Dieser Text ist im Rahmen der 60-Minutes-Challenge-Gruppe (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) entstanden. Der Prompt war: "Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn ..."
Vor siebzehn Jahren kam ich in den Betrieb und es hat so toll angefangen. Damals wurde ich als Azubi mit einem Blumenstrauß begrüßt und ich muss heute darüber lächeln, denn zu der Zeit bekam man als Mann eher selten Blumen geschenkt. Doch ich mochte sie - ja, ich mag Blumen noch immer. Charlotte, sorry, damals waren wir noch nicht per du, Frau Friese, begrüßte mich mit einem breiten Lächeln und stellte mich allen vor mit Sätzen wie: „Darf ich vorstellen, dies ist Alexander Hauke, unsere künftige Bürofachkraft. Er fängt heute an zu lernen, bitte zeigen Sie ihm alles, damit er so gut wird, wie Sie.“ Und jeder Kollege, jede Kollegin schüttelte mir mit einem warmen: „Herzlich willkommen“ die Hände. So viel Freundlichkeit an einem Tag hatte ich ganz selten erlebt in meinem damals noch jungen Leben. Alle gaben sich Mühe, dass ich mich in dieser kleinen, zusammengewürfelten Familie wohlfühlen konnte.
Tatsächlich hatte Frau Friese Recht: Ich wurde eine Bürofachkraft, und was für eine: Jahrgangsbester Abschluss, bei allen beliebt, immer mit Spaß bei der Arbeit. Im Laufe der Zeit freundete ich mich mit allen Kollegen an, wir trafen uns auch außerhalb der Arbeitszeit auf ein Feierabendbier oder gingen zum Bowling.
Doch die Zeiten änderten sich, unser Betrieb musste ein Storno eines großen Vertrags wegstecken. Ich kannte die Finanzen und wusste, dass das ernst war, aber nicht so sehr, dass jemand um seinen Arbeitsplatz fürchten musste. Der Firmeninhaber war jedoch nicht so gelassen wie ich. Der hatte bald eine schuldige Person gefunden und die war im Innendienst: meine geliebte Kollegin Charlotte. Sowieso schon kurz vor der Rente musste sie ihren Schreibtisch räumen. An dem Tag sah ich sie zum ersten Mal mit Tränen, die sie zu verbergen versuchte: „Alex, er hält die gute Stimmung hier für unangebracht“, schluchzte sie und packte ein, was ihr gehörte. Was damit zerstört wurde, war weit mehr, als jeder im Betrieb auch nur ahnen konnte.
Die Leitung des Innendienstes übernahm Tanja, eine geschätzte Kollegin aus unserer Mitte. Doch Tanja fehlte einfach der Mumm, das durchzusetzen, was uns allen so wichtig war: das gute Miteinander. Nach nur einem halben Jahr war sie der verlängerte Arm des Chefs, harsch im Ton, fordernd statt fördernd, kurz und knapp gesagt: eine Marionette, für die keiner gerne arbeitete.
Doch es kam noch schlimmer: Ich versuchte, wenigstens mit meinen Kolleginnen und Kollegen, wo wir doch alle gemeinsam unter dieser Knechtschaft litten, die Fahne der Harmonie oben zu halten. Aber nach und nach kippte jeder um. Teilweise wurden sie durch die übertragenen Aufgaben in die Enge getrieben, teilweise spielte Tanja uns gegeneinander aus. Wann immer eine neue Person unser Team bereichern sollte, waren das Menschen, die nur als Einzelkämpfer durchs Leben gingen. Teamgeist geht anders und es fing schließlich an, mir selbst die Kraft zu nehmen. Ich habe das nicht einmal gemerkt, wie sehr es meine Kraft nahm. Am Anfang habe ich mich noch so richtig ins Zeug gelegt, gehofft, dass jemand sieht, dass es auch anders gehen kann. Mit Überstunden wollte ich zeigen, wie gut nicht nur ich bin, sondern wie toll wir als Innendienst das Unternehmen bereichern konnten. Heute lache ich über mich selbst, denn nicht einmal meine direkten Kollegen haben das so wahrgenommen. Die dachten alle, ich würde mich in den Vordergrund stellen wollen. Lächerlich. Also gab ich noch mehr und habe mich bemüht, Tanja nachzueifern. Der Spur zu folgen, scheint ja irgendwie zu funktionieren. Ich lernte, wie ich meine Kollegen nicht nur zusammenstauchen konnte, sondern auch, wie ich sie gegeneinander ausspielen konnte. Was habe ich gelacht, als ich Sandras Fehler in den Buchungen so ausschlachten konnte, dass sie eine Abmahnung dafür bekam. Die anderen zuckten vor mir, wenn ich mir ihre Sachen ansah, schließlich war ich einmal der Jahrgangsbeste gewesen und merkte schnell, was falsch war.
Doch das war erst der Anfang. Mein Ton wurde immer rauher, mein Lachen immer fieser. Ganze drei Jahre habe ich das so durchgezogen. Dann traf ich beim Einkaufen Charlotte. Ihr ging es wohl ganz gut, doch sie sagte den Satz: „Was haben sie mit dir gemacht?“ Ich wehrte ab und schrie sie beinahe an, niemand habe etwas mit mir gemacht. Sie hob ihre Hand und streichelte mein Gesicht wie eine Mutter ihr Kind streicheln würde. Wenn ich einen klaren Blick gehabt hätte, wären mir vielleicht sogar die Tränen in ihren Augen aufgefallen.
Danach wurde es schwarz, ich habe keine Erinnerungen mehr. Ich stand plötzlich im Büro und vor mir liegt Tanja schwer atmend. Warum atmet sie schwer? Ich wollte mich zu ihr auf den Boden beugen, da sah ich das blutverschmierte Messer in meiner Hand. Mir wurde schwindlig.
Ich hole gerade die Wäsche der anderen Gefangenen aus dem Trockner. Sehr still bin ich geworden.
„Hey Alex, was ist nur los heute, was träumst du vor dich hin?“
Ich sah ihm in die Augen, bis er Angst von meinem Blick bekam: „Manchmal denke ich, es wäre besser, ich hätte den Richtigen umgebracht.“