Dieser Text ist im Rahmen der 60-Minutes-Challenge-Gruppe (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) entstanden. Es ist eine Fortsetzung zum Kapitel „Das Tor“: https://belletristica.com/de/books/16661-gaydons-kurzgeschichten-edition-oberwelt/chapter/77161-das-tor
Kurz nachdem er aufwachte, nahm er den kleinen, runden Stein vom Sims und drückte ihn fest in seiner Hand. Nach all den Jahren war aus dem einst simplen Kiesel ein perfekter Handschmeichler geworden. Wie jeden Tag rückte er ihn auf dem Sims von einem Ziegel auf den nächsten, aber nur dieser letzte Ziegel heute bedeutete etwas Gutes: eine halbe Stunde spazieren an der frischen Luft. Das genoss er schon in dem Moment, in dem er in seinem steinernen Gefängnis aufwachte und seinen kleinen Stein, mit dem er die Tage der Woche zählte, einen Ziegel weiter legte. Morgen würde er wieder beim linken Ziegel beginnen.
Er nutzte das Wasser, das man ihm hinstellte, als Spiegel. Wild sahen seine Haare aus, die sein Gesicht umrahmten. Wenn er mochte, gab man ihm eine Schere, damit er sie sich selbst stutzen durfte, doch dafür musste er auf seinen Spaziergang verzichten. Also hatte er irgendwann beschlossen, sie einfach wachsen zu lassen. Hätte er doch nur mehr Wasser bekommen können, damit er sich wenigstens gepflegt fühlen konnte. Oder eine Bürste. Mit seinem Vollbart ging es ihm ähnlich. Er hatte nie einen Bart getragen, denn warum hätte er sein hübsches Gesicht verstecken sollen? Das einzige, was immer noch aussah wie damals, als sie ihn gefangen nahmen, waren seine Augen: Klar, freundlich, alles und jeden liebevoll beobachtend. Alles, bis auf seine Wärter. Die waren der wahre Abschaum in diesem Königreich, nicht die Gefangenen. Als König Ameranto an die Macht kam, dauerte es nur wenige Tage, bis die ersten weggesperrt waren. Zunächst hatte er fliehen können. Dabei war er irgendwie in einer anderen Welt gelandet. Wie, war ihm ein Rätsel, doch endlich hatte er sich in Sicherheit gefühlte. Er hatte sogar eine Frau kennengelernt, die seine Liebe erwiderte. Mit ihr spürte er eine tiefe Verbindung, trotzdem hat er ihren Namen inzwischen vergessen. Zu viel Zeit ist seit damals vergangen, und in manch einer Nacht weinte er bitterlich, weil seine Erinnerungen wie Sand durch Hände rieselten. Leider war er dort, wo er war, nicht so sicher, wie er es sich gedacht hatte. Die Häscher des Königs hatten ihn gefunden und an diesen Ort gebracht. Hier war er nun und schaute ein wenig traurig in das Wasser hinein.
Er setzte einen Finger auf die Wasserfläche und durchbrach sein Spiegelbild und damit auch seine Traurigkeit. „Hey, Radir, komm her, es gibt Wasser!“ flüsterte er in eine Ecke des Raumes und ein graues Felltier kam zu ihm. Er nahm es auf und setzte es an die Schüssel. Radir war eine Art Ratte, wie man sie Gefangenen gerne mal in die Zelle steckte, und ihnen dabei zusah, wie sie entweder vor Angst danach schlugen, oder sogar von den Tieren angegriffen wurden. Doch er war der Waldhüter von Ammagon, und als Waldhüter kann man mit den Tieren anders umgehen. Als Radir zu ihm in die Zelle geworfen wurde, hatte es nur Minuten gedauert, bis die Wächter wieder abzogen. Radir hatte sich einfach neben ihn gesetzt. Kein Geschrei, kein Kampf, keine Angst, nichts, an dem sich die Wächter hätten freuen können.
Er hörte Schritte. „Los, verschwinde wieder!“ raunte er Radir zu, die sich sofort in ihre Ecke verkroch.
Schlösser wurden aufgesperrt und die Tür öffnete sich: „Rongard, du bist dran!“ Es war Bachar, der einzige der Wächter, der anscheinend wirklich nur seinen Job hier machte, und keinen Spaß hatte, die Gefangenen zusätzlich zu ihrem Schicksal zu quälen. Wortlos stieg Rongard auf und folgte ihm. Er musste selbst zur steinernen Wendeltreppe gehen und dort nach oben gehen. Eine Fläche, gerade einmal doppelt so groß wie seine Zelle, war für die nächsten dreißig Minuten sein Refugium. Er hat sich bereits so an diesen Ort gewöhnt, dass er die Gitterstäbe, die wie ein Käfig den kleinen Platz umschlossen, gar nicht mehr sah. Erst einmal tief durchatmen. Es war frisch, doch hier oben schien die Sonne, während die Ebene, auf die er schauen konnte, in einem grauen Dunst verhüllt war. Gerade so, als wollte man ihm verbieten, den Wald zu sehen. Dieser Nebel war dort schon seit vielen Jahren, König Ameranto hatte ihn geschaffen, um dem Einhalt zu gebieten, was sich ihm widersetzen konnte.
Doch was war das? Der Nebel dort hinten am Horizont war nicht grau, wie der Rest, er war weiß! Er rieb sich die Augen. Konnte das sein? Das müsste ja bedeuten, dass ein anderer Waldhüter dort wäre, oder eine Kraft, die stark genug ist, sich gegen das Graue des Königs zu widersetzen. Sein Herz fing an, schneller zu schlagen. Was wäre, wenn dort wirklich ein anderer Waldhüter wäre? Aber das kann nicht sein, es gibt immer nur einen Waldhüter, es sei denn der hätte ein Kind. Er schluckte: War es möglich, dass er Vater war? Das konnte nicht sein, oder doch?
Wer auch immer dort ist, er war in Gefahr! Jetzt galt es aber erst einmal Ruhe zu bewahren. Wenn er zu schnell wieder nach unten ging oder ihn jemand hier oben beobachtete, wie er in Gedanken immer schneller lief, dann käme seine Warnung vielleicht zu spät. Es wurde die längste halbe Stunde seines Lebens, bis ihn eine Glocke signalisierte, wieder in seine Zelle zu gehen. Bachar empfing ihn bereits: „Na, hast du die Luft genossen.“
„Ja, danke, Bachar.“ Dann war er auch schon in seinem Gefängnis und die Tür hinter ihm im Schloss. Bachars Schritte entfernten sich.
Als er sich am Abend hinlegte flüsterte er: „Radir, komm her. Es gibt einen weiteren Hüter. Du musst ihn warnen gehen!“
Radir schien zu verstehen. Sie schaute traurig aus und schmiegte sich noch einmal an ihn, bis Rongard einschlief. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war die Ratte verschwunden.