Dieser Text ist im Rahmen der 60-Minutes-Challenge-Gruppe (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) entstanden. Der Prompt bestand aus einem Bild eines metallenen Tores in einem verschneiten Wald. Ich empfehle das Bereitlegen von Taschentüchern.
„Ronny, verdammt noch mal, jetzt räume endlich dein Zimmer auf!“
Jeden Tag die gleiche Leier. Isabellas Sohn war das personifizierte Chaos, ein Träumer vor dem Herrn. Natürlich mochten ihn alle, doch niemand musste mit ihm leben und alles hinter ihm aufräumen. Isabella war es ziemlich leid. Ja, sie liebte ihr Kind, mehr als alles andere auf der Welt; und gleichzeitig zog dieses Kind Durcheinander magisch an. Der Kinderarzt sagte zu ihr, dass er nur wenige Kinder in seiner Praxis sieht, die selbst bei über neununddreißig Grad Fieber noch lächeln konnten, die anderen jammerten immer. Er war sogar der Meinung, dass dieses Kind sicherlich eine Fähigkeit hätte, die kein anderes Kind habe. Doch es sei nur so ein Gefühl. So oder so ähnlich waren damals seine Worte, als Ronny mit fünf Jahren mit den Windpocken zur Behandlung war. Doch Pustekuchen - Ronny hatte gerade sein Abitur gemacht, mit viel Geduld seiner Mutter, einer endlosen Menge an Nachhilfestunden, und der Hilfe seiner drei besten Freunde Mark, Gereon und Angelika. Doch im Gegensatz zu denen, wusste Ronny so gar nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Lieber spielte er, lief im Wald herum, las ein Buch nach dem anderen, doch leider nichts Fachliches, sondern nur Fantasy-Romane. Als er dann auch noch Belletristica gefunden hatte, war es ganz und gar um ihn geschehen. Isabella fand das gar nicht lustig und sie machte sich ernsthaft Sorgen. Tatsächlich gelang es ihr, ihn zu einem Studiengang zu überreden: Germanistik. Dafür hatte er noch am meisten Interesse, so schnell wie er sich den Inhalt von Büchern einverleiben konnte. Es war eine Aussicht, doch sie müsste ein weiteres halbes Jahr warten.
„Wollen wir heute nicht lieber spazieren gehen? Es hat geschneit!“ war Ronnys Antwort. Er hörte nicht einmal, wie sehr seine Mutter unter seinem Sinn für Chaos litt. Seiner Mutter wurde das Herz weich, denn jetzt, wo er erwachsen war, hörte sie die Stimme von Ronnys Vater aus ihm heraus. Ein Mann, der auf wundersame Weise in ihr Leben kam, sie umwarb, sie liebte und sie zum Lachen brachte. Er war nicht minder chaotisch, doch dies äußerte sich vor allem darin, dass er ihr auf die ungewöhnlichsten Wege Liebeserklärungen gab. Doch von einem auf den anderen Tag war er verschwunden, unauffindbar. Die Erinnerungen an diesen Mann waren so lebendig und so glücklich, dass es ihr schwer fiel, ihn dafür zu verfluchen, sie sitzen gelassen zu haben. Sitzen gelassen noch bevor sie ihm sagen konnte, dass er Vater werden würde. Sie suchte ihn und gab sogar der Polizei eine genaue Beschreibung, doch er war einfach weg, als wäre er niemals da gewesen. Ronny hielt sie schließlich davon ab, in eine Depression zu verfallen, denn er hatte genügend Lebendigkeit im Leib und genügend Lachen auf den Lippen, das für sie beide reichte. Wie auch immer er es anstellte, es gelang ihm auch dieses Mal.
„Und danach räumst du dein Zimmer wenigstens so weit auf, dass ich mit dem Staubsauger durchkomme?“
„Ok, das mache ich. Aber jetzt lass uns in den Wald, er wird herrlich aussehen!“
Sie packten sich beide dick ein, denn in der Nacht hatte es ordentlich Schnee gegeben und es war kalt genug, dass er auch liegen blieb. Es waren nur wenige hundert Meter, bevor sie die ersten Bäume erreichten.
Der Wald war Ronnys Lieblingsort; im Wald fühlte er sich frei und angenommen von der Welt, obwohl es ihn nicht weiter störte, wenn andere ihn nicht mochten. Denn bis auf seine drei besten Freunde hielt es kaum jemand mit ihm aus, zu sehr sprang er mit seinen Gedanken, zu viele verrückte Ideen raubten vielen den letzten Nerv. Doch Mark, Gereon und Angelika waren sich einig, dass er vollkommen normal ist, was immer das auch heißen mochte. Ronny konnte nämlich Bäume anfassen und fühlen, ob sie glücklich waren. Die drei versuchten das auch und Ronny erklärte es ihnen haargenau, wie sie die Hand auflegen mussten, um das zu erspüren. Doch es gelang nur ihm. Einmal bat er seine Freunde, Abstand zu ihm zu wahren und sich nicht zu rühren. Er ging weiter vor auf eine Lichtung, streckte seine Arme nach links und rechts und schloss die Augen. Es dauerte ungefähr fünf Minuten und ein Reh kam zu ihm, so nahe, dass er es streicheln konnte. Aus der Ferne sah es sogar so aus, als würde sich das Reh an ihn schmiegen. Seine Freunde versuchten das auch, doch ihnen gelang das nicht. Angelikas Idee war damals, dass er doch Förster werden sollte. Doch das wollte er nicht. Ein Wald könne sich gut um sich selbst kümmern, wenn man ihn nur ließe und mit ihm notfalls ein ernstes Wort spräche. Dass er wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt ist, der das kann, glaubte er nicht.
