Alaron biss sich auf die Lippen, seine Hände zitterten. Dass es den anderen fünf jungen Männern ebenso ging, bekam er nicht mehr mit. Niemand prahlte mehr, alle sahen sie den Tod vor sich, der hämisch grinsend nach ihren Seelen griff. Doch dann fiel ihm wieder ein, was Eradir, sein jüngster Bruder, zu ihm gesagt hatte: „Du schaffst alles, großer Bruder. Du hast immer die besten Ideen!“ Doch welche Ideen konnte er haben? Die Drachen, die oben in den Bergen wohnten, waren alles, nur keine Tiere, die man zum Streicheln besuchen ging. Wer sich an die Höhle traute, musste verrückt sein - und genau das wurde von ihm verlangt. Da eine Weigerung eine öffentliche Hinrichtung bedeutete, entschied er sich, zu versuchen, was immer auch möglich ist.
Es war allen erlaubt, sich aus der Waffenkammer wie auch der Speisekammer zu versorgen. Um beweglich zu bleiben, nahm er nur leichte Waffen mit, die er gut am Körper verteilen konnte: Messer, die mit Lederriemen an Armen und Beinen befestigt werden konnten, sowie ein leichtes, einhändiges Schwert auf dem Rücken. Dazu ein paar Seile, um sich eventuell im Berg zu sichern und eine Fackel, falls er Licht bräuchte. Zum Essen und Trinken nahm er nur Wasser mit und etwas Brot, gerade soviel, dass es für einen Aufstieg reichen würde. Sollte er dieses Abenteuer überleben, würde die Euphorie als Nahrung für den Rückweg genügen.
Über das kleine Westtor verließ er die Stadt. Er nahm nicht einmal wahr, dass viele Stadtbewohner ihn dabei mitleidig anschauten, denn jeder erkannte an Alarons Blick den Ernst seiner Lage. Doch niemand sprach aus, wie krank der Geist des Königs doch sein musste, um so viele junge Männer dem Tod zu weihen.
Alaron ließ die Stadt schnell hinter sich und die Geräusche des innerstädtischen Trubels verhallten immer mehr. Nur eine Stunde später stand er am Fuß des Berges. Bis zu der Höhe, in dem kaum noch Pflanzen wuchsen, weil der Berg nur noch aus Fels bestand, konnte er noch einen Fußweg gehen, dann begann die Kletterei. Je höher er stieg, desto mehr wurde ihm klar, dass er dem Drachen nichts antun wollte. Es war ein Geschöpf dieser Welt und seine Erziehung verbot es ihm, diesem ein Leid anzutun. Er überlegte, ob er nicht einfach wieder absteigen und in eine andere Stadt gehen sollte, um dem Schicksal zu entweichen. Doch seine Familie nie wieder zu sehen, wäre für ihn genauso wie zu sterben. Also ging er weiter hoch, Schritt für Schritt, immer weiter zu seinem Schicksal. Die Dämmerung setzte ein, als er einen Höhleneingang erreichte. Einzelne Drachenschuppen lagen auf dem Boden und so war er sich sicher, seine letzte Stunde hat begonnen.
Doch anstatt sich langsam anzupirschen, entzündete er die Fackel und wartete. Es dauerte nicht lange, dass dumpfe Erschütterungen das Nähern eines Drachen verkündeten. Alarons Herz schlug heftig und durch ein Loch in der Höhlenwand konnte er erkennen, dass sich ein rotgeschuppter Drache näherte. Er war der Fürst unter den Drachen, alle anderen hatten andere Farben: grün, schwarz, sogar goldene Drachen gab es. Doch nur einen roten. Aus einer Ecke der Höhle, auf die er nicht achtete, spie der Drache Feuer in den Raum. Alaron blieb starr vor Schreck und das veränderte sich nicht, als der Drache plötzlich vor ihm stand, mit einem Maul, dessen Zähne ihn mit nur einem Biss hätten zermalmen können. Doch nichts geschah. Stattdessen sah ihn der Drache mit seinem linken Auge an und Alaron verstand, warum der König dieses Auge haben wollte: Es war das schönste, das er jemals gesehen hatte, schimmernd wie ein Edelstein und durchdringend, als könne der Drache damit in Alarons Seele blicken. Eine Stimme in seinem Kopf ließ ihn erschauen: „Du willst mein Auge, ja?“
Alaron fasste allen Mut zusammen, um zu antworten: „Nein, der König will es.“
„Und der König ist zu feige, um selbst zu kommen?“ Ein höhnisches Lachen ließ Alarons Kopf schier zerbersten und er hielt sich die Ohren zu, doch das half nichts. Die Stimme des Drachen war in seinem Kopf.
„Wer zur Garde will, muss eine Aufgabe erfüllen, und diese Aufgabe wurde mir gegeben.“
„Willst du sie erfüllen?“ wollte der Drache wissen und sein Kopf deutete in eine Ecke des Raumes, in dem Alaron jetzt erst sehen konnte, dass dort die Skelette mehrerer Menschen lagen.
„Ich möchte selbst nur überleben, doch das kann ich nicht, wenn ich ohne ein Drachenauge zurückkomme.“
„Dein König will dich töten!“ Der Drache schrie diese Worte in Alarons Kopf und ein lautes Brüllen, das vielleicht sogar in der Stadt gehört werden konnte, ließ den Berg erzittern. Mit einem Ruck drehte der Drache den Kopf und zeigte ihm seine rechte Seite: Das Auge fehlte. „Ja, das hat mir dein König angetan. Er hat mich überrascht im Schlaf, als ich noch jung und gelb war. Sieh genau hin!“ Die Augenhöhle sah schrecklich aus und das ganze Gesicht zeigte tiefe Narben. „Deshalb gewinnt er seine Kriege. Die Augen der Drachen beinhalten die Intuition unserer Gattung. Sie helfen zu sehen, was nicht sichtbar ist.“
Alaron wusste nicht, ob es ein Fehler war, doch die Erinnerung an eines der Pferde, das sie zuhause hatten, ließ ihn seine Hand an den Kopf des Drachen legen. Das Pferd damals hatte sich am Auge verletzt, und wie damals wollte er einfach nur trösten.
„Es tut mir leid“, sprach Alaron und Trauer schwang in seiner Stimme mit.
„Du bist anders“, hörte Alaron die Stimme des Drachen. Der drehte sich wieder mit seiner linken Seite zu ihm und sah ihn durchdringend an. Alaron spürte, wie der Drache seinen Geist beobachtete, ob nicht doch ein böser Gedanke in ihm war. Doch er fand keinen. Der Drache verbeugte sich vor ihm und ließ in Alarons Kopf die Worte erklingen: „Mein Name ist E‘oan. Ich bin der Fürst der Drachen vom Sard-Gebirge. Ich gestatte dir, mit mir zu kommen. Lass uns den König zu Fall bringen, damit das Leid beendet wird und Menschen von dir lernen können.“
Auch Alaron verbeugte sich: „Mein Name ist Alaron, Sohn des Timodor. Es ist mir eine Ehre, dich begleiten zu dürfen.“
Mit diesen Worten stieg er auf E‘oan, hielt sich an den Schuppen fest und der Drache startete seinen Flug zum Schloss, begleitet von mehreren Drachen seiner Gefolgschaft.
Nach über fünf Jahrhunderten gab es so zum ersten Mal wieder einen Drachenreiter.