Dieser Text ist im Rahmen der 60-Minutes-Challenge-Gruppe (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) entstanden. Der Prompt war "Traumtänzer" und die Figur, um die es hier geht, spielt in einer meiner anderen Geschichte noch eine Hauptrolle.
„Na, wer bist du denn, junger Mann?“
Der dunkelhaarige Junge zögerte. Sollte er sich wirklich trauen? Nur weil er Billy Elliot im Fernsehen gesehen hatte, stand er jetzt am Eingang einer Tanzschule, in der Hand sein Turnbeutel, den er ansonsten in die Schule mitnahm.
„Dir wird hier nichts passieren, und wenn du magst, kannst du es dir einfach auch mal eine halbe Stunde anschauen.“
Er nickte und ging der Frau hinterher, die ihn angesprochen hatte. Noch einmal drehte sie sich zu ihm um: „Wonach ist dir: Zuschauen oder gleich versuchen mitzumachen?“
Er atmete tief durch und endlich traute er sich: „Mitmachen!“ Er war nicht zum Gucken da, das hat er bereits mit dem Film erledigt. Es wurde Zeit, dass er sich bewegen konnte wie dieser Billy. Einfach rauslassen, was in seinem Inneren seit Monaten schon brodelte.
„Dann sind hier die Umkleiden für die Jungs.“ Sie deutete auf eine Tür. „Und wenn du fertig bist, dann komm einfach dort in die Halle. Ok?“ Er nickte ihr zu und der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen.
Aus der Umkleide hörte er ein paar rüde Sprüche, doch sie verstummten, als die anderen ihn gewahr wurden.
„Oho, Verstärkung für uns?“ sagte einer, der gerade mit nacktem Oberkörper da stand. Der Junge schätzte ihn auf siebzehn oder achtzehn Jahre und wäre am liebsten gerade wieder aus der Umkleide gerannt. Er war zwar sportlich, aber gleichzeitig schmächtig, was ihn beim Turnunterricht in der Schule immer mit Spott versorgte. Die Angst, dass das dann ausgerechnet bei einem Jungen wieder passiert, der wirklich größer und weiter entwickelt war als er, ließ ihn leicht zittern.
„Also, ich bin Fabian, das sind Andreas, Silvio, Ingmar, noch einmal Andreas, Günther und Karl. Tanzt du schon länger?“
Noch traute er sich nicht zu sprechen, also schüttelte er einfach nur den Kopf.
„Na, dann mach dich mal bereit, wir gehen schon mal rein. Bis gleich.“
Er atmete tief durch, der Anfang war irgendwie gemacht, und zog sich um.
Aus der Halle hörte er Musik und die Stimme der Frau, die ihn begrüßt hatte, füllte den Raum mit Anweisungen. Als er die Tür öffnete, wusste er, dass er angekommen war. Schon der Geruch des Parkettbodens, ganz anders als die Turnhalle seiner Schule, wirkte auf ihn einladend, und erst recht das Lächeln der Frau, die sich offensichtlich freute, dass er da war, hieß ihn willkommen. An der Wand gab es auch hier einen Spiegel und davor eine Ballettstange, doch die Tänzer und Tänzerinnen waren zum Aufwärmen in der Halle verteilt.
„Gehe einfach in die Mitte, dann kannst du nach allen Seiten abgucken und mitmachen.“ Sie winkte ihn mitten unter die anderen und er hörte ein paar gemurmelte: „Hallo!“
Die Zeit des Trainings verging wie im Flug. Der Junge sog alles in sich auf, was er sah, selbst wenn ihm nur ganz wenig davon gelang. Doch das Gefühl, wie es sein würde, wenn diese Bewegungen eingeübt wären, hatte er bereits in diesem ersten Training. Ein Klatschen der Trainerin, gefolgt von einem „Vielen Dank, bis zum nächsten Mal!“ riss ihn aus seiner Hochstimmung heraus. Nein, er wollte noch nicht aufhören! Da sprach sie: „Junger Mann, hast du noch einen Moment?“
„Ja, klar.“
„Würdest du mir einen Gefallen machen?“ Dann blickte sie zum Ausgang und rief dorthin: „Ach, Fabian, kannst du noch einen Moment bleiben, bitte?“ Fabian betrat wieder die Halle, er wusste wohl, was jetzt kommen würde, denn er ging zur Sitzbank auf der Seite, an der die Musikanlage stand, und setzte sich.
