Dieser Text ist im Rahmen der 60-Minutes-Challenge-Gruppe (https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group) entstanden.
Die Tür war schon immer offen, doch ich bin nie durchgegangen. Naja, fast nie. Einmal raus und eine Runde ums Feld joggen. Ich hatte mir die Erlaubnis geholt und man hatte mir vertraut. Wohin sollte man auch gehen. Es gab nichts weiter als dieses Dorf mit seinen durch und durch langweiligen einhundertzweiunddreißig Einwohnern. Vielleicht einer weniger, letztens war eine Beerdigung. Rundherum gab es im Umkreis von zehn Kilometern nichts außer Felder und Wald. Eben ein ganzes Dorf wie ein Gefängnis.
Markus hatte mir hinterher geschrieen: „Warum darf der das und ich nicht?“ Doch Hannes hatte in gleichem Tonfall, wenn auch leiser, geantwortet: „Du Trottel, der ist schon länger da.“ Ja, der Umgangston ist hart hier. Einer meinte, das wäre das Testosteron. Ich glaube eher, wir haben es alle einfach nie gelernt.
Natürlich war ich vom Joggen zurückgekehrt. Es hatte sich gut angefühlt, alles hinter mir zu lassen, die Luft zu atmen, als wäre sie eine andere als in unserem Haus. Als ich kurz hinter dem Weizenfeld mein Training ausgesetzt hatte, schaute ich in die hügelige Landschaft. Da war es zum ersten Mal wieder, dieses Gefühl, dass ich etwas erreicht hatte. Wie viele Jahre hatte ich das nicht mehr? Ganz sicher mehr als fünf. Ich glaube, die anderen merken gar nicht, dass sie etwas erreichen, dass sie an sich arbeiten, dass sie besser werden. Meine Güte, wir haben komplett unseren Aufenthaltsraum renoviert und gestaltet! Es ist im ganzen Haus ordentlich, weil wir uns alle zusammenreißen und auch mal putzen. Wir können es, auch wenn unsere Eltern und Lehrer in uns hineingeprügelt haben, dass wir Nichtsnutze sind. Ich hatte irgendwann sogar ein eigenes Zimmer erhalten und musste nicht mehr mit einem anderen zusammen in einem Raum übernachten, auch wenn meine Mitbewohner meistens ganz ok waren, solange nicht andere dazu kamen. Das war ein ewiges: „Ich bin besser als du.“ Auch das habe ich gelernt, es kommt nicht darauf an, immer der Bessere zu sein. Aber naja, vielleicht stimmt ja hier die These mit dem Testosteron.
Ich sitze hier bei meinen gepackten Sachen, als Herr Wellmesmeier anklopft. Ich öffne ihm die Tür: „Hallo, wo machen wir unser Gespräch?“
„Hier in deinem Zimmer, dachte ich.“
„Achso, ja ok, bitte“, biete ich ihm meinen Stuhl an, während ich mich auf das Bett setze.
„Das letzte Gespräch führe ich immer dort, wo ich denke, dass derjenige, um den es geht, also du, sich am sichersten fühlt.“
„Stimmt“, gebe ich ihm Recht. „Das hier ist mein kleines Reich.“
„Du wirst bald ein größeres haben.“
„Ich weiß nicht“, mir ist so mulmig, dass ich befürchte, meine Verdauung lässt mich jeden Augenblick im Stich.
„Du darfst heute gehen. Wie geht es dir damit?“
Herr Wellmesmeier genießt mein Vertrauen, er hatte mir in den letzten achtzehn Monaten viel beigebracht vom Leben. Deshalb traue ich mich auch, ihm die Wahrheit zu sagen: „Ich habe Angst“, gebe ich zu.
Herr Wellmesmeier nickt verständnisvoll, sagt jedoch nichts.
