Nach dem Prompt "Laternenumzug" vom 09.10.2022
Geschrieben am 09.10.2022 von 18:30 bis 19:30 Uhr
_______________
BARBARA
Meiner Meinung nach führt im Familienleben kein Weg an gelegentlicher Mordlust vorbei. Selbst wenn sich alle Mitglieder ausnahmsweise mal als pflegeleicht erweisen, gibt es ausreichend Potential, unverhoffte Aggression irgendwie abbauen zu müssen, ohne dass jemand zu Schaden kommt.
Die Kinder sind ungewohnt zufrieden, aber sobald ein einziges davon nur alt genug ist, um in die Schule oder sogar bloß in den Kindergarten zu gehen, gibt es einen neuen Feind: WhatsApp-Gruppen für Eltern. Ich frage mich, wer auf die Idee gekommen ist und was diese Person so bitter werden ließ, dass es dazu kam. Kein einziges Elternteil hat auf sowas Lust, die Pädagogen gleich zweimal nicht, aber trotzdem führt kein Weg dran vorbei. Es ist wie ein Elternabend, der nie endet und der dich jederzeit in deinem eigenen Zuhause überraschen kann.
Klar hab ich die Gruppen stummgeschaltet. Irgendwie freue ich mich ja sogar, dass man mich als wichtig genug erachtet hat, um mich einzuladen. Natürlich ist es eine Ehre, sich als vollwertige Bezugsperson fühlen zu dürfen. Aber alles andere muss wirklich nicht sein.
Vor allem, wenn man sich nach einem viel zu langen Tag auf das gemütliche Sofa begeben und einfach nur existieren möchte. Ohne weitere Anstrengung, ohne konkrete Anforderungen an mich selbst, vielleicht so zu tun als würde ich fernsehen, obwohl ich fast eingeschlafen bin. Sowas in der Art eben. Kuschlige Decke, wenig Licht, vielleicht noch eine Wärmflasche und die Gewissheit, dass man erst am Morgen wieder funktionieren muss.
Die Kinder sind im Bett, der Vater dazu ist beim Vorlesen selig eingeschlafen und mir fällt im Traum nicht ein, diese wundervolle Ruhe zu stören. Oben ist es ebenso still, zumindest so lange, bis mein Bruder ganz unauffällig die Treppe runterschleicht und ich so tue, als würde ich es wirklich nicht hören, weil ich längst schlafe.
"Blöde Frage, aber habt ihr jetzt wenigstens in Erfahrung gebracht, wann dieser Martinslauf geplant ist und wer was dafür mitbringen soll?", spricht Adrian mich trotzdem an. Seufzend frage ich mich, was mich wohl verraten hat, aber ich ergebe mich meinem Schicksal. "Was für'n Ding?", erkundige ich mich also äußerst interessiert nach dem Sinn dieser Worte.
"Du weißt schon", Adrian gestikuliert vage in die Luft. "Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne." Missmutig rümpfe ich die Nase. "Nee, kein Bock auf sowas, sorry", erkläre ich ihm sofort die Sachlage und kuschele mich wieder unter die Flauschdecke. Zu spät bemerke ich, dass ich diese Entscheidung leider gar nicht mehr treffen darf, weil alles hinter meinem Rücken schon ohne mich beschlossen wurde.
Adrian scheint fast schockiert zu sein. "Ich dachte, du bist auch in dieser Kindergartengruppe?", fragt er mich argwöhnisch. Ich verfluche ihn innerlich, säusele stattdessen aber ganz lieb, "Du darfst meinen Platz da drin gern haben, wirklich! Du machst das sicherlich toll." Leider nur ist das Leben nicht so einfach wie ich es gern hätte.
Die Krisensitzung verschieben wir auf den nächsten Morgen. Adrian hat zwar versucht, einen wichtigen Geschäftstermin vorzutäuschen, aber selbst Roman erscheint zur strategischen Notfallplanung, gleich nachdem er die Mädels zur Tagesbeschäftigung gefahren hat. Mein Telefon liegt anklagend auf dem Tisch, damit jeder, der erst mal auf den aktuellen Stand kommen muss, die wichtigsten Eckdaten in Erfahrung bringen kann. Während der Stummschaltung der Elterngruppe wurden gefühlt dreitausend Nachrichten geschrieben - und mindestens dreihundert davon drehen sich über die Planung zum gemeinsamen Laternenumzug.
