Diese Geschichte entstand als Beitrag zur Sixty Minutes Challenge (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) mit dem Prompt "Frühlingserwachen".
Michael hörte aus dem Radio gerade noch die Wetteraussichten: „... und die Sonne scheint den ganzen Tag bei milden Temperaturen.“ Schon lange hat es nichts und niemand mehr geschafft, ihm ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Zu verregnet, zu kalt und zu trist war das Wetter in den letzten Wochen. Ganz leicht meldeten sich Kopfschmerzen, die er liebend gerne in Kauf nahm. Jeder größere Wetterumschwung brachte seinen Schädel zum Brummen, was meistens noch mehr aufs Gemüt drückte, vor allem dann, wenn er vergaß an einem Sonntag den Wecker auszuschalten, so wie heute. Doch der lang ersehnte Frühling überspielte alles.
Schwungvoll warf er die Bettdecke zur Seite und stand auf, lief zum Fenster und zog den Rolladen hoch. Die Sonne blendete ihn und ließ für einen Moment die Hämmerchen in seinem Kopf etwas wilder wüten. Doch es war ihm egal. Er genoss die Wärme auf der Haut und badete im Licht. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah er die Stadt unter sich an. Beinahe demütig sahen die Häuser aus. Von diesem Blick schwärmte der Makler, als er sich Hals über Kopf eine neue Bleibe im Oktober suchen musste. Sein Ex bevorzugte plötzlich Kerle, die fünfzehn Jahre jünger waren. Dummerweise war der Immobilienmarkt wie leergefegt. Es blieb ihm nur diese aus kaltem Beton gegossene Bleibe mit all den merkwürdigen Nachbarn, von denen man zum Glück nicht viel mitbekam. Nie hatte er dem Makler Glauben geschenkt, als der von dieser Aussicht und der besonderen Schönheit sprach. Doch er hatte Recht: Bei einem Ausblick muss nicht die eigene Betonburg hübsch sein, die anderen müssen es sein.
Der Blick an sich herunter zeigte ihm allzu deutlich, dass auch sein Körper schon im Frühling angekommen war, und er entschied sich, dass heute der Tag sein sollte, an dem seine dreizehnjährige Beziehung zu seinem Ex, dessen Namen er nicht mehr aussprechen wollte, wirklich bei den Akten landen durfte. Jetzt ist Zeit für etwas Neues. Jetzt darf wieder etwas entstehen, dass sich auch ganz und gar von dem unterscheiden durfte, was er die letzten sechs Monate betrauert hat. „Ab heute beginnt mein neues Leben!“ sprach er sich selbst Mut zu.
Als er sich anzog, um nach draußen zu gehen, wählte er Klamotten aus, die er sonst nur abends trug: Etwas bessere Hosen, ein chices Hemd, und nicht nur ein Outfit, das Zoom-geeignet war. Im Homeoffice kann einem nicht nur die Decke auf den Kopf fallen, man legt auch seinen Stil ab. Gut, das lag natürlich auch an fünf zusätzlichen Corona-Kilos, die seine Hüften im Augenblick betonten und viel in seinem Kleiderschrank nach hinten wandern ließ. Aber auch damit sollte jetzt Schluss sein.
Er verließ das Haus und ging, wohin ihn seine Füße trugen. Eine Freundin aus alten Tagen sagte immer: „Wenn du offen bist, dass etwas Neues kommt, dann kommt es auch.“ So bemerkte er, dass er im Stadtpark ankam, in dem die ersten Bäume schon in voller Blütenbracht standen. Der leicht süßliche Duft der Natur beseitigte den Kopfschmerz vollends und er setzte sich auf eine der Parkbänke. Es war noch früh und daher gab es auch nur wenige Menschen, die unterwegs waren. Doch etwas störte ihn, und er konnte es sich nicht erklären. Ein Mann riss ihn aus seinen Gedanken: „Entschuldigen Sie bitte, Sie tragen keine Maske.“ Der Uniformierte sah ihn erwartungsvoll an.
Das war es also. Bei so viel Frühlingserwachen hatte er vollkommen vergessen, eine Maske mitzunehmen, die wegen der zu hohen Inzidenz überall zu tragen wäre. „Shit“, dachte er, das würde ja ein teurer Spaziergang werden.
„Michael?“ war das nächste, was der Mann in dunklem Blau zu ihm sprach. Noch immer hatte er keine Ahnung, wer da vor ihm stand. „Ich hätte dich ja gleich erkannt, aber du solltest jetzt endlich zum Friseur gehen!“ Der hatte gut Reden, bei ihm verdeckte ja eine Mütze das Haupthaar.
„Und wer bist du?“
„Achso, du kannst es ja nicht sehen.“ Der Mann ging zwei Schritte zurück, um auf jeden Fall den Mindestabstand einzuhalten, und zog für einen kleinen Moment seine Maske vom Gesicht.
War es der Frühling, der diesen Mann so gottgleich aussehen ließ? Der Dreitagebart um das kantige Kinn herum verursachte Wärme in seinem Bauch. Doch Michael gewann die Oberhand über seine Hormone zurück und antwortete mit einem verlegenen: „Äh...?“
„Ich bin es, Klaus“, dabei zog er seine Maske wieder an. „Wir hatten uns bei Albert auf dem Geburtstag kennengelernt.“
Das musste Jahre her sein, denn Albert war schon lange weggezogen. Tatsächlich kam die Erinnerung zurück: „Auf der Dachterasse bis morgens um drei?“
„Genau!“ Michael konnte die Augen des anderen lächeln sehen.
„Damals hattest du keine Maske auf – und auch keinen Bart.“
„Stimmt! Den habe ich erst, seit mein Ex mich abgeschossen hat.“
„Steht dir.“
„Danke, ich habe sogar fünf Kilo seitdem abgenommen.“
„Ich meinte eigentlich deinen Bart.“ Beide mussten lachen.
„Ich muss dir jetzt aber trotzdem...“, begann Klaus und kramte etwas aus seiner Tasche, „eine Verwarnung aussprechen.“
„Nee, oder?“ Michael erinnerte sich an die Geschichten, die er über vergessene Masken an der frischen Luft und die Diskussion über die Infektiösität unter freiem Himmel gelesen hatte.
„Doch, doch.“ Neben einem Block holte der eine frische Maske aus einem Beutel, legte sie auf die Schreibunterlage und schrieb etwas auf die Maske. „Jetzt schön anziehen, und nicht verschwitzen. Und um fünfzehn Uhr habe ich Feierabend.“ Zusammen mit einem vorgedruckten Zettel überreichte er sie an Michael.
Auf dem Zettel stand: „Wir wünschen Ihnen einen guten Start in den Frühling. Bitte genießen Sie ihn und helfen Sie, dass wir alle bald wieder die Zeit draußen genießen können. Diese Maske ist ein Geschenk Ihrer Stadtverwaltung. Achten Sie gut auf sich und Ihre Mitmenschen und bleiben Sie gesund. Herzlichst, Ihre Stadtverwaltung.“
Als er aufsah, war Klaus schon weitergegangen. Doch er wusste, wessen Telefon um kurz nach drei klingeln würde.