Also spreche ich weiter: „Ich habe einfach Angst, dass mich meine alten Freunde wieder einholen, dass jemand mir droht, wenn ich nicht wieder seinen Stoff verticke.“
„Die Gefahr ist da.“ Damit habe ich nicht gerechnet, dass er das so offen sagt. „Und gleichzeitig sind die Bedingungen ganz andere. Du fängst nächste Woche schon eine Lehre an und das, was ich von dir gesehen habe, lässt mich vermuten, dass es nicht die letzte Stufe deiner Karriere sein wird. Du hast das Zeugs, ein Meister zu werden, und wenn du mich fragst, auch ein guter Lehrer für andere.“
„Ehrlich?“
„Sehe ich aus, als würde ich Scherze machen?“
Nein, so sieht er gar nicht aus, im Gegenteil. Erst in diesem Moment merke ich, was ich an ihm die ganze Zeit hatte: Er hat mir in der kurzen Zeit unseres gemeinsamen Weges mehr beigestanden, als es meine Eltern je taten. Doch viel schlimmer, er ist der erste Mensch, der an mich glaubt, ohne Vorbehalte.
„Glaubst du an dich?“ fragt er, als hätte er meine Gedanken lesen können.
„Nach all der Zeit hier? Ja.“
„Das kommt aber noch zögerlich, oder?“ schaut er mich mit einem Schmunzeln in seinem Gesicht an.
Ich versuche es noch einmal, dieses Mal mit fester Stimme: „Ich werde der beste Schlosser-Geselle meines Jahrgangs werden!“ Denn genau das ist mein Plan. Ich kann es. Trotzdem fließen gerade Tränen, und ein Gefühl der Vorfreude mischt sich mit dem der Ungewissheit. Er reicht mir ein Tempo, das er schon in der Hand gehalten hatte. Er bringt mich damit zum Lachen: „Scheint ja jedem hier so zu gehen.“
„Ja, so ist es. Aber es braucht wohl auch den letzten Tag hier, um das zu verstehen.“ Schon wieder hatte er Recht.
„Sind wir alle so durchschaubar?“
„Nein, ihr seid alles Menschen, denen ein wenig die Orientierung abhanden gekommen ist. Ich weiß, das sich die nächsten Tage, vielleicht Wochen, anfühlen werden wie eine Bewährungsprobe. Es ist aber keine, du bist einfach im Leben. Du warst es auch schon immer, nur geht es nun darum, dass du anfängst, für dich zu entscheiden und für die Welt, in der du selbst leben willst. Nur dafür haben wir dir geholfen.“
Ich lasse die Worte auf mich wirken, bevor ich ihm mit einem einfachen „Danke“ antworte.
„Na auf, Herr Weber bringt dich gleich zum Bahnhof.“
Ich schultere meine Tasche und gemeinsam gehen wir aus dem Gebäude. Das Auto fährt vor und wir schütteln uns wortlos ein letztes Mal die Hände. Willkommen, Leben!
* * *
Hintergrund-Information:
Ich hatte vor ein paar Jahren mal eine Einrichtung besucht, in der junge Männer, die Straftaten begangen haben, wieder - oder überhaupt einmal - Orientierung finden können im sogenannten „offenen Vollzug“. Sie machen dort einen Hauptschulabschluss und werden intensiv betreut. Auf deren ganz eigene Art und Weise beginnen sie quasi auf „unterster Stufe“ und können sich Privilegien, wie z.B. ein Einzelzimmer, verdienen.
Besonders beeindruckt hat mich, dass sie ein internes Gericht haben. Es gelten die Regeln, die sich die Gruppen selbst gegeben hat. Wer länger dabei ist, wird dort neben den Erziehern zu einem der „Richter“ und lernt, ein Verhalten zu beurteilen, merkt, dass „die Wahrheit“ manchmal gar nicht so einfach ist. Mehr noch, er lernt, etwas zu reflektieren und dass etwas, das man macht, Konsequenzen hat, im Guten wie im Schlechten.
Der junge Mann, der uns an dem Tag der offenen Tür alles gezeigt hatte, war kurz vor seinem Abschluss. Als er seine Geschichte erzählte, habe ich an mir gezweifelt, ob ich selbst jemals in der Lage gewesen wäre, aus einem derart tiefen Loch herauszukommen. Ich wünschte, es gäbe noch viel mehr der Hilfe, die dort gegeben wird, und nicht erst, wenn die ersten Straftaten begangen sind.