„Und wer ist das?“, fragt Melanie und zeigt auf das Bild neben dem meiner Familie.
Ein Stechen macht sich in meiner Brust breit, während ich gegen den ersten Instinkt ankämpfe, das Thema prompt zu wechseln. Melanie würde sich daraus sicher mehr denken können, als wenn ich ruhig antworte. Mein zweiter Instinkt ist, mich unwissend zu stellen. „Äh, was?“ Ich tue, als hätte ich nicht zugehört.
Noch einmal zeigt sie auf das Bild von mir und Miriam, dass da vor dem Wörterbuch steht. „Das Mädchen. Wer ist das?“
Das Stechen in meiner Brust wird intensiver. Warum habe ich das Bild überhaupt aufgestellt? Ich habe darüber nicht einmal nachgedacht. Immerhin ist es jetzt … wie lange? Es sind sicher zwei Monate vergangen, seit es vorbei ist. Und es ist besser so, nicht?
„Das ist Miriam“, antworte ich und hoffe dabei, dass meine Stimme nicht ganz so brüchig ist, wie sie in meinen Ohren klingt. „Eine gute Freundin mit der ich früher auf dem Camp war.“ Gute Freundin, ha, vielleicht sollte ich sie meine Cousine nennen.
„Ah.“ Melanie lehnt wieder gegen die Wand des kleinen Zimmers. Wahrscheinlich will sie nur ein wenig Smalltalk halten, ihre neue Mitbewohnerin kennenlernen. Dabei bin ich nur froh, dass sie nicht „die eine Frage“ gestellt hat, die so viele als erstes beim Bild meiner Familie stellen. Sie kann ja nicht wissen, dass die Frage um Miriam nicht weniger problematisch ist – wenngleich aus ganz anderen Gründen.
Jetzt aber hängt mein Blick an dem Bild fest, während diverse Erinnerungen wieder in mein Bewusstsein zurückströmen. Miriams Stimme. Miriams Geruch. Miriams Küsse. Das Gefühl, wenn Miriam mich berührte. Der traurige Ausdruck ihrer Augen, als sie sich auf die Unterlippe biss und sagte, dass es vielleicht besser wäre – immerhin hatte sie ihre Ausbildung beendet und ich würde mit dem Studium anfangen und mein Vater … Ich wusste, wie mein Vater über diese Dinge dachte. Damals schon. Jetzt noch.
Und dennoch …
„Was war das eigentlich für ein Camp?“, fragt Melanie, als ihr die Stille zu drückend wird.
Noch so eine Frage, die ich schwer ehrlich beantworten kann. „Überlebenscamp, wenn man so will. So ein wenig wie Militär.“
Jetzt schaut sie verwirrt. „War das irgendwie Strafe für was?“
„Nein, Familientradition“, antworte ich. „Familientradition. Mein Vater ist beim Militär. Also nicht richtig … Ach, kompliziert.“ Dass mein Vater hauptberuflich Monster jagt, die für Melanie wahrscheinlich nur in alten Märchen existieren, kann ich ihr schlecht erzählen.
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Fingerübungen
Stichwort: Gefühle
Charaktere entstammen einem Roman namens "7 Nächte"