Nach dem Prompt "Und erstens kommt es anders..." vom 15.07.2020
Geschrieben am 11.08.2022 von 17:00 bis 18:00 Uhr
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EDWARD
Normalerweise sehe ich mich selbst immer als sehr ausgeglichenen Menschen, den nichts so leicht aus der Ruhe bringen kann. Mir wurde schon gesagt, ich sei für viele der Fels in der Brandung, der auch noch gefasst einen klaren Kopf behält, wenn die Wellen im Sturm tosen. Manchmal glaube ich, dass es nur so rüberkommt, weil ich mich selten laut aufrege, auch wenn ich gar nicht mal so gelassen bin. Im Gegensatz zu meiner Familie aber stelle ich oft fest, dass ich manche Probleme vielleicht auch gar nicht so verstehe.
Natürlich will ich nicht behaupten, dass sich Barbara, Roman und Adrian über Dinge aufregen, die eine solche Reaktion gar nicht bräuchten. Vielleicht verstehe ich gar nicht, was beispielsweise ein Weltuntergang daran sein soll, wenn man den Deckel auf der Toilette nicht immer runter klappt oder wieso die Zahnpastatube zugeschraubt werden muss, wenn sie doch eindeutig auch nicht ausläuft, wenn man sie offen liegen lässt. Vermutlich bin ich zu einfach gestrickt für solche tiefgründigen Denkweisen oder einfach nicht intelligent genug, um die längerfristigen Folgen davon abzuschätzen, wenn die Knopfleiste der Bettdecke nach oben zeigt oder Ananasstücke auf einer Pizza liegen. Ich will da gar nicht urteilen.
Fakt ist jedoch, dass ich trotz meiner entspannten Grundhaltung auch in der Lage bin, mich so sehr aufzuregen oder zu sorgen, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend zu rennen. Auch wenn es in der Situation vielleicht nicht sinnvoll ist.
Lange Rede, kurzer Sinn: Barbara ist krank. Vielleicht hat sie sich irgendetwas eingefangen, weil sie momentan angeschlagen ist, aber selbst wenn das noch das kleinste Problem wäre, macht es mich verrückt vor Angst. Zum Arzt will sie nicht. Sie meint, es wäre alles okay und sie wäre nur überempfindlich. Ein bisschen Ruhe zu haben reicht ihrer Meinung vollkommen, meine ständigen Fragen und die übertriebene Fürsorge würde es nicht besser machen.
Was von meinen sinnvollen Gedankengängen noch übrig ist, überschlägt sich in meinem Kopf. Von allen furchtbaren Szenarien, die ich mir ausmale, ist eines schlimmer als das andere. Ob sie sich schlecht fühlt, weil es in der Schwangerschaft Komplikationen gibt oder ob es Komplikationen geben könnte, weil sie sich so schlecht fühlt - nichts davon macht es besser.
Roman ist ausnahmsweise auf meiner Seite. Er bietet etwa stündlich an, dass er jederzeit fahren kann und sie nur einen Ton sagen muss, bis er sie ins Auto packt und ins Krankenhaus bringt. Als Antwort hat sie ihm ein Kissen an den Kopf geworfen und gegrummelt, dass er nicht so schreien soll, weil sie Kopfschmerzen habe. Als Adrian nach unendlich scheinenden Stunden zugegeben hat, dass er sich mittlerweile auch Sorgen macht, können wir nicht mehr warten oder gute Miene zu bösem Spiel machen.
In Windeseile haben wir eine Tasche mit den nötigsten Sachen zusammengepackt, die sie im Notfall in ein Krankenhaus mitnehmen könnte. Während Adrian die Aufgabe übernommen hat, Barbara von unseren Plänen zu überzeugen, sitzen Roman und ich komplett angezogen, mit Tasche, Handtasche und einem Briefumschlag mit wichtigen Dokumenten komplett nutzlos auf dem Sofa. Roman klimpert ungeduldig mit seinem Schlüsselbund herum. Ich versuche angestrengt, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, kämpfe um Fassung und blinzele die Tränen aus meinen Augen. "Vergiss es", raunt Roman mir warnend zu, "Du ziehst dich jetzt nicht aus der Affäre! Wir machen das jetzt gemeinsam, also kommt gar nicht erst auf die Idee."
