Nach dem Prompt "Scharlatan" vom 08.01.2020
Geschrieben am 12.07.2020 von 23:30 bis 13.07.2020 00:30 Uhr
Beendet am 14.07.2020 von 01:30 bis 02:30 Uhr
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Triggerwarnung
Dieses Kapitel setzt sich unter anderem mit dem Konsum von illegalen Drogen auseinander. Ich habe versucht, den Grundtenor so neutral wie möglich zu halten, aber natürlich hat jeder Mensch seine eigene Auffassung darüber, was richtig und was falsch ist. Charaktere sind für mich Menschen, die auch zu Wort kommen dürfen, jedoch spiegelt die Meinung der einzelnen Figuren in keiner Weise meine eigene wider, weil ich mir darüber kein Urteil erlauben möchte. Das hier ist nur eine fiktive Geschichte, trotzdem wollte ich als Vorsichtsmaßnahme für die Gemüter meiner Leser darauf hinweisen, dass dieses Kapitel eine Diskussion über die Wirkung von Cannabis beinhaltet.
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ADRIAN
Vor kurzem ist ein Brief ins Haus geflattert. Mutter hat Geburtstag, das wusste ich bereits. Aber wir sind alle eingeladen, das ist der Schock daran. Vater will für uns kochen, es soll ein gemütlicher Abend und ein lustiges Beisammensein werden. Das bezweifle ich. Aber das Schlimmste daran ist: Barbara hat tatsächlich zugesagt und ich würde sie am liebsten dafür umbringen. Es gibt Gründe, warum unsere Eltern nicht anrufen, sondern einen Brief schicken. Es hat tatsächlich einen tieferen Sinn, dass wir einander mehrere Jahre nicht gesehen haben. Aber anscheinend ist Barbara der festen Überzeugung, dass unsere Eltern jetzt in das Alter kommen, in dem man es bereuen würde, nicht alles daran gesetzt zu haben, mit der Familie noch ein bisschen Frieden zu schließen, bevor es irgendwann zu spät ist. Die Frage ist nur: Was zum Teufel habe ich verbrochen, dass sie der Meinung ist, dass ich mitkommen muss, wenn sie diese dumme Entscheidung trifft?
"Jetzt komm schon", versucht sie mich zu überreden. "So schlimm ist ein bisschen Zeit mit der Familie doch gar nicht! Sie werden sich sehr freuen und du wirst sehen, es wird bestimmt ein toller Abend." Klar, logisch. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen! Zeit mit der Familie, dass ich nicht lache. Wir haben uns vor etlichen Jahren explizit geschworen, dass wir beide die einzig wahre Familie sind. Dass wir immer zusammen halten, egal was kommt. Und da sollen jetzt plötzlich diese beiden geistesgestörten Idioten dazwischenkommen, nur weil sie zufällig diejenigen waren, die uns gezeugt haben? Das würde ich Barbara gern an den Kopf werfen. Stattdessen knirsche ich betont wütend mit den Zähnen und knurre, "Na schön. Na gut. Aber sag danach nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!"
Tatsächlich wird es gar nicht so schlimm wie ich dachte. Wir kaufen ein hübsches, nichtssagendes und komplett unpersönliches Geschenk, weil wir nicht die leiseste Ahnung vom Geschmack unserer Mutter haben. Wir packen beide Männer ins Auto und fahren dreieinhalb Stunden in ein anderes Bundesland zu unseren Eltern. Es ist nicht so schlimm wie gedacht, sage ich mir die ganze Zeit noch als Mantra im Kopf auf. Wirklich nicht. Das ist allen Ernstes nicht einmal Sarkasmus, denn es ist nämlich noch um einiges schlimmer, als ich es je zu befürchten gewagt hatte. "Roman, altes Haus!", schreit mein Vater schon von weitem, als wir aussteigen, läuft auf ihn zu und klopft ihm freudestrahlend auf die Schulter. "Was sehen meine Augen? Das ist ja mal eine Überraschung! Ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder. Wie froh ich bin, dass ihr euch wieder zusammengerauft habt!"