"Das ist sowieso viel zu gefährlich!" Wie immer entzieht sich der eigentlich Verantwortliche mit schier grenzenloser Verwirrung aus der führenden Position. "Die Kinder sind nicht viel älter als fünf. Es ist keine gute Ideen, sie ein Fackellauf mit Feuerwerk und alles mitmachen zu lassen!"
Roman grunzt amüsiert. "Übertreib mal nicht, das sind Teelichter. Selbst wenn der ganze Mist am Stück Feuer fängt, wird das niemanden umbringen. Die Erzieher sind dabei, Eltern dürfen auch mit - klar ist das Geschrei groß, wenn das Ding abfackelt, aber die sollen ja nicht die ganze Stadt niederbrennen."
Je länger wir diskutieren, umso mehr schockierende Dinge erfahre ich.
Der Umzug findet schon in ein paar Tagen statt, es werden Eltern zur Begleitung gesucht und das Mitbringen von Punsch, Bechern, Servietten, langen gespitzten Stocken und zugehörigem Stockbrot-Teig unter denjenigen verteilt, die den Abend schon was vor oder ebenso wenig Lust drauf haben. Wir sollen die Laterne selbst basteln.
Die Vorbereitungen laufen fast schon einen Monat.
Roman weiß offensichtlich noch sämtliche Sankt Martins-Gesänge aus der Jugend auswendig, hat aber immer noch keine besonders klangvolle Singstimme.
Ich habe längst Kopfschmerzen.
Adrian versucht wenigstens ebenso händeringend wie ich, zumindest ein bisschen zu helfen und lädt Bastelanleitungen aus Onlineshops herunter.
Mein Mann hat irgendwo zwischen schlummernden Hooligan-Genen und seiner unendlichen Naivität ernsthaft echte Wachsfackeln besorgt, die wir natürlich unter keinen Umständen benutzen werden. Wir erörtern historische Gestalten, um sämtliche Missverständnisse noch weiter zu vertiefen. Sankt Martin ist im Vergleich zu Guy Fawkes eine sehr viel friedlichere Persönlichkeit.
Irgendwann fühle ich mich, als hätten selbst meine Kopfschmerzen nun eigene Kopfschmerzen.
Es reicht. Wir geben auf und irgendwie dann in den kommenden Tagen doch unser Bestes. Die Laterne ist nicht hübsch, aber Roman ist davon überzeugt, dass es eine Schutzmaßnahme ist. In seiner Theorie fließen weniger Kindertränen, wenn dieses Ungetüm in Flammen aufgeht als beispielsweise ein süßes Pony aus Pappkarton und Buntpapier.
Am Abend vorher streiten wir solange darüber, wer am wenigsten geholfen hat und deswegen zur obligatorischen Begleitperson verurteilt wird, dass wir keine andere Möglichkeit sehen, als einfach alle vier zu gehen.
Natürlich wird es sowieso nicht einmal ansatzweise so, wie wir es mühevoll geplant haben. Elaine ist total aufgeregt, die Spielkameraden nicht im Kindergarten, sondern draußen und im Dunkeln um sich zu haben. Selbst Emily ist ganz in ihrem Element und genießt die ehrfürchtigen Blicke der Kleinen, während sie ihnen erklärt, wie sie die Laterne halten müssen, damit das Licht nicht wieder sofort ausgeht. Irgendwann sind beide zwischen schnatternden und jauchzenden Kindern verschwunden, als würden sie sich köstlich amüsieren.
Und die doofe Laterne, wegen der überhaupt so ein Stress gemacht wurde?
Die trägt Roman stolz durch die Gegend und grölt Martinslieder durch das friedliche Wohngebiet, als wäre er betrunken im Ballermann-Urlaub.