Das Stichwort bei den Fingerübungen hieß "Ehre". Ich habe einmal die Websuche gestartet und einer der ersten Einträge kommt aus der Jugendsprache: Jemandem die "Ehre nehmen" heißt, ihn im Spiel (Videospiel) zu besiegen oder ihn abzuziehen. Zu doof, dass ich von Videospielen keine Ahnung habe. Ist leider fast 500 Worte groß geworden.
„Komm, jetzt gib mir doch die fünf Euro!“ Wulle schaute Eddi an, wie nur gute Kumpels schauen könnte. Eddi zückte seinen Geldbeutel und gab ihm die fünf Euro. Er wusste nicht wofür, weder damals noch heute. Das einzige, was er wusste, war, dass es sein bisher größter Fehler im Leben war. Warum hatte er nicht nachgefragt? Er hatte nicht einmal gemerkt, dass Wulle stumm in sich gelacht hat, als er ihm die fünf Euro abgezockt hatte. Irgend etwas veränderte sich, nicht nur mit Wulle, es war sein ganzer Freundeskreis. Als wäre die Distanz zwischen ihm und den anderen einen halben Schritt größer geworden. Sie schauten ihn anders an, nicht mehr in die Augen, sondern irgendwo auf seinen Oberkörper.
Nur ein paar Tage später nach dem Sport trödelte er mit dem Umziehen, doch als er die Turnhalle verließ, warteten Wulle und Jan auf ihn. Das war nicht gut. Jan war ein Hüne mit einer fetten Narbe auf der Stirn. Nicht der Typ, der viel redet, dafür groß mit dem breitesten Kreuz in seiner Klasse. Er stellte sich ihm in den Weg. Gespielt freundlich sagte er zu ihm: „Er lässt dich bestimmt für einen Zehner gehen.“ Eddi versuchte auszuweichen, doch Jan war schneller auf den Beinen. Er behielt seine Hände bei sich und bedrohte ihn nicht wirklich, er stand einfach nur permanent im Weg. Doch Eddi wollte seinen Bus bekommen und fällte sein Schicksal: Er zahlte.
In ein paar Wochen wird ihn seine Mutter fragen, warum er nichts sagte oder sich wehrte. „Wie denn, keiner hilft mir, ich bin alleine!“ Doch sie wird es genau so wenig verstehen wie er selbst. Was war nur geschehen, was schlich da in sein Leben hinein, oder schlich es aus seinem Leben heraus?
Den Tag nach diesem Gespräch wird er nie vergessen: Jan wird zu ihm sagen: „Dein Geld haben wir, jetzt nehmen wir dir den Rest.“ Es war dunkel in der Seitenstraße der Fußgängerzone, in der sie ihm mit einem einzigen Faustschlag in den Magen so k.o. schlugen, dass sie ihm alles klauen konnten, sogar die Klamotten. Lachend zogen sie ab. Weinend und nackt lag er vor dem Laden mit den Holzspielsachen und krümmte sich zusammen. Er jammerte auf, als ihm eine Hand auf der Schulter berührte: „Sch-sch-sch“ beruhigte ihm eine vertraute Stimme. „Du also auch.“ Eddi schaute hoch und wischte sich seine verheulten Augen, damit er sehen konnte, wer bei ihm war: Jens, der seltsame Nerd mit der zu großen Brille aus der Parallelklasse. „Ich bins, Jens. Ich wohne gleich hier, komm einfach mit hoch.“
Eddi bemerkte, dass Jens ihn erst dann wieder ansah, als er wieder ein paar Klamotten auf dem Leib trug. „Sie können dir vielleicht alles nehmen, aber lass nie zu, dass sie dir die Ehre nehmen.“
„Ist es dazu nicht schon zu spät?“
Jens dachte angestrengt über diese Frage nach und sagte schließlich: „Nicht, wenn du hier bist.“