Roman kriegt einen Lachanfall und stimmt gackernd zu, "Ja logisch, was dachtest du denn, Helmut?" Barbara und ich schauen betreten zu Boden und laufen beide rot an. Edward sieht aus, als würden sich in seinem Kopf unzählige Zahnräder in Bewegung setzen, um herauszufinden, was zur Hölle er nun am Besten sagen sollte. Dann entscheidet er sich für das einzig Richtige und hält vorsichtshalber komplett den Mund. Einen Moment lang liegen einige Augenpaare erwartungsvoll auf Barbara, damit sie das peinliche Missverständnis aufklärt. Sie aber wirft ausgerechnet mir einen Blick zu, der mich noch nachträglich umbringen wird, wenn ich auch nur in Gedanken wagen sollte, ihre nachfolgenden Worte hörbar anzuzweifeln. "Ja weißt du, Papa... Wir können halt einfach doch nicht ohneeinander!", meint sie zuckersüß lächelnd. Ich will am liebsten schreien, reiße mich aber zusammen und verfluche Barbara im Stillen für diese endlos dumme Idee.
Vielen Dank auch. Wie wahnsinnig unverfänglich, denke ich noch bissig, dann fasse ich all meinen Mut zusammen und Edward zuckt panisch zusammen, als ich sehr liebevoll, ja, beinahe zärtlich meinen Arm um ihn lege. Das ist dann also unser Schicksal. Damit mein Vater nicht sofort seinen nächsten Herzinfarkt bekommt oder an seinem Kummer zugrunde geht, tauschen wir einfach die Partner, solange wir hier sind. Nur mein neuer Schatz hat es noch nicht verstanden, der schaut mich aus großen, fragenden Augen an und zucke hilflos mit den Schultern. "Ach, wo bleiben meine Manieren!", lacht Vater und reicht Edward die Hand, "Mein Name ist Helmut und du bist sicherlich der Grund, warum ich von meinem Sohn keine Enkelkinder erwarten kann?" Innerlich schreie ich. Es ist einfach zu absurd, immerhin ist Ed der einzige von uns, der bezüglich Kindern überhaupt produktiv war. Er hat das nicht verdient. Aber da soll er sich bei seiner Lebensabschnittsgefährtin bedanken, die ihn verleugnet, sobald sich ihr die Chance bietet. Ich mache das hier nicht für sie, soviel steht fest. Ich tue es für den armen Kerl, der so aussieht, als würde er am liebsten zurück ins Auto steigen und seinen Kopf gegen das Lenkrad schlagen.
Aber er ist zumindest besser erzogen als meine gesamte Familie zusammen genommen, lächelt deswegen nur sanft und meint etwas zerknirscht, "Nein, eigentlich bin ich Edward." Ich muss grinsen. Das war zumindest gut gekontert von meinem neuen Liebling! Als wir nach innen gehen, strafe ich Barbara mit Verachtung, Vater ist längst in eine angeregte Unterhaltung mit Roman über die Arbeit vertieft und langsam scheint Ed zu dämmern, welches durch und durch falsche Spiel hier gespielt wird. Er sucht zweifelnd Barbaras Blick, die schaut ihn flehend an und so wirkt er für einen Moment nur so, als würde er vom Glauben abfallen. Dann nimmt er mit einem sehr zerknirschten Lächeln meine Hand in seine. Mutter sitzt auf dem Sofa und zieht an einer Zigarette, die verdächtig sehr nicht nach einer Zigarette aussieht. "Ach, ihr? Was treibt euch denn hierher!", begrüßt sie uns überrascht, dann wendet sie sich an ihren Mann, "Ein Glück, dass du gekocht hast, Helmut! Sonst könnten wir unseren Gästen gar nichts anbieten."
Barbara lächelt schief und überreicht ihr das hübsch verpackte Geschenk. "Alles Gute zum Geburtstag, Mutti", wünscht sie und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Je näher ich trete, desto trockener wird mein Mund und desto kribbeliger werden meine Beine. Ich bin mir sicher, allein durch die passive Aufnahme von THC bereits komplett dicht zu sein, aber es ermutigt mich zumindest, unsere Mutti zu umarmen und sie nun meinerseits zu beglückwünschen. Sie schaut zweifelnd durch mich hindurch und dann auf die Uhr. "Stimmt ja", meint sie trocken, dann wendet sie den Kopf, "Helmut, hast du die Kinder etwa eingeladen?" Vater löst sich einen Moment von seinem über alles geliebten Roman, um genervt zum bereits nett eingedeckten Tisch zu winken. "Ja doch! Ich rede seit Tagen davon, Gisela. Jetzt setz dich zu uns, bevor das Essen kalt wird."
