SPOILER ALARM
Die Geschichte spielt nach dem zweiten Band von Der Schleier der Welt. Es wird eine Storyentwicklung gespoilert.
Es wurde langsam merklich wärmer. Selbst hier in den Bergen schmolz der letzte Schnee und die ersten Blumen streckten ihre Knospen aus den Boden. Es war dasselbe wie jedes Jahr, doch es war das erste Mal seit einigen Jahren, dass es Thia wirklich bewusst wurde.
Es war wärmer geworden. Aber nicht nur draußen. Es war auch, als wäre ein wenig mehr Wärme im Haus zu finden - selbst wenn dieses gewisse, drückende Gefühl noch immer blieb.
Zugegebenermaßen war sie sich noch immer nicht sicher, was sie von der Sache mit der kleinen Hexe hielt. Egal was Sean sagte, egal was die Frau sagte, Thia kam nicht umher sich zu fragen, ob eine gewisse Magie mit im Spiel gewesen war. Sie glaubte nicht, dass es Kyra gewesen war - immerhin war die Abneigung zuvor fraglos beiderseitig gewesen - und auch nicht, dass es ihre Mentorin gewesen sein könnte, doch irgendjemand hatte seine Finger im Spiel. Es ergab sonst keinen Sinn. Dennoch tat es gut, dass etwas Leben in der Hütte herrschte. Mehr als in langer Zeit.
Selbst wenn dieses Leben vornehmlich durch Außenseiter kam. Durch Kyra, durch Jason und durch den Hund, der schon wieder laut kläffend durch die Hütte stürmte, während sie in dem Sessel im Wohnzimmer saß und versuchte zu lesen.
Thia stöhnte, warum machte sie sich überhaupt die Mühe?
Nun stand der Hund wild bellend an der Eingangstür und wartete ganz außer sich vor Freude darauf, dass sein Frauchen kam. Offenbar war ihm ein Gassigehen versprochen worden.
Der Hund war furchtbar verzogen. Gut, er machte nicht - oder zumindest nur selten - ins Haus, doch ansonsten war er einfach ... Er bellte ständig und bellte dabei laut, er bettelte ungehalten und sprang ständig Leute an, um sie zu begrüßen. Und übergewichtig war er auch noch, selbst wenn sich dies langsam besserte. Offenbar profitierte er von mehr Bewegung.
Es blieb nur die Frage: Wo war Kyra?
Seufzend legte Thia ihr Buch zur Seite und ging zur Tür des Zimmers, um in den Flur zu schauen. „Kyra?“, brummte sie halblaut.
Ein Kichern aus einem der Zimmer. Dann ein: „Komme ja schon!“
Nun, sowohl Kyra, als auch Sean waren noch immer angeschlagen. Kein Wunder. Eigentlich hätte jeder von ihnen tot sein sollen. Allerdings zweifelte Thia deutlich daran, dass dies der Grund für die Verzögerung war.
Die Wangen der jungen Frau waren gerötet, als sie in den Flur kam, Sean direkt hinter ihr. Ihr Haar war leicht zerzaust. Gerade versuchte sie es, mit einem Haargummi zu zähmen.
Thia schenkte ihnen beiden einen entgeisterten Blick. „Könnt ihr nicht zehn Minuten einmal die Finger voneinander lassen?“
Die beiden tauschten einen verstohlenen Blick. Er grinste. Sie lachte und senkte dann den Blick.
Thia seufzte nur wieder und öffnete für sie die Eingangstür - und sei es nur um den Hund zum Verstummen zu bringen. Dieser ließ es sich nicht zwei Mal sagen. Kaum war die Tür weit genug offen, stürmte er hinaus und rannte direkt eine Runde ums Haus. Wenigstens hatte er einen ausgeprägten Bewegungsdrang.
Nun schenkte Kyra Thia einen verlegenden Blick. „Sorry, wenn Watson dich beim Lernen gestört hat.“
Thia zuckte mit den Schultern. Ihr Arm lag noch immer in einer Bandage und das Gefühl in den Fingern kehrte nur langsam zurück. „Eigentlich ist es egal“, murmelte sie daher und fragte sich, ob sie nicht viel zu versöhnlich war. Dann wiederum konnte sie ihr nicht wirklich sauer sein. Es war besser, dass sie hier war - und nicht nur, weil sie heilen konnte.
Kurz herrschte ein peinliches Schweigen zwischen ihnen, während Watson seine zweite Runde vollendete und nun schwanzwedelnd vor dem Haus stand.
„Magst du vielleicht mitkommen?“, bot Sean an.
„Mit?“, echote Thia.
„Auf einen kleinen Rundgang. Mit Watson.“
Das war mehr Freundlichkeit, als sie es nach den letzten Jahren von ihm gewohnt war. Thia schaute betreten zu dem Lehrbuch zurück. Bot Sean es nur an, weil er ein schlechtes Gewissen hatte?
„Ich habe das Gefühl, dass könnte schnell zu Voyeurismus werden“, neckte sie.
„Ach, komm, so schlimm sind wir auch wieder nicht.“ Kyra schenkte ihr ein schiefes Lächeln.
Eine ehrliche Antwort ging wohl zu weit. Dabei sollte die kleine Hexe eigentlich wissen, wie gut das Gehör eines Werwolfs war.
Dennoch seufzte Thia. Sie hatte zu lange Zeit damit verbracht einfach nur allein hier zu sitzen. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie wieder etwas zusammen machten. Sie konnte sich an Zeiten erinnern, zu denen es Spaß gemacht hatte, hierher zu kommen. Daher zuckte sie mit den Schultern. „Vielleicht braucht ihr auch einfach eine Anstandsdame.“ Sie nahm ihre Jacke von der Garderobe. „Wir könnten schauen, ob Jason noch lebt. Immerhin habe ich ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen.“
Wieder wurde ein Blick getauscht, den Thia nicht verstand. Dennoch zwängte sie sich, so gut es mit dem lahmen Arm ging, in die Jacke und folgte den beiden aus dem Haus. Tatsächlich wuchsen bereits die ersten Krokusse.
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SIXTY MINUTE CHALLENGE
Prompt: Das Ende des Winters