Trotz allem muss ich amüsiert schnaufen. So funktioniert mein Kopf leider nicht, aber ich kann es ihm in dieser Situation nicht übel nehmen. "Glaub mir, wenn ich mir den besten Zeitpunkt aussuchen könnte oder irgendeinen Einfluss darauf hätte, wären sehr viele Dinge in meinem Leben anders abgelaufen", versuche ich ihm die Angst zu nehmen. Ganz überzeugt sieht er nicht aus. Dann senkt er den Blick und scheint sich nicht ganz zu trauen, seine Bedenken zu äußern. "Sag mal", beginnt er mit belegter Stimme, "Wie war das mit deinen Eltern? Also wird das sozusagen immer weitergegeben?"
Ich schaue ihn prüfend an, ob es ein Witz sein soll. "Du erinnerst dich an Emily und Elaine, ja?", frage ich ihn direkt. "Die zwei Kurzen, die manchmal am Wochenende da sind, ja? Das sind auch meine Kinder, ich mach das hier nicht zum ersten Mal." Roman zuckt mit den Schultern und sieht ganz und gar traurig aus. "Aber", wagt er zögerlich, "Hast du es schwarz auf weiß? Also weil die Alte war ja jetzt nicht die treuste Seele, nachdem was du so erzählt hast..."
Kurz weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. "Selbst wenn", lenke ich also ein, "Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 3-8% oder so. Nicht höher als sonst. Wenn du dir jetzt also Sorgen machen willst, würde ich vorschlagen, dass wir da erst einmal woanders anfangen." Roman seufzt. "Du hast Recht", er reibt sich nervös das Gesicht. Dann gibt er zu, "Wäre nur einfacher, einen Schuldigen zu haben!" Mein Seufzen wird unterbrochen von einer sich öffnenden Tür und näher kommenden Schritten. In Sekundenschnelle sind wir beide aufgesprungen. Adrian führt eine etwas blasse, aber sehr viel deutlicher angesäuerte Barbara am Arm in Richtung Tür. Schnaubend löst sie sich von seiner zuvorkommend stützenden Geste.
"Ich kann alleine laufen, vielen Dank!", so giftig wie sie ihn abwehrt, bin ich fast überrascht, dass sie zwar eine ebenso ablehnende Haltung gegenüber Roman demonstriert, mich aber sofort in die Arme schließt.
Ich halte sie ganz fest, blinzele neue Tränen weg und streichele ihr sanft über den Rücken. Kurz löse ich mich, um sie anzuschauen. "Roman meinte, es wäre kein Problem, dass er uns mit dem Auto fährt", merke ich vorsichtig an. Barbara rollt mit den Augen, scheint aber keine Kraft mehr für Diskussionen zu haben. "Von mir aus", murmelt sie also fast ohne Zweifel in der Stimme. "Aber ganz bestimmt nicht in die Notaufnahme!"
Zwischen Jacken, Gepäck und Anschnallgurten lehnt sich Barbara auf dem Rücksitz in meine Richtung, ohne meine Hand jemals loszulassen. Während Roman das Navigationsgerät bemüht, sitzt Adrian mit dem Telefon auf dem Beifahrersitz und kämpft sich von Warteschleife zu Warteschleife. Irgendwann zwischen ein paar roten Ampeln dreht er sich zu uns, um das weitere Vorgehen zu erörtern. "Frau Hembergers Praxis hat wie gesagt heute geschlossen. Die Vertretungspraxis hat mich nochmal weitergeleitet, aber eine gute Nachricht hab ich wenigstens: Wir haben einen Notfall-Termin in einer anderen Gemeinschaftspraxis und müssen gar nicht mal so extrem weit fahren dorthin!"