„Mama, kannst du mir ein wenig von meinem Papa erzählen?“
Isabelle lächelte, als sie die ersten Schneespuren im Wald hinterließen. „Ach Ronny, das habe ich dir doch schon so oft erzählt.“
„Das letzte Mal war ich vielleicht zwölf Jahre alt!“
Sie blieb stehen und schaute ihn an: „Was genau möchtest du denn wissen?“
„Mir ist manchmal, als wäre er der einzige, der mich wirklich versteht.“ Ronny war außergewöhnlich ernst.
„Ronny, er ist weg, als wäre er nie da gewesen.“
„Aber das kann doch nicht sein!“ Eine ungewöhnliche Wut klang in seiner Stimme.
„Nein, das kann nicht sein. Und doch ist es so. Und ja, vielleicht ist er wirklich der einzige, der dich versteht. Doch er ist ganz sicher nicht der einzige, der dich liebt - wenn er überhaupt weiß, dass es dich gibt.“
„Oh doch, ganz sicher.“
„Woher nimmst du nur deine Gewissheiten?“
„Kannst du das nicht spüren?“
„Nein, mein Kind. Wie denn?“
„Schau mal, ich zeige es dir.“ Dann legte er eine Hand an einen Baum, schaute ihn an und nickte: „Dies ist ein glücklicher Baum, doch er meint, es gäbe einen unglücklichen, gar nicht weit weg hier am Weg.“
Isabella seufzte nur, sie kannte das bereits von ihrem Kind. Wie konnte er sich bei alldem nur so sicher sein? Als sie den Weg weitergingen, zog Ronny sie plötzlich ein paar Schritte zurück. In dem Moment fiel krachend ein großer Ast unter der Schneelast vor ihre Füße. Isabella erschrak, doch Ronny schaute sie ruhig an: „Siehst du? Das meinte ich.“
Dies war der Augenblick, in dem sich Isabella an den Kinderarzt erinnerte. Vielleicht hatte er ja doch Recht gehabt? Doch sie schüttelte diesen Gedanken ab. Warum sollte jemand mit Bäumen sprechen können und wofür könnte das gut sein?
„Komm, ich zeige dir noch etwas!“ Ronny zog sie weiter in den Wald hinein zu der Lichtung, an der einmal einem Reh begegnete. Doch etwas auf dieser Lichtung war anders. Etwas, das auch Isabella etwas nervös machte, denn es war ganz nah der Stelle, an der ihr Rongard, Ronnys Vater, zum ersten Mal bei einem Sonntagsspaziergang mit ihrer Familie begegnete. Auf dieser Lichtung stand ein eisernes Tor. „Siehst du das Tor? Das habe ich hier noch nie gesehen.“
Etwas mühevoll stapften die beiden durch den Schnee zur Lichtung und zu dem eisernen Werk. Es war sicher drei Meter hoch und mit feiner Schmiedekunst hergestellt. Sie umrundeten das Tor. Wer stellte ein solches Kunstwerk mitten im Winter in einem Wald auf? Ronny streckte seine Hand aus, doch seine Mutter zog ihn zurück: „Nicht!“ Das Gefühl purer Angst lief ihr kalt den Rücken herunter. Doch Ronny ließ sich nicht davon abhalten: Er legte eine Hand auf das kalte Metall. Seine Augen wurden groß und er sprach zu seiner Mutter: „Es hört sich an wie der Wald im Sommer!“ Doch Isabella fühlte Panik in sich aufsteigen. Nur noch leise konnte sie sagen: „Nicht, mach’ das nicht, Ronny. Nicht, mein Kind.“ Doch Ronny legte die Hand auf die Klinke und öffnete das Tor. Man konnte durch das Gitter den Wald dahinter sehen, verschneit und still. Es sah genauso aus, als das Tor offen war. Er drehte sich zu seiner Mutter um: „Ich muss da jetzt durchgehen, Mama. Und wenn es Zeit ist, dann komme ich zurück.“
„Was meinst du?“ Ihre Stimme klang schrill.
„Danke, Mama, danke für alles!“ Eine Träne floss seine Wange herunter, doch er musste gehen. Es war die eine Gelegenheit, die vielleicht nicht wieder kommen würde.
Er schritt hindurch und seine Mutter konnte ihn auf der anderen Seite sehen. Er drehte sich um mit dem glücklichsten Gesichtsausdruck, den sie jemals in seinem Gesicht sehen konnte: „Es ist hier Sommer, Mama! Es ist wunderschön!“
Isabella nahm allen Mut zusammen und sprang ebenfalls durch das offene Tor, doch sie stolperte und fiel hin. Kalter Schnee drückte sich an ihr Gesicht. Schnell sah sie auf, doch sie war allein. Während sie ein lautes „Ronny!“ mit aller Kraft in den Wald schrie, blickte der nach oben, um den Vogel zu finden, der so laut krächzte, doch er fand ihn nicht. Wenige Momente später kam ein Reh auf ihn zu und stupste ihn liebevoll in die Seite, bevor es wieder in den Wald sprang.