Nach dem Essen dreht sich meine Mutter eine Tüte und bietet mir auch eine an. Ich lehne dankend ab, während ich mich frage, was wir in der Erziehung unserer Eltern bloß falsch gemacht haben. "Könnte ich dich mal einen Moment unter vier Augen sprechen?", frage ich Barbara und ziehe sie aus dem Wohnzimmer in den Hausflur. Barbara sieht mich aus verengten Augen an, "Was denn?" "Wie was denn?", empöre ich mich, "Findest du das alles etwa lustig?" Barbara stöhnt genervt, "Willst du mir jetzt eine Szene machen, nur weil ich den Seelenfrieden unserer Eltern wahren will?" Mein Schnauben klingt wohl so aggressiv wie ich mich fühle, denn ihr Blick wird sanfter, fast entschuldigend. "Jetzt reg dich nicht auf", sagt sie leise. "Es ist nur für ein paar Stunden, danach geht unser Leben ganz normal weiter-" "Gut dass du das sagst", schnaufe ich resigniert. "Und ich hatte schon gehofft, dass ich jetzt endlich deinen Mann heiraten darf!" Darauf geht sie gar nicht ein, sondern spricht gedämpft weiter. "Noch ein bisschen Zusammensitzen, ein bisschen Plaudern und wir haben unsere Schuldigkeit getan. Die beiden freuen sich und uns tut es sicher nicht weh, ihnen das Gefühl zu geben, dass wir eine Familie sind", fährt Barbara unbeirrt fort. Ich seufze tief. "Wenn du das sagst", murmele ich nur.
Als wir zurückkommen, schwatzt unsere Mutter gerade dem "nervösen Hascherl" ihre übrig gebliebene zweite Tüte auf, damit er sich "ein bisschen entspannen" kann, immerhin wird ihn "hier bestimmt keiner fressen, Liebe ist immerhin Liebe!". Ich kann es nicht fassen. "Drehst du meinem Freund gerade illegale Drogen an?", frage ich entrüstet. "Naturheilmittel", beteuert meine Mutter, "Es ist eine Schande auf dieser Welt, dass man überall zum Alkoholkonsum ermuntert wird, bis man qualvoll an einer Leberzirrhose verreckt. Und stattdessen wird eine unschuldige, komplett harmlose und dabei sogar wahnsinnig gesunde Pflanze so verteufelt!" Ich runzele zweifelnd die Stirn, dann hoffe ich darauf, dass mein frisch gebackener Lieblingsmensch genügend Grips besitzt, sich selbst gegen die Scharlatan-Ambitionen meiner Mutter zur Wehr zu setzen.
Mein neuer Freund betrachtet den Dübel in seiner Hand aber gar nicht mal gänzlich ohne Interesse. "Tatsächlich wollte ich das schon immer mal ausprobieren", gesteht er meiner Mutter und sie grinst zufrieden. "Ich habe von CBD-Tropfen gesprochen, nicht vom Drogenkonsum!", entrüstet sich Barbara. "Ach! Das Zeug bringt gar nichts", weiß Mutter scheinbar und winkt theatralisch ab, "Wenn schon, dann richtig. Man muss sich nur mit Geist und Seele mit freundlicher Gesinnung auf die Pflanze einlassen können, dann ist sie auch gut zu einem!" Nach einigen Überlegungen lehnt Edward schließlich doch ab, Mama raucht ihr Kraut selbst und Papa schwebt noch immer mit meinem eigentlichen Freund im siebten Schwiegervater-Himmel. "Hey Schatz!", entfährt es mir, als ich kurz Romans Aufmerksamkeit suche. Barbara zuckt zusammen, aber Edward reagiert souverän, "Ja? Was denn?"
Mutter bricht in schallendes Gelächter aus und zeigt uns allen den Vogel. "Haltet ihr uns eigentlich für komplett bekloppt?", fragt sie kopfschüttelnd. Alle anderen Augenpaare liegen im Schock weit aufgerissen auf ihr. Barbara sieht aus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Roman grinst zufrieden, dem sind solche Sachen doch sowieso scheißegal. Mein Vater runzelt die Stirn, "Hä? Was meinste, Gisela?" Die gute Mutti zuckt nur mit den Schultern und winkt ab, "Von wegen glücklich verheiratet und schwules Pärchen und bla bla bla. Ist doch klar, dass die alle vier zusammen in einer Kommune leben! So wie früher, Helmut. Weißte nicht mehr?" Papa schaut zu Roman. Roman prustet verhalten. "Eigentlich ja auch noch mit zehn anderen Leuten, aber die haben leider nicht ins Auto gepasst", entfährt es mir gehässig. Mutter lächelt und nickt zufrieden, "Dachte ich mir doch!"