"Kein Krankenhaus?", fragt Roman grübelnd. Barbara schnaubt, "Erstens, weißt du wie überfüllt es immer in der Notaufnahme ist? Zweitens, da weiß doch keiner bescheid, wer für was zuständig ist. Und überhaupt: Es geht ja nicht um mich, also werde ich nirgendwo anders hingehen als zu einem Spezialisten im Fach!" Das scheint selbst Roman zu überzeugen, die Fahrt fühlt sich um einiges länger an als erwartet, aber letzten Endes sitzen wir drei Jungs dann doch schweigsam und bedröppelt wie die Hühner auf der Stange nebeneinander im Wartezimmer.
Roman rutscht ungeduldig auf dem Stuhl herum. Adrian starrt in eine der herumliegenden Baby-Zeitschriften, als würd er lesen. Aber sein Blick wirkt verklärt und umgeblättert hat er in der gesamten Zeit noch nicht, obwohl er normalerweise in Lichtgeschwindigkeit liest. Ich kaue auf meiner Unterlippe und knete die vor Angstschweiß feuchten Hände ineinander. Roman schaut auf die Uhr. "Wieso dauert das so lange?", fragt er verzweifelt. Adrian wirft ebenfalls einen Blick auf die Uhr. "Wir warten noch keine zehn Minuten, also mach hier nicht noch mehr Panik", raunt er ihm zu.
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Hier war die Zeit abgelaufen, aber die Szene ist offensichtlich noch nicht fertig.
Der Vollständigkeit halber habe ich weiter geschrieben, um sie zu beenden.
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Um uns ein bisschen abzulenken, versuchen wir eine Konversation am Leben zu halten. Zum Glück sind wir die einzigen Wartenden an einem Mittwoch Nachmittag. Erst nach einer kurzen Weile öffnet sich die Tür zum Wartezimmer und eine junge Frau mit zwei kleinen Babys in einem doppelten Tragebettchen setzt sich zu uns. Ihr Blick mustert uns kurz prüfend, bevor sie sich wieder der Beschäftigung widmet, auf ihrem Handy herumzutippen, während sie mit der freien Arm den beiden Schlafenden hin und her schaukelt. ich kann es ihr nicht verübeln. Sicherlich besteht die Gesellschaft in einem Wartezimmer beim Gynäkologen selten aus drei Männern, die nervös nebeneinander sitzen. Vielleicht fängt sie ja gerade an zu raten, wer von uns heute eine gute Nachricht bekommt und welche beiden anderen traurig nach Hause gehen.
Roman und Adrian lassen sich trotz neuer Gesellschaft nicht in ihren Diskussionen stören. Sie haben lediglich die Stimme gesenkt, um die zwei schlafenden Knirpse nicht zu wecken. "Aber warum so plötzlich? Wenn es Risiken gäbe, wieso hätte das nicht jemand abschätzen und regelmäßige Untersuchen veranlassen können? Ich meine, dafür sind die Fachärzte doch da?", Roman hat wohl Mühe, ruhig zu bleiben. Adrian seufzt. "Ja, das stimmt", gibt er zu. "Aber sie hat mir auch gesagt, dass sie mindestens einen der regulären Termine nicht wahrnehmen konnte und diverse Zusatzoptionen auch aktiv abgelehnt hat. Sie wollte ja nicht wissen, ob Mädchen oder Junge oder so... Aber dass es soweit kommt deswegen?"
Die Zwillingsmama hat wohl unvermeidbar zugehört und mischt sich ein, "Tut mir leid. Ich wollte nicht lauschen, es ist ja privat, aber da kann ich euch die Sorge nehmen: Auch wenn die Mutter sich diesbezüglich überraschen lassen möchte, hat das keinen Einfluss darauf, ob die Untersuchungen ordnungsgemäß durchgeführt werden", sie lächelt aufmunternd. "Also sinngemäß: Der Arzