Die Straßenlichter rauschten an ihr vorbei. Das Bild vor ihren Augen verschwamm zu dünnen Strichen. Nächtliche Stille umgab sie unterbrochen nur vom tiefen Dröhnen der Motorradmotoren. Pakhet lehnte sich in die Kurve, ehe sie das Motorrad weiter den Berg hinaufjagte.
Da war er wieder. Der Geschwindigkeitsrausch, den sie so nur mit dem Motorrad kannte. Das Kribbeln im Bauch. Das Klopfen ihres Herzens. Sie hatte es so sehr vermisst!
Das beste war, das es funktionierte. Selbst die simple Greifvorrichtung der Prothese konnte einen festen Griff auf den modifizierten Lenker bekommen. Es machte ihre Fahrt einfacher, sorgte dafür, dass sie sich in den Kurven weniger unsicher fühlte. Sie war vielleicht nicht so gut wie vorher, doch war das wirklich ein Ziel gewesen?
Die nächste Kurve kam, dieses Mal nach rechts. Sie lehnte sich noch weiter, genoss das Gefühl, als ihr Knie nur wenige Zentimeter über dem Boden schwebte.
Wahrscheinlich hatten sie ein paar Leute aufgeweckt, aber im Moment war es ihr egal. Es war, was sie brauchte. Manchmal musste man halt egoistisch sein. Selbst Robert schien es zu genießen.
Sein Rücklicht flitzte als roter Punkt fünfzig Meter vor ihr die gewundene Straße hinauf.
Die Häuser hier standen weiter auseinander, waren teilweise von Mauern umgeben und hatten fast alle einen Garten. Sie fuhren an Pools vorbei, an Sicherheitsleuten, die ihnen missmutige Blicke zuwarfen. Zu ihrer Rechten schimmerte das Meer im Licht des zunehmenden Mondes.
Es hätte andere Strecken gegeben. Strecken, mit weniger Anwohnern. Diese hatten nur schlechtere Aussicht. Am Ende war es eh Roberts Schuld. Hätte er sich nicht verspätet …
Ein Grinsen breitete sich unter dem Helm auf ihrem Mund aus, während sie in die vorletzte Kurve bog.
Das hier war, was sie gebraucht hatte. So sehr. So endlos sehr. Es war großartig.
Die letzte Kurve und die Grenze des Viertels. Als eins der besseren Viertel war es durch eine Schranke gesichert, doch öffnete diese sich bereits, als Robert sich näherte. Kein Wunder. Sie waren kaum zu überhören.
Kurz hob Rob die Hand und zeigte dem Sicherheitsmann einen Daumen nach oben, ehe er das Tor in den Wald hindurchfuhr.
Pakhet folgte. Schon rasten sie den Tafelberg hinauf, wo um diese Zeit ziemlich sicher niemand mehr unterwegs war. Sie erlaubte sich zu beschleunigen, um so mit Robert aufzuschließen, der sie kurz ansah. Dann legte sie sich mehr auf die Maschine und zog an ihm vorbei.
Die Bäume zu beiden Seiten waren kaum zu erkennen. Die Straßenlampen waren nicht mehr als helle Striche auf dem Visier ihres Herms. Dann kam die nächste Kurve, direkt gefolgt von einer weiteren. Wie oft waren sie hier als Jugendliche langgefahren? Genau. Sie konnte sich daran erinnern. Auch an die Unfälle erinnern, die der ein oder andere gebaut hatte. Sie jedoch hatte Glück gehabt – na ja, Glück … Mittlerweile wusste sie, dass es magische Reflexe gewesen waren.
Noch einmal wurde die Strecke steiler wurde. Doch sie behielt das Tempo bei, auch wenn der Motor dröhnte.
Dann endlich erreichte sie die Stelle, wo es flacher wurde, lehnte sie beinahe automatisch in die nächste Kurve und bog dann in Richtung des Parkplatzes ab. Neben ihr die Felswand. Dann sah sie den Parkplatz. Vorsichtig entschleunigte sie – nur ein wenig. Sie konnte sich das Angeben nicht verkneifen. Also bremste sie, als sie mit den Reifen auf den Schotter kam, lenkte zur Seite, um das Bike ausdriften zu lassen.
Schotter flog. Für einen Moment ging ein Zittern durch ihre Arme. Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Beinahe kippte sie, doch dann schaffte sie es die Kontrolle zu bekommen. Kurz vor der Leitplanke, die den Parkplatz begrenzte, blieb sie stehen.
Ihr Atem ging schwer, während das Adrenalin noch immer durch ihre Adern rauschte. Sie brachte das Motorrad wieder in eine aufrechte Stellung, als Robert hinter ihr auf den Parkplatz fuhr.
Er lachte.
Vorsichtig löste sie den Griff der Prothese vom Lenker und streckte sich, ehe sie den Helm abnahm.
Ein leichter Wind ging hier oben, strich angenehm über ihre Kopfhaut, während sie sich durch das stachelige Haar strich. Sie sah zu Robert, sich des breiten Grinsens auf ihrem Gesicht bewusst.
Auch er grinste. „Nun, ich sehe, du kommst mit dem Mod gut klar.“
„Es funktioniert wunderbar.“ Sie legte den Helm vor sich auf den Sitz. „Danke, Rob.“
Kurz huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, aber dann nickte er. „Kein Ding, Jo. Für dich immer.“
Sie seufzte und schaute zur Stadt, die nun als Meer aus Lichtern unter ihnen lag. „Pakhet“, flüsterte sie. Wahrscheinlich würde er es nie lernen.
Einige Male atmete sie die Nachtluft dankbar ein. Von hier oben sah die Stadt so friedlich aus.
Nein. Diesen Gedanken verdrängte sie. Denn sie wollte, dass diese Nacht perfekt war.
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Für die 60 Minutes Challenge: Mitternachtsritt