Nach dem Prompt "Am Ende des Sommers" vom 06.09.2020
Geschrieben am 31.08.2021 von 17:30 bis 18:30 Uhr
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BARBARA
Die Zeit vergeht. Darauf kann man sich verlassen. Eigentlich behauptet die Uhr, dass jede Stunde immer aus 60 Minuten besteht. Verstehe ich nicht. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass zwei Stunden beim Schlafen in meinem Bett sehr viel schneller vorbei sind als zwei Stunden, die man im Stau auf der Autobahn verbringt. Rein rechnerisch beläuft sich beides auf 120 Minuten, aber selbst wenn man nur 90 Minuten sinnlos auf der Autobahn steht, kommt einem das länger vor, als wenn man ganze 180 Minuten auf kuschligen Kissen unter einer warmen Decke verbringt.
Aber obwohl ich mein Leben lang auch mit einer Pistole auf der Brust niemals behauptet hätte, dass meine liebste Jahreszeit der Sommer ist, starre ich seit einer gefühlten Ewigkeit voller Schock und Unglauben auf mein Handy. Wo ist die Zeit hin? Warum ist es schon fast wieder Herbst? Wo ist der Sommer geblieben? Haben nicht eben erst die Fliederbüsche ein paar Blüten bekommen? Mit einem tiefen Seufzen sinke ich zurück aufs Sofa. Klar, ich werde nicht mehr jünger. Aber früher waren sechs Wochen Sommerferien manchmal so lang wie ein ganzes Jahr! Wie gesagt, ich bin nicht einmal der geborene Sommermensch. Ich freue mich immer auf sonnige Tage und bekomme dann in der Mittagshitze Kopfschmerzen. So lange wie ich schon die Sommerkleidchen im Kleiderschrank mit den passenden Sandalen bereitstelle, so selten habe ich dann letzten Endes die Gelegenheit, diese Outfits zu tragen. Entweder ist es zu heiß, um etwas zu machen oder man plant etwas, das durch ein Sommergewitter ins Wasser fällt. Ich meine, natürlich gibt es die perfekten Sommertage. Aber an denen muss ich dann arbeiten, irgendwas erledigen oder ein bisschen die Welt retten. Vielleicht nicht die ganze, aber zumindest meine eigene hier in diesen vier Wänden. Und die will erstaunlich oft gerettet werden.
Eigentlich wollten wir verreisen. Urlaub machen, irgendwo. Vielleicht nicht allzu weit weg, aber doch ein Tapetenwechsel. Kein Flugzeug aber, am besten so wenig Aufwand wie möglich, aber dafür die besten Bedingungen, sich wie in einer anderen Welt zu fühlen. Eine Städtereise mit Sightseeing? Zu stressig. Ein Cluburlaub am Strand? Zu langweilig. Abenteuer in der Wildnis, eine einsame Hütte im Wald oder eine Safari in der Savanne? Na ja. Camping am See? Oder ein kleines Ferienhäuschen im Schwarzwald? Vielleicht doch ein Wellnesswochenende? Wandern in den Alpen? Oder zumindest für ein paar Tage an die Nordsee hoch? Es könnte so einfach sein. Wenn man denn wüsste, was man will und vor allem, wenn das mit den Plänen und Wünschen der anderen Beteiligten kompatibel wäre. Roman wäre zuerst mal schockiert, wie ich denn auf die Idee komme, dass wir alle zusammen Urlaub machen. Adrian wäre noch schockierter, was mir denn einfallen würde, davon auszugehen, dass er länger als ein Wochenende am Stück frei haben könnte. Edward würde vermutlich denken, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, wenn ich mich trauen würde, die Frage zu stellen, ob wir zumindest zu zweit irgendwohin fahren wollen. Ein letzter gemeinsamer Urlaub als Paar, bevor danach nur noch kinderfreundliche Hotels infrage kommen - aber wenn ich ehrlich bin, wäre das ziemlich unfair.
Auch wenn die regelmäßige Übelkeit glücklicherweise nachgelassen hat, erinnert mich mein Rücken und Verspannungen an Stellen, von denen ich nicht einmal wusste, dass ich dort Muskeln habe, daran, dass wir auch als Paar nicht mehr zu zweit sind. Davon abgesehen, wie Emily und Elaine sowieso schon Angst davor haben, dass unser Familienzuwachs eine größere Rolle in unserem Leben spielt als die beiden, wüsste ich nicht einmal, was wir überhaupt zu zweit anfangen sollten. Natürlich bin ich urlaubsreif. Zwar arbeite ich momentan gar keine hundert Prozent, aber genügend Nerven gehen dafür auch in weniger Stunden drauf. Und wenn ich dann tatsächlich gar nicht mehr arbeiten soll, wird das nicht entspannter Urlaub, sondern mit Sicherheit so harte Arbeit, dass ich noch gar nicht dran denken möchte. Ich stöhne genervt von meinen eigenen trübsinnigen Gedanken, werfe das Handy gegen das Sofapolster und stehe auf, um mich nicht länger mit dem Ende des Sommers auseinander zu setzen, sondern irgendetwas sinnvolles zu tun. Ändern kann ich das eh nicht. Ich bin definitiv nicht nur urlaubsreif. Ich bin überreif, was Urlaub angeht. Aber Fallobst will ja auch kaum noch jemand essen. Also fällt Urlaub schon mal aus.
