Nach dem Prompt "Gewissensbisse" vom 29.03.2020
Geschrieben am 14.04.2020 von 22:00 bis 23:00 Uhr
Beendet am 09.07.2020 von 19:30 bis 20:30 Uhr
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ROMAN
Während ich mich dem Schrank zuwende und gerade meine Jeans gegen eine gemütliche Jogginghose tausche, höre ich ein verdächtiges Rascheln. Dieses kleine, eigentlich sehr unscheinbare Geräusch, wenn man eigentlich nur Papier hört, aber aus irgendeinem Grund sofort weiß, dass es weder ein Buch noch irgendein alter Kassenzettel und schon gar keine wichtige Urkunde ist. Diese Art von sanftem Geraschel, das so nur von einer Tafel Schokolade, einer Tüte Chips oder einer Packung Doppelkekse mit irgendeiner cremigen Füllung zwischendrin stammen kann. "Darf ich auch was haben?", frage ich also vollkommen automatisch und ohne darüber nachzudenken. Ich komme direkt von der Arbeit, ein ungewohntes Gefühl nach mehreren Feiertagen und deswegen fast unzumutbar. Ist doch logisch, dass ich Hunger habe und so ein Geräusch unter Tausenden herausfiltern könnte.
Adrian schaut mich unschuldig an, als könne er kein Wässerchen trüben, kaut verhalten und schluckt dann wahnsinnig unauffällig. Ich erstarre mitten in meiner Bewegung, die Jogginghose zwischen den Knien, und starre ihn fassungslos an. Schon allein die Art, wie er die Lippen zu einem fast gehässigen Grinsen verzieht, lässt mich ahnen, was hier vor sich geht. "Sorry, war das letzte", nuschelt er entschuldigend, als würde das irgendetwas an der Situation besser machen. Ich fasse es nicht. Mein eigener Freund hat nicht nur heimlich genascht, ohne mich zu fragen, ob ich etwas abhaben möchte. Er hat allen Anschein nach diese Nascherei auch bösartig einfach allein verschlungen, ohne mir etwas übrig zu lassen!
"Nicht dein Ernst!", werfe ich ihm also beleidigt vor und schmolle. Fast schon entschuldigend hält er ein rot glänzendes Papierkügelchen hoch. Ich weiß, was das gewesen ist und das macht die Lage nicht besser. Schokolade. Aber es war nicht etwa eine gemein gestohlene Tafel aus meinem persönlichen Vorrat, sondern ein verdammtes kleines Edgar-Glitzerpapier-Schokoladen-Osterei. In diesem Sinne also Schokolade, für die ich fast mein Leben lassen musste und wegen der ich immer noch aussehe, als hätte ich mir den Kofferraumdeckel eines Jeeps auf den Schädel geknallt. Adrian verdreht die Augen und die wende mich beleidigt wieder dem Schrank zu, um endlich meine Hose hochzuziehen und mich dann an den Schreibtisch zu setzen. Ich ignoriere Adrian ab jetzt, etwas anderes hat er nicht verdient.
Kurze Zeit später höre ich ein resigniertes Seufzen, aber ich schaue nicht zu ihm. "Jetzt komm schon", versucht Adrian wohl, wieder Frieden zu schließen. Dann aber findet er irgendeinen dummen Gedanken in seinem Kopf viel zu lustig, als dass er mein Leid ernst nehmen könnte. "Immer wenn du Hunger hast, wirst du zur Diva", kichert er dämlich. "Du bist nicht du, wenn du hungrig bist!" Er kann mich mal. Ich starre auf meinen Terminkalender auf der Tischplatte und schmolle. "Oh Mann, jetzt hab dich doch nicht so", stöhnt er dann genervt. "Hast du nicht gestern noch gesagt, dass dich der Teufel holen soll und dass du eher verhungerst, bevor du diese Schoko-Eier auch nur anfasst, weil es keine nette Geste, sondern ein gemeingefährliches Attentat war und du für alle Ewigkeit auf Rache sinnen wirst? Was zur Hölle ist eigentlich dein Problem?"
In diesem Moment kann ich mich nicht länger beherrschen. Ich schnaufe verärgert, drehe mich auf dem Schreibtischstuhl um und wirkte dabei sicherlich nicht so bedrohlich, wie ich gern wäre. Immerhin hat meine Bewegung so viel Schwung, dass ich die Beine auf den Boden stemmen muss, um nicht einfach eine ganze Umdrehung hinzulegen und lustige Pirouetten auf dem Drehstuhl zu machen. Das ist nicht lustig. Ich bin todernst und beleidigt. "Es ist echt fies, dass du mir nichts abgibst, wenn ich hier ausgehungert nach Hause komme!" Adrian seufzt schwer, dann muss er wohl trotz allem Schmunzeln und deutet auf die Tür nach unten. "Wenn du nicht warten kannst, bis ich gekocht habe, schmier dir ein Brot oder frag Barbara, ob sie noch was übrig hat!" Ich ziehe die Mundwinkel nach unten und runzele die Stirn. "Nein", beschwere ich mich patzig. "Und vor allem fällst du mir in den Rücken, wenn du diese Schokolade isst, für die ich beinahe gestorben wäre!"
Adrian scheint es nun wirklich zu reichen. Er stöhnt genervt, hebt meine Jeans vom Boden auf und schleudert sie mit voller Wucht in den Wäschekorb. "Davon abgesehen, dass ich schon wieder hinter dir herräumen muss, aber lassen wir das", beginnt er und ich verschränke die Arme vor der Brust, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen. "Ich hab's langsam echt satt, dass du dich wie ein Kleinkind verhältst!", wirft er mir an den Kopf. "Findest du es nicht albern, so zu tun, als wärst du eifersüchtig auf den Neuen deiner Ex, wenn du es warst, der sich von ihr getrennt hat? Soll ich mir jetzt Gedanken machen, ob du ihr hinterher trauerst oder brauchst du einfach nur jemanden, den du terrorisieren kannst? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Der Mann hat dir nichts getan, er ist immer freundlich und korrekt zu dir. Lass ihn einfach in Frieden." "Du verteidigst ihn auch noch?", ich empöre mich lautstark, "Er wollte mich umbringen!"
Der Blick, mit dem mich Adrian mustert, spricht Bände davon, dass er kein Verständnis für meine Belange hat. "Nein, Roman", sagte er und klingt kalt dabei. "Er wollte uns eine Freude machen. Er konnte nicht ahnen, dass du im Halbschlaf nach unten gehst und dabei über sein Geschenk für uns stolperst. Und wenn du es genau wissen willst, ist es wirklich unangebracht, wegen dieser Sache so ein Affentheater zu machen!" Ich presse fest meine Lippen aufeinander, kann aber nicht klein beigeben und so versuche ich zumindest, meine Meinung zu diesem Mist kund zu tun. "Das ist eine Sache zwischen ihm und mir, da musst du dich gar nicht einmischen", meckere ich. "Ich für meinen Teil hab's übrigens satt, dass ihr ihn immer verteidigt, als wäre er ein Baby. Was für ein Kerl, der die Unterstützung von seiner Freundin und ihrem Bruder braucht, um ein Missverständnis mit einem vernünftigen Menschen auszuräumen. DAS finde ich unangebracht."
„Sag mal, bist du so blöd oder tust du nur so?“, fragt mich Adrian ernst. „Du merkst nicht mal, wie du andere damit verletzt, dich in Sachen hineinzusteigern, nur damit du dich bescheuert aufspielen kannst.“ Entnervt rolle ich mit den Augen und zähle innerlich bis zehn. Dann rege ich mich erst auf. „Streiten wir uns jetzt wirklich wegen diesem Typen?“, stelle ich lieber eine Gegenfrage. „Ich fasse es nicht!“
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Hier war die Zeit abgelaufen, aber die Szene ist offensichtlich noch nicht fertig.
Der Vollständigkeit halber habe ich weiter geschrieben, um sie zu beenden.
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„Nein“, antwortet Adrian bissig. „Wenn du es wirklich genau wissen willst, streiten wir gerade wegen niemand anderem als dir. Und das auch lediglich, weil du komplett unfähig bist, zu bemerken, wann es endlich reicht!“ Ich gebe auf und sinke resigniert stöhnend gegen die Stuhllehne. „Möchtest du mir denn nicht endlich verraten, welches Geheimnis du hütest, das aus meinem sogenannten Affentheater“, ich überdenke meine Worte und füge schmollend hinzu, „Was ich als einen sehr unsensiblen Begriff für den Umstand erachte, dass ich einfach nur ein bisschen nachtragend bin... Aber ja, sag mir was daraus ein so riesengroßes Drama werden lässt!“, Adrians gefährlicher Blick lässt mich kurz verstummen.
Dann wird sein Blick sanfter und er seufzt leise. „Ich will wirklich nicht streiten, Roman“, sagt er leise und mit einem Mal tut es mir doch sehr leid, wie ich mich aufführe. „Ich hatte nur gehofft, dass du irgendwann von allein damit aufhörst, ohne dass ich dir etwas erzählen muss, was mir selbst als Geheimnis anvertraut wurde." Ich bin zwar längst besänftigt, weil er den ersten kleinen Schritt auf mich zugegangen ist, schmolle aber trotzdem noch. Denn davon abgesehen, dass ich immer noch nicht kapiere, was ich überhaupt falsch gemacht habe, bin ich immer noch ohne Schokolade und außerdem nun doch ein bisschen neugierig.
Adrian legt die Arme um mich und ich kann nicht anders, als ihn auch zu umarmen. Auch wenn ich echt stinksauer bin, der Trick funktioniert einfach immer wieder. Der Kerl riecht einfach zu gut, ich schwöre, da könnte keiner widerstehen! „Und wenn ich es niemandem weitererzähle?“, nuschele ich gegen seine Schulter. Kurze Zeit später bereue ich beinahe, dass ich danach gefragt habe. Etwas schockiert, aber vor allen Dingen voller Gewissensbisse sitze ich auf dem Drehstuhl und starre pikiert auf die Tür nach unten. Es ist nicht so, dass ich mir nicht habe denken können, dass es eine nette Geste war. Ich bin ja eigentlich auch nicht so nachtragend, dass ich nicht selbst bemerkt habe, dass meine Worte vom Attentat schon allgemein betrachtet gar nicht mehr lustig waren. Jetzt allerdings weiß ich, warum niemand Verständnis dafür hatte, dass ich die Geschichte nicht einfach habe ruhen lassen. Und jetzt tut es mir echt leid, mit diesem riesengroßen Mist überhaupt angefangen zu haben.
„Tu mir bitte einen Gefallen“, sagt Adrian und kramt eine Tafel Schokolade aus seiner Schreibtischschublade, „Sag ihm nicht, dass wir darüber geredet haben. Wenn du dich entschuldigen willst und er fragst, warum du deine Meinung geändert hast, sag am besten, dass du plötzlich ohne ersichtlichen Grund vernünftig geworden bist. Babs hat mir das auch nur im Vertrauen erzählt.“ Ich runzele die Stirn, „Sag mir nicht, dass du die ganze Zeit noch was Süßes da hattest?“ Adrian schnaubt amüsiert. „Die hast du dir verdient, nachdem wir das nun geklärt haben, ohne einander an die Gurgel zu springen“, meint er mit einem schiefen Lächeln.
Abends im Bett geht mir Edwards Gesicht nicht aus dem Kopf. Ich blinzele, damit ich nicht ertragen muss, wie es mich traurig anschaut. Es stimmt schon, dass ich es ihm nicht leicht gemacht habe. Vielleicht hat es auch wirklich viel zu lang gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich eigentlich gar nichts gegen ihn habe. Vielleicht ist er nicht der Hellste, vielleicht regt mich seine naive Art auch unsagbar auf. Aber letzten Endes bleibt es dabei, dass wir uns hier zusammenraufen müssen und ich das Kriegsbeil begraben sollte, bevor ich aus purem Unwissen noch mehr Schaden anrichte. Mein schlechtes Gewissen lässt mich erst schlafen, nachdem ich mir vorgenommen habe, mir seinen Namen jetzt ordentlich zu merken. Und selbst dann träume ich von Edgar, der eigentlich Edward heißt. Edward, der ein viel besserer Mann für Babs ist, als ich es je hätte sein können. Der komische Kauz, der trotz seiner gruseligen Krankheit ein besserer Vater für seine Kinder ist, als ich es in meiner Vorstellung je hätte werden können. Ausgerechnet dieser zerstreute Gutmensch darf seine Kinder nur so selten sehen, weil seine Ex ihn grundsätzlich als unzurechnungsfähig beim Jugendamt darstellt. Ich weiß nicht, was da alles passiert sein muss, aber in diesem Moment tut mir Edward leid. Edward, der sich wegen eben jener komplett gestörten Ex bei einem nicht ganz zufälligen Sturz von der Kellertreppe damals den Oberschenkel und einige Rippen gebrochen hat.
Später schleiche ich mich nach unten, während Adrian schon tief und fest schläft. In meiner Hand die Schokoladentafel, die ich nicht angerührt habe, außer um ein Post-it drauf zu kleben, auf dem steht: „Für den Osterhasen.“ Ich öffne lautlos die Tür nach unten, stecke die Schokolade in Ermangelung einer besseren Alternative wie der Nikolaus in Edwards Schuhe und betrachte kurz mein Werk. Keine Ahnung, ob er das so verstehen wird, wie es gemeint ist. Aber vielleicht findet er es wenigstens witzig, dass sich Nikolaus und Osterhase gegenseitig beschenken.