Dieser Text ist im Rahmen der 60-Minutes-Challenge-Gruppe (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) entstanden.
„Hallo Oma, wie geht es dir?“
„Marc, bist du es?“
„Ja klar, Oma, schau mal, ich hab dir ein paar Blumen mitgebracht.“
„Ach, das ist ja lieb, mein Schatz. Schau mal, da hinten ist eine Vase.“
„Ich weiß doch, Oma.“ Ihm war es etwas mulmig, denn seine Großmutter machte einen leicht verwirrten Eindruck. Wusste sie nicht mehr, dass er immer Blumen mitbrachte und alle Vasen des Altenheims bereits kannte? Auch sah sie nicht gut aus.
„Ach, Kind“, lächelte ihn seine Großmutter an, „die sehen wirklich zauberhaft aus. Stelle sie doch bitte hier auf den Tisch. Dann sehe ich sie auch gut.“
Marc stellte die Blumen hin, zog einen Stuhl vom Tisch zum Bett und setzte sich zu ihr. „Warum bist du heute nicht aufgestanden?“
„Mir geht es heute nicht so gut.“ Sie beugte sich ein wenig zu ihm: „Das Herz, weißt du? Es stolpert so arg. Vielleicht wird es Zeit.“ Der junge Mann verlor ein wenig das Rot in seinem Gesicht. Was hatte das zu bedeuten? Da sprach sie auch schon weiter. „Ich bin jetzt achtzig Jahre alt, mein Lieber. Schau mich an. Sieht so ein schönes Leben aus? Ich bin abhängig von den Pflegeleuten hier. Einige sind nett, andere behandeln mich wie einen Gegenstand. Manche haben zum Teil derart schlechte Laune, dass ich sie gerne davonjagen würde.“ Wie fest doch noch ihre Stimme werden konnte, wenn sie sich aufregte. Sie drückte dabei Marcs Hand, nach der sie bei jedem Besuch griff. Trotz der Aufregung wusste ihr Besucher, dass sie vermutlich nie etwas sagen würde. Dafür war sie viel zu gut erzogen. Nach dem kurzen Moment, in dem sie Zornesfalten im Gesicht hatte, lachte sie, denn sie wusste selbst, dass sie niemals unhöflich werden könnte. „Aber weißt du? Ein neuer Pfleger ist bei uns auf der Station. Den musst du unbedingt kennenlernen!“
„Oma!“ gab Marc entrüstet zurück.
Doch sie lachte nur. Sie war in seiner Familie die Einzige, die akzeptierte, dass ihr Enkelkind irgendwann einen Mann und keine Frau heiraten würde. „Du musst was tun für die Liebe!“
„Ich weiß, ich fange in zwei Monaten an zu studieren, wer weiß, wieviel Zeit ich dann habe, und ich will es auch wirklich gut machen!“
„Du törichter Junge!“ schalt sie ihn.
Erstaunt schaute er sie an, was meinte sie?
„Was gibt es Wichtigeres im Leben als gute Beziehungen?“
„Ich“, fing er an zu stottern, „ich weiß nicht. Ich will ein tolles Studium machen und dann einen guten Job haben.“
„Dummkopf!“ schimpfte sie in ihrer liebenswerten Art. Doch sie meinte es sehr ernst. „Darum geht es im Leben nicht.“
Der Enkel war erstaunt über die harten Worte und die Intensität, mit der sie sprach. So kannte er sie gar nicht.
„Was willst du mit einer Karriere, wenn du die Zeit drumherum nicht mit einem tollen Menschen verbringen kannst? Was nützt dir all das Geld, wenn du keine Liebe empfinden kannst? Was nützt dir ein Haus im Grünen, wenn du morgens alleine dein Frühstück essen musst? Was nützt dir ein Regen, wenn du nicht mit jemandem unter einem Regenschirm laufen kannst?“ Mit bohrendem Blick versuchte sie, seine Seele zu ergründen. Hatte er verstanden, was sie sagte? Sie schwieg ein wenig, denn ihr Enkel sah aus, als müssten ihre Worte erst noch ankommen. Mit ruhigerer Stimme fuhr fort: „Weißt du, mein Schatz, ich habe nicht darauf geachtet. Dein Großvater war ein harter Mann, und er hat es an deinen Vater weitergegeben, der auch eine viel zu weiche Frau geheiratet hat. Und ausschließlich ihre Weichheit hast du geerbt. Das steht dir zwar gut“, sie strich ihm dabei mit ihren Fingern über seinen Arm, „aber es hält dich auf, deinen eigenen Weg zu gehen. Glaub mir, ich hätte so gerne meinem Mann öfter mal die Meinung gesagt, ich hätte so gerne selbst einen Beruf gehabt, statt nur Hausfrau zu sein. Nicht einmal den Führerschein durfte ich machen!“
„Oma“, Marc spürte einen dicken Kloß im Hals, „das tut mir so leid. Das wusste ich nicht.“
„Ach“, winkte sie ab, „das ist egal mit mir. Aber wenn du nicht deinem Glück folgst, dann ist es nicht egal. Du hast noch all die Jahre vor dir!“
Das saß. All ihre unerfüllten Träume. Wie anders wäre ihr Leben wohl gewesen, wenn sie ihre Wünsche wirklich hätte leben können? Wäre sie nicht eine großartige Frau gewesen und nicht nur die liebe Großmutter, die alle nur für ihre Dienste einspannten? „Oma?“ Fragte er. „Wenn du heute noch einen Wunsch hättest, der dir heute noch erfüllt werden könnte, welcher wäre das?“ Er wollte auf keinen Fall gehen, ohne ihr nicht noch einen Gefallen zu machen.
Sie brauchte nicht lange zu überlegen: „Es ist Frühling. Noch einmal barfuß über eine Wiese laufen!“ Bei der Vorstellung, das zu tun, bewegte sie ihre Füße, als könnte sie das Gras schon spüren.
„Ok, warte.“ Marc stand auf und verließ das Zimmer, ließ eine alte Frau mit fragendem Gesicht zurück. Eine halbe Minute später betrat er wieder das Zimmer, mit ihm ein junger Pfleger.
„Ah, da ist ja der Pfleger, von dem ich dir erzählt habe.“ Marc schaute den anderen entschuldigend an, doch der lächelte schelmisch zurück.
„Hallo, ich bin Mark, mit k.“
„Ach, Marc, mit c. Angenehm.“
„So, Frau Weber“, sagte der Pfleger, „dann wollen wir mal auf die Wiese. Ich ziehe ihnen noch etwas drüber, in Ordnung?“ Und zu Marc gewandt: „Wartest du kurz draußen? Ich helfe deiner Großmutter.“
Ein paar Minuten später ging die Tür auf und tapfer schob sich die Weber-Oma mit dem Rollator nach draußen. Verschwörerisch sah sie ihren Enkel an: „Aber pssst, das ist eigentlich verboten!“
Sie begleiteten die alte Dame zum Fahrstuhl und in die Grünanlage hinter das Haus. Dort setzte sie sich und die beiden jungen Männer halfen ihr, die Schuhe auszuziehen. Mark wollte ihr den Rollator wieder bringen, doch sie schaute ihn an: „Das ist vielleicht meine letzte Gelegenheit, nicht nur einen hübschen Mann an meiner Seite zu haben, sondern gleich zwei. Das lasse ich mir nicht entgehen!“ Also hakte sie sich bei den beiden unter und sie betraten die Wiese. Sie schloss die Augen und ein Lächeln wie ein Sonnenaufgang strahlte in ihrem Gesicht. Jeden noch so kleinen Schritt genoss sie und die beiden Männer überlegten, welche Erinnerungen gerade geweckt wurden, welches Vergnügen sich in ihren Gedanken wiederholte, vielleicht als sie so jung war wie die beiden, die ihr jetzt über die Wiese halfen.
* * *
Es war ein eher kühler Sommertag, einer zarter Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln, während Marc und Mark barfuß den Weg entlanggingen, der eine mit ein paar Blumen in der Hand, der andere eine Kerze. Ein Mann kam ihnen entgegen, der fragend auf ihre Füße starrte, doch das war den beiden egal. Sie blieben vor einem Grab stehen, stellten die Kerze hin, entzündeten sie, und legten die Blumen in eine Friedhofsvase.
Mit Tränen in den Augen sprach Marc zum Grab: „Du hattest Recht, Omi.“ Dann drückte er Mark einen Kuss auf die Wange und ließ sich von ihm halten.