„Hast du eine Lieblingsmusik? Eher etwas klassisches oder etwas modernes?“
Doch der Junge kannte sich nicht richtig mit Musik aus. Also sagte er: „Die Hauptsache, es ist nicht zu langsam.“
„Ok, ich werde dir jetzt eine Musik vorspielen, und wenn sie passt, dann tanzt du dazu, was immer dir einfällt. Es gibt hier kein Richtig und kein Falsch, es gibt nur dich, die Musik, deine Bewegung und deine Emotion. Bist du bereit?“
Der Junge schluckte. Musste dieser Fabian unbedingt dabei sitzen? Es wäre ihm leichter gefallen, wenn er nicht da wäre, auch wenn er unerwartet freundlich zu ihm war.
Die Musik ging los und er ließ sie in seinen Körper hineinfließen. Ganz von alleine setzten sich seine Füße in Bewegung und seine Arme gaben der Bewegung Ausdruck. Er drehte sich, er sprang, er ging sogar einmal zu Boden und ein paar der Figuren, die sie heute geübt hatten, konnte er auch schon zum Besten geben. Gerade einmal drei Minuten dauerte es, bis er völlig außer Atem in einer stolzen Pose seinen Tanz beendete. Erst da merkte er wieder, dass er eigentlich beobachtet wurde. Sowohl die Trainerin als auch Fabian gaben Applaus.
„Du bist dir sicher, dass du noch nie zuvor getanzt hast?“ fragte die Trainerin.
„Ja, bin ich.“
„Du hast echt Talent“, sprach jetzt Fabian. „Ich, also wir beide, würden uns sehr freuen, wenn du bei uns mitmachst. Simone macht das gemeinsame Training, ich unterrichte zusätzlich die Jungs.“ Das war also der Grund, warum er dabei war. „Nur drei Dinge müssen wir noch ändern.“
„Was denn?“
„Erstens: Du brauchst andere Schuhe. Wir lassen jeden am Anfang in seinen Turnschuhen tanzen, weil man das kennt und damit sicherer ist. Du brauchst dann aber Ballettschuhe. Zweitens: Eine Unterschrift von deiner Mutter oder deinem Vater unter dem Aufnahmeantrag.“ Als er das hörte, sackte er in sich zusammen. Sofort sprangen Simone und Fabian auf und gingen zu ihm, knieten sich runter, als sie auch noch sahen, dass dem Jungen Tränen in den Augen stand. „Entschuldige, habe ich etwas Falsches gesagt?“
Der Junge schüttelte den Kopf: „Ich hoffe“, schniefte er, „meine Mutter unterschreibt. Mein Papa ist vor ein paar Wochen gestorben.“
„Gott im Himmel, das tut mir leid“, Simone zog den Kleinen kurz in ihre Arme. „Wir bekommen das schon hin, das hat bisher schon immer geklappt.“ Das beruhigte ihn sehr.
„Und drittens?“ wollte er jetzt wissen.
Fabian lächelte ihn an: „Und drittens: Verschaffen wir dir ein bisschen mehr Selbstvertrauen, denn das, was du heute getanzt hast, zeigte echtes Talent. Du brauchst dich nicht zu verstecken.“ Das freute den Jungen wirklich. „Wie wäre es“, überlegte Fabian, „du fängst gleich damit an und verrätst uns deinen Namen?“
„Ich bin Arne. Arne Cooper.“
„Willkommen, Arne!“