„Wollten wir nicht einen Sommernachtstraum zusammen erleben? Jetzt ist es schon Herbst.“
Etwas betrübt sah Sebastian Ingo an. Verlorene Zeiten. Doch wen wundert es bei diesem Jahr, in dem Corona die gesamte Weltbevölkerung in Atem hielt. Es machte weder vor Ingo noch vor Sebastian halt, auch wenn beide nicht direkt davon betroffen waren.
„Das wollten wir.“ Kaum hatte Ingo die Worte ausgesprochen, kamen ihm die Tränen. Sebastian legte ihm die Hand um die Schultern und küsste ihm am Kopf. Er bezweifelte, dass Ingo seine Geste überhaupt bemerkt hatte. Also schenkte er ihm seine Schulter und wartete, bis er sich wieder gefangen hatte.
Hier oben auf der Lichtung, die den Blick ins Tal freigab, saßen sie, umgeben von Bäumen mit teils noch grünen, meist aber schon gelben, roten und braunen Blättern. Sebastian betrachtete die Blätter, um die der zarte Wind die Bäume erleichterte. Jedes Blatt wie ein Stück der Hoffnung, das hinfortgeweht wurde. Er fragte sich, woher er die Geduld nahm. Es war ein Silvesterfest gewesen, als sie sich bei Freunden trafen. Es funkte zwischen ihnen wie ein Feuerwerk, doch warum mussten sie vierhundertfünfzig Kilometer auseinanderwohnen? Doch das war kein Problem. Bis März. Ingos Arbeitgeber meldete Kurzarbeit an. Gerne wäre er in der Zeit zu Sebastian gezogen, der eine wunderschöne Wohnung im Grünen hatte. Offensichtlich hatte es aber Corona auf ihn abgesehen, das heißt, auf seine Mutter. Die lag in einem Altenheim, in dem der Virus auf Wanderschaft ging. Seine Mutter gehörte zu den frühen Opfern. Dass er nicht bei ihr sein durfte, machte ihm besonders zu schaffen. Die Beerdigung fand im kleinsten Rahmen statt ohne all die Menschen, die er gerne um sich gehabt hätte. Das Erbe zu organisieren nahm ihn emotional komplett für Wochen in Beschlag. Doch sie verabredeten sich zu einem Sommernachtstraum. Es musste doch wieder besser werden! Genau hier auf der Lichtung wollten sie das Einbrechen einer lauen Nacht genießen. Dicht aneinander, doch Tränen gab es in ihrer Phantasie keine.
Mit einem Mal hörte Ingo auf zu schluchzen. „Ich habe dich nicht verdient. Wirklich nicht.“ Er machte Anstalten, aufzustehen, doch Sebastian ließ ihn nicht los.
„Was soll denn das jetzt?“ wunderte sich der andere.
„Ich kann nicht mehr. Und schon gar nicht will ich dich mit meinem Unglück belasten. Seit fast einem Jahr strapaziere ich dich mit allem, was bei mir schief geht.
„Und weiter?“
„Das darf nicht sein. So geht man nicht mit seinem Freund um.“ Ingo wirkte so selbstsicher, als er das aussprach, dass der Mann, den er so sehr liebte, überlegte, ob er Recht hat.
Schließlich sagte er: „Quatsch. Setz dich.“
„Nein, erst die Sache mit meiner Mutter, dann die mit meiner Stelle.“ Ja, aus der Kurzarbeit wurde schließlich eine Kündigung. Aus der Not geboren ging er kellnern, bis auch in diesem November die Saison für die Gastronomie wieder beendet wurde. Wieder saß er ohne Arbeit da und würde es wohl auch noch im Dezember, denn das Restaurant entschied sich ebenfalls zur dauerhaften Schließung. „Und du musst alles aushalten. Nein, ich ziehe dich jetzt nicht auch noch in die Scheiße.“
„Das sind aber harte Worte.“
„Ist doch wahr. Mein ganzes Leben ist im Arsch und ich verteile auch noch das Unglück. Wo ich hinkomme, geht es den Bach runter.“
Jetzt wurde Sebastian wütend: „Hey, es reicht! Sich selbst runterzubürsten hilft doch auch nicht.“
„Du hast doch keine Ahnung, wie es mir geht, und ständig bist du zu mir gekommen, weil ich den Hintern nicht mehr hochbekommen habe.“
„Na und? Ich habe mich für dich entschieden, also bin ich jetzt auch da!“
„Ach ja, welche Freude bereite ich dir denn? Macht es Spaß, mir zuzuschauen, wie ich kaputtgehe?“
Sebastians Wut gab den Platz frei für Angst, die Furcht, dass ein Liebster etwas Schlimmes machen, sich etwas Schlimmes antun könnte. Er flüsterte fast: „Nein, das macht mir keinen Spaß.“
„Siehst du, was willst du überhaupt von mir?“
Immer noch sprach er leise: „Ich will gar nichts von dir. Ich will nur ein Leben mit dir.“
„Was ist DAS für ein Leben?“ Mit stechendem Schritt entfernte er sich von Sebastian. Ging mal hierhin mal dahin, näherte sich wieder der Bank, neben der sein Freund stand, nur um sich wieder umzudrehen. Plötzlich blieb er stehen, holte Luft und schrie aus voller Kehle, schrie seine ganze Verzweiflung, seinen Hass auf das Leben, wie es im Moment war und seine Angst in die Welt.
Sebastian eilte herbei, er hatte mit dieser Reaktion nicht gerechnet, suchte den Blickkontakt.
„Ich will nicht mehr“, gab er tonlos von sich.
„Du willst nicht mehr SO wie jetzt, oder?“
Ingo bestätigte mit einem Kopfnicken
„Dann braucht es etwas, was wir noch nicht gefunden haben.“ Er drehte ihn und schob ihn wieder Richtung Bank. Dabei fragte er sich, warum er diese Anzeichen, dieser Gedanke, versagt zu haben, nicht schon früher gesehen hatte. „Setz dich.“ Er zog eine Decke aus seinem Rucksack und legte sie um Ingos und seine eigenen Schultern. „Es ist kein Sommernachtstraum, aber wenigstens ein Herbstnachtstraum.“
„Wo nimmst du nur den Mut her?“ Ingo hatte sich wieder beruhigt.
„Schau die Blätter, wie sie fallen. Du kannst denken, dass das alles verlorene Chancen, vergangene Gelegenheiten sind.“ Ingo nickte. „Sie machen aber auch Platz für neue Blätter, die dann nächstes Jahr kommen. Dazwischen kommen die Bäume einfach mal zur Ruhe.“
Tatsächlich lächelte Ingo. „Warum mich meine Mutter warnte, ich solle nichts mit einem Psychologen anfangen, weiß ich jetzt eigentlich auch nicht.“
So saßen sie noch eine Weile und hielten sich an den Händen fest, beobachteten die Bäume dabei, wie sie sich auf den Winter und den kommenden Frühling vorbereiteten. Stille. Bis sie so durchgekühlt waren, dass sie sich nur noch in einem Bett mit warmer Decke wieder aufwärmen konnten.