurz umarmten; nur als Freunde, fürs erste. Marceus ging zurück an die Arbeit, und Valion trat in das Halbdunkel des Wagens, ein wenig ziellos.
„Hallo? Ist jemand da?“, fragte er leise in die Stille hinein, aber niemand antwortete. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er nicht allein war, und als er lauschte, hörte er tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Leise, beinahe auf Zehenspitzen, tappte er durch den Wagen und spähte hinter die Trennwand.
Er war nicht überrascht, Anya zu sehen, die ohne Decke, aber mit dem Kopf in ihr Kissen vergraben da lag und tief und fest schlief. Was ihn allerdings überraschte war, dass Fleurie ebenfalls anwesend war. Auch sie schlief, auf dem Boden sitzend, die Knie an den Körper gezogen und mit dem Kopf an eine Verstrebung gelehnt.
Leise ging er näher und betrachtete sie, das lange, gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs, und wie ihr Atem die feinen, gekräuselten Strähnen ihres Haars in Bewegung versetzte. Sie sah unschuldig aus, aber auch unendlich erschöpft; noch abgekämpfter als Anya an diesem Morgen gewirkt hatte, auch wenn ihm überhaupt nichts an ihr aufgefallen war. Vermutlich war sie noch besser als Anya darin, ihr Aussehen zu verändern und ihre Umgebung zu täuschen.
Aber das war nicht das einzige, das ihn beschäftigte. Je länger er sie betrachtete, desto mehr fiel ihm auf, wie steif ihr einer Arm an ihrer Seite lag. Sein Blick glitt von einem Arm zum anderen, zu der linken zurück zur rechten Hand. Letztere war angeschwollen, genauso wie der Arm. Er erinnerte sich vage an ihr Zusammenzucken, als sie aufgesprungen war.
War der Arm gebrochen, oder nur verstaucht? Und wenn ja, wer hatte das getan? Oder war es nur ein Unfall gewesen? Irgendwie bezweifelte Valion das. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Fleurie diese Verletzung aus einem bestimmten Grund verborgen hatte.
Wer war sie? Er hatte keine Ahnung. Er kannte nur ihren Namen, und dass sie ihre Stimme nicht verraten wollte. Er wusste, dass sie eine Sklavin war, und dass sie ihm nie aufgefallen war, bis sie völlig von sich aus beschlossen hatte, in seinem Leben aufzutauchen. Und dass er ihr aus irgendeinem unerklärlichen Grund vertraute, ohne ihre Motive zu durchschauen. Unwillkürlich dachte Valion an Tarn, seine Warnungen. Vermutlich hätte er sich die Haare gerauft, wenn Valion ihm jemals von ihr erzählt hätte, und wie bereitwillig er ihr Dinge anvertraut hatte, die niemand wissen durfte. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln, und er lächelte noch, als Fleurie plötzlich zusammen zuckte und die Augen auf schlug.
Er hatte noch nie etwas ähnliches gesehen: Sie war innerhalb eines Sekundenbruchteils nicht nur wach, sondern aufmerksam. Ihre Augen zuckten schnell hin und her, und sie erfasste jedes Detail ihrer Umgebung augenblicklich. Sie sah ihn, aber ihre Aufmerksamkeit wandte sich erst in dem Moment ihm zu, als sie sicher war, dass sie allein waren.
Oh, hallo, sagte sie mit einer ihrer Gesten, und Valion lächelte. „Ich bin gerade erst zurück gekommen“, erklärte er, „Ich wollte dich nicht wecken.“ Nicht so schlimm, teilte sie ihm mit, während sie sich aufrichtete und vorsichtig ihren Körper lockerte. Sie musste furchtbar steif sein, nachdem sie im Sitzen geschlafen hatte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. „Aber warum schläfst du überhaupt hier?“, wollte Valion wissen, und sie zuckte mit den Schultern, wies auf Anya, die immer noch tief und fest schlief. Ihretwegen.
„Sie hat dich eingeladen, hier zu schlafen?“, fragte er misstrauisch, und sie nickte. Dann griff sie fürsorglich nach einer Decke und breitete sie über Anya aus. Der Blick, den sie ihr zu warf, gefiel ihm nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er nicht begriff, warum Anya ausgerechnet irgendeiner Dienerin erlauben sollte, hier zu schlafen. Vielleicht wurde er paranoid, aber im ersten Moment fielen ihm nur zwei Möglichkeiten ein: Entweder, dass Anya und sie sich schon länger kannten, und Anya einfach gelogen hatte, als Valion sie nach Fleurie gefragt hatte. Oder dass, ohne dass er es bemerkt hatte, irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen war. Etwas, das er nicht einordnen konnte.