Es hilft nicht, dass ich gerade allein zuhause bin. Die Stille kommt mir gespenstisch vor und treibt mich aus der Terrassentür in den Garten, um wenigstens ein paar Vögel zwitschern zu hören. Sturmfrei könnte man sagen. Nach so langer Zeit, in der ich das schon nicht mehr gewohnt bin, nenne ich es allerdings eher Einsamkeit. Vielleicht sind es die Hormone. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich nach so langer Zeit in dieser Position als einzige Frau in diesem Haushalt vergessen habe, dass ich auch noch eine eigene Person sein sollte und nicht nur Teil dieser Gemeinschaft. Während ich mit dem mentalen Vorwand, dass die Sonne schon hinter den Bäumen und Dächern verschwunden ist, den Gartenschlauch aufwickele und die verbliebenen Blumen auf der Wiese zwischen unserer Hecke wässere, fällt mir auf, dass der Grund eigentlich egal ist. Auch wenn ich herausfinde, was mich gerade so nachdenklich macht, dass mich die Melancholie fast ebenso überschwemmt wie ich in einem unachtsamen Moment die Kräutertöpfchen neben dem Hochbeet, vielleicht geht es darum gar nicht. Ich sollte lieber herausfinden, wie ich es ändern kann.
Was nützt es, beim anschließenden kurzen Rundgang über unser Grundstück darüber zu sinnieren, dass Ruhe und Frieden hier um einiges einfacher zu ertragen wären, wenn ich wüsste, dass alle anderen gerade den Spaß ihres Lebens haben. Eine Kontrollrunde, rede ich mir noch ein, aber es gibt nicht viel zu tun, die letzten Tage habe ich gefühlt schon alles im Garten erledigt, was ich ansonsten drei Wochen vor mich hinschieben würde, bevor ich es einmal übers Herz bringe, mich nach draußen zu quälen. Trotzdem sammle ich träge ein paar vertrocknete Blätter auf, die nach Herbst aussehen. Betrachte einige Momente zu lang das leerstehende Vogelhäuschen, in dem erst bald wieder Leben einkehren wird. Wenn ich die Gartengeräte kurz ordnen möchte, fällt mein Blick nur wieder auf das Motorrad, das schon viel zu lange unbenutzt nicht einmal in der Garage sondern hier unter der Überdachung neben dem Schuppen steht. Ich schaffe es nicht, darüber dankbar zu sein, dass Adrian es meinetwegen nach ein paar Ausflügen hat stehen lassen, damit ich mir keine Sorgen mache. Seufzend wende ich mich ab und lasse mich genervt auf die Hollywoodschaukel fallen. Müde bin ich eigentlich nicht, aber unendlich erschöpft. Am blauen Himmel ziehen die weißen Schäfchenwolken vorbei, während ich neben der Markise die Baumkronen hin und her wippen sehe. Es fühlt sich seltsam an, mich daran zu erinnern, dass das überteuerte Ding das Geschenk von meinem Vater zur Hochzeit war. Nie hat sich Edward darüber beschwert, dass ich es mitgebracht und hier aufgestellt habe, als wäre er der einzige Mann, der auf den Polstern jemals mit mir gekuschelt hätte. Nie hätte ich gedacht, dass wir da alle zusammen drauf Platz haben.
"Na du Faulpelz", reißt mich eine belustigte Stimme aus meinen Gedanken. "Sieht ja ganz gemütlich aus, aber findest du nicht, dass es langsam kalt wird?" Als ich die Augen öffne und verkehrt herum zu Romans Grinsen aufblicke, das den Himmel verdunkelt hat, muss ich mich erst kurz besinnen. Es dämmert. Es ist kühl. Aber Roman hat eine Decke dabei und nachdem ich mich darin eingewickelt ein bisschen ordentlicher hingesetzt habe, zur Seite rücke und er sich seufzend neben mich fallen lässt, kann ich nicht umhin, als mich zu fragen, ob nicht vielleicht doch alles wieder gut wird. "Was meinst du", errät Roman vielleicht meine Gedanken, als ihm mein Schweigen wohl zu unheimlich wird. "Wenn wir nächstes Jahr vielleicht doch den alten Kirschbaum killen, hätten wir doch Platz für einen größeren Pool? Kann man ja ne Palme im Topf neben den Sandkasten stellen... Und im Winter müssen wir den Inselstrand halt in die Garage schleppen."
Gegen meinen Willen muss ich schmunzeln. Kurze Zeit später sitzen wir im Schutz der Markise noch auf den Terrassenstühlen im flackernden Licht von ein paar Fackeln, die noch halb angebrannt waren. Roman betrachtet den Whiskey in seinem Glas mit verklärtem Blick. Ich beneide ihn, als ich einen Schluck von meinem lauwarmen Eiskaffee nehme. Trotzdem ist der Waffenstillstand gerade recht angenehm. "Ich hätte ja echt nicht gedacht, dass wir uns nochmal so vertraut zu zweit allein im Kerzenschein begegnen", Roman zwinkert mir grinsend zu, um die Feuchtigkeit in seinen Augen zu überspielen. Ein Königreich für seine Gedanken. Aber dass er nicht herzlos ist, weiß ich eigentlich.
"Nächsten Sommer", beginne ich vorsichtig und Roman schmunzelt. Er schaut mich an. Ich schaue ihn an. Unsere Gläser klirren. "Nächsten Sommer fahren wir aber wirklich in den Urlaub!", beende ich meinen Satz fast trotzig. Roman nickt. "Komme was wolle", drohe ich und muss trotz aller Ernsthaftigkeit kurz lache. "Und es gibt nichts, was uns davon abhalten kann", fügt Roman grinsend hinzu. "Weder Geschäftsreisen ins Nirgendwo mit irgendwelchen Flughafenstreiks noch Krankenhausaufenthalte, egal ob geplant oder spontan - das müssen wir beides dringend abschaffen!" Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln. Neues Jahr, neues Glück. Ist ja nicht der letzte Sommer auf Erden.