Nach dem Prompt "Lang vergessen" vom 10.08.2022
Geschrieben am 10.08.2022 von 18:00 bis 19:00 Uhr
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ADRIAN
Wie idyllisch so ein gemeinsames Mittagessen sein kann. Wenn alle Mitglieder unserer bunt zusammengewürfelten Familie einträchtig am Tisch sitzen. Wenn es allen schmeckt, und sich die gefräßige Stille der absoluten Zufriedenheit über den Raum legt. Wenn alle froh sind, dass wir einander haben und dankbar, dass wir leckeres Essen haben, ein Dach über dem Kopf, eine wundervolle Familie. Manchmal zumindest. Gar nicht mal so selten eigentlich, aber heute halt eben nicht.
Stattdessen wird mit vollem Mund gemeckert, auf den Stühlen herum gehampelt, wild durcheinander gerufen und wütend mit der Faust auf den Tisch gehauen. Nur Emily und Elaine verhalten sich normal. Sie sind offensichtlich die einzigen beiden, die sich benehmen können. Was mit den Erwachsenen heute los ist, kann ich nicht beurteilen, weil ich keinen Deut besser bin, sondern auch mittendrin in diesem Disput stecke. Da gebe ich mir Mühe, ein wirklich aufwendiges Mahl aufzutischen und dann sind die Reaktionen durch die Bank weg: Was ist das denn? Wie sieht das denn aus? Kann man das wirklich essen? und Warum ist das so scharf? Willst du uns umbringen? Einfach nur Banausen. Meine koreanische Spezialität namens Spicy Garlic Chicken schmeckt hervorragend, aber eigentlich hätte mir klar sein sollen, dass ich hier Perlen vor die Säue werfe.
Roman behauptet, er habe nicht auf den Tisch gehauen, sondern sich verzweifelt an der Tischplatte abgestürzt, um nicht innerlich zu verbrennen. Was er ansonsten zu sagen hat, verstehe ich mit dem Mundinhalt, durch den er schnaufend die Luft saugt, glücklicherweise gar nicht. Barbara springt so hastig auf, dass der Stuhl fast umkippt, während sie ein Glas Wasser holt. Edward versucht sie mit hochrotem Kopf und Tränen in den Augen davon zu überzeugen, dass Milch die bessere Wahl wäre. Die Mädels kriegen sich nicht mehr vor Lachen ein, immerhin hab ich denen gar nicht verraten, dass ich für die beiden eine sehr viel mildere Version ohne drei verschiedene Arten von Chili mit einer anderen Soße zubereitet habe. Vielleicht werde ich es auch niemals verraten, so wie die zwei sich drüber zu freuen scheinen, dass es alle viel zu scharf finden, obwohl es doch gar nicht scharf ist. Roman stehen Schweißperlen auf der Stirn. Barbara japst nach Luft. Vermutlich denken sie, dass ich sie alle umbringen will, aber ich kann ja auch nichts dafür, dass die so empfindlich sind. Mir schmeckt's!
Bald ist das Desaster vorbei und die Überlebenden sitzen geschunden auf dem Schlachtfeld und lecken statt ihrer Wunden wundervoll kühles Vanille-Eis. "Ich spür meine Zunge nicht mehr", jammert Roman. Elaine klopft ihm tröstend auf die Schulter, auch wenn sie sich das Grinsen nicht verkneifen kann, "Armer, armer Roman. Aber ich habe eigentlich auch gedacht, dass du ein großer starker Mann bist und deshalb sogar ganz ganz scharfe Sachen essen kannst. Du hättest vorher sagen müssen, dass du da empfindlich bist, auch wenn es nicht mal scharf ist!" Mein Glucksen ist leider nicht leise genug, dass es in der betretenen Stille untergeht. Schnell weiche ich einer tränendurchnässten, zusammengeknüllten Serviette aus, die in meine Richtung fliegt. "Das hast du doch mit Absicht gemacht", wirft Roman mir vor. Sogar Barbara und Edward fallen mir in den Rücken und mustern mich fast vorwurfsvoll, ohne mich zu verteidigen. Untermalt von Emilys Kichern und Elaines Einwand, dass Roman jetzt kein Wasser trinken darf, weil es davon nur schlimmer wird, ahne ich, dass ich damit nicht davon komme.
"Ich finde es wirklich nicht scharf", erkläre ich mich abwehrend, während in meinem Kopf tausend Gedankenfetzen durcheinanderwirbeln. "Und dass ihr es beim letzten Mal alle schon ungenießbar fandet, hab ich schon lang vergessen!" Barbara runzelt die Stirn, als hätte ich mich genau damit verraten. "Wirklich", beteuere ich aber vehement, "Tut mir ja leid, aber ich hatte voll Lust da drauf. Das hat echt nichts damit zu tun, dass ihr mich gestern Abend alle beim Spiele-Abend abgezockt habt. Nächstes Mal koch ich wieder was anderes, wenn ich dran bin, Ehrenwort!" Na gut, vielleicht bin ich weder besonders talentiert darin, etwas zu verheimlichen, noch darin, zu lügen. Denn Babs scheint es längst kapiert zu haben, ihrem Blick aus verengten Augen zu urteilen. Roman geht das Licht jetzt wohl auch auf.
"Dein Ernst?", er schnappt nach Luft - von der Empörung wohl ebenso wie von dem Genuss der viel zu scharfen Gewürze - "Du stellst dich vier Stunden in die Küche, um uns zu vergiften oder allgemein fast umzubringen, nur weil du ein schlechter Verlierer im Mensch-ärgere-dich-nicht bist?"
Jetzt ziehe ich die Nase kraus und verschränke beleidigt die Arme vor der Brust. "Nein!", gebe ich trotzig zurück. "Aber falls ihr es in Ordnung findet, in einem Jeder-gegen-jeden Spiel wie eben diesem gaaaanz zufällig natürlich immer nur mich rauswerft, um euch gegenseitig zu verschonen, dann ärgere ich mich schon. Und das geht komplett am Sinn des Spiels vorbei!"
Edward und Roman werfen sich verwunderte Blicke zu, die ich nicht zuordnen kann. Barbara mustert erst mich, dann schaut sie ebenso prüfend vom einen zum anderen, bevor sie zu überlegen scheint und mich wieder anstarrt. "Moment, was sollen wir gemacht haben?", fragt sie scheinheilig. Ich schnaube und erkläre mich mit Händen und Füßen. Ja, ich rede mich um Kopf und Kragen. Leider verläuft sich meine Rache nach und nach im Sand, weil die armen Schärfe-Geplagten jetzt ganz glücklich dabei aussehen, sich zusammen mit den Mädels die Zwei-Liter-Packung Eis zu teilen.
"Es war eindeutig!", rege ich mich immer noch auf. Elaine schwingt ihren leeren Löffel in einer sehr ulkigen Weise einmal umher, ehe sie sich noch mehr Eis schnappt. "Hm", meint sie nur äußerst altklug, "Wer weiß, vielleicht haben die das ja auch lang vergessen!"
Mit einem schweren Seufzen gebe ich mich geschlagen. "Was auch immer", murmele ich, rolle mit den Augen und greife einfach auch zu einer der Dessertschalen, um mir auch noch Eis zu sichern, ehe alles weg ist. Elaine schiebt das Schälchen aber schnell außerhalb von meiner Reichweite und belehrt mich - wieder mit dem Kaffeelöffel statt erhobenem Zeigefinger.
"Nein, nein, nein!", sie schüttelt lächelnd den Kopf. "Du findest es ja gar nicht scharf, also brauchst du auch kein Eis zu ablöschen!"