So oder so, es gefiel ihm nicht. Selbst, wenn er eigentlich gerade beschlossen hatte, Anya nicht mehr so misstrauisch zu betrachten. Es war albern, aber er hatte das Gefühl, Fleurie beschützen zu müssen vor Anyas manchmal schwieriger Art. „Du solltest vorsichtig sein, was sie betrifft. Sie…“ Er stockte, weil er nicht wusste, was er ausdrücken wollte. Wovor sollte er Fleurie warnen? Dass Anya in ungünstigen Momenten Wasser auf andere schüttete? Dass sie mit Eravier schlief, weil sie das vermutlich musste? Dass sie ihm verzieh, dass er sie eingeschüchtert und angeschrien hatte? Dass sie sich tatsächlich direkt bei Marceus entschuldigt hatte? Er fühlte sich immer mehr wie ein Idiot.
Aber sie war feindselig ihm gegenüber gewesen. Sie hatte ihm gedroht, Marceus verjagt und hinter seinem Rücken Pläne geschmiedet. Sie war unehrlich.
Und das ist das Schlimmste, das dir einfällt? Sie war unehrlich? Du bist ein Idiot.
Fleurie schüttelte den Kopf, und es war deutlich, was sie meinte: Du spinnst.
„Magst du sie?“, fragte er verwundert nach, und Fleurie schüttelte noch einmal den Kopf.
Nein.
„Warum tust du das dann?“, fragte er und deutete auf die fürsorglich ausgebreitete Decke.
Sie hielt ihm ihr Handgelenk hin, das kleine, eingebrannte E. Es drückte alles aus.
Wir sind Sklaven.
Wir teilen das gleiche Schicksal.
Wenn wir untereinander nicht loyal sind, zu wem sonst?
Und unbewusst legte Valion seine Hand auf seine eigene Schulter. Spürte den Schmerz der heilenden Brandmarkung, die er so oft vergaß. Die er noch überhaupt nicht verinnerlicht hatte.
Wir sind Sklaven.
Fleurie verabschiedete sich bald; sie teilte ihm mit, dass sie noch Arbeit zu tun hatte, und marschierte entschlossen davon. Er beobachtete sie, wie sie im Gedränge verschwand, den Arm völlig natürlich an ihrer Seite, obwohl er wusste, dass er verletzt war.
Anya wiederum schlief den ganzen Nachmittag und den Abend hindurch. Valion weckte sie nicht, während er in dem immer noch verwüsteten Wagen etwas Ordnung schuf, nur um etwas zu tun zu haben. Jadzia ließ sich nur kurz blicken, sah, dass Anya schlief, nickte Valion knapp zu und verschwand wieder ohne ein Wort. Er hatte das Gefühl, dass sie sich in Zukunft von ihm fern halten würde, aber damit würde er wohl leben müssen.
Er verließ den Wagen nur, um den Sonnenuntergang vom Rand des Lagers aus zu betrachten, und blieb so lange er konnte. Aber er hatte seine Verhaltensregeln nicht vergessen, und mit dem letzten Sonnenstrahl war er zurück.
Zuerst dachte er, Anya wäre aufgewacht, denn er hörte ihre Stimme, als er eintrat, und das Rascheln von Stoff. Aber als er nach ihr sah, schlief sie immer noch, allerdings unruhig. Sie drehte sich hin und her, und ihr Atem ging hastig und flach. Sie träumte, und vermutlich waren es keine schönen Träume. Ihr rotes Haar war verschwitzt und verworren, ihre Haut im Halbdunkel farblos. „Nein“, murmelte sie im Schlaf, und als Valion ihre Stirn fühlen wollte, zuckte sie selbst im Traum zurück, als hätte er sie geschlagen. „Nein…“
Ich kann ein Licht anzünden, wenn du willst. Oder… soll ich kurz deine Hand halten?
Sanft griff er ihre Hand, und jetzt zuckte sie nicht zurück. Reflexartig schloss sie ihre Finger um seine. Und wie von selbst begann er zu summen. Die Melodie, die ihn selbst in den Schlaf begleitet hatte. Und mit jedem Ton ließ die Spannung in ihrem Körper nach, lockerte sich der Griff um seine Hand, bis ihre Hand völlig erschlaffte. Die Träume verblassten.
Es war Anya gewesen, die in der Dunkelheit der Nacht seine Hand ergriffen hatte. Warum hatte er sich so lange gegen diese Erkenntnis gesperrt?
Du bist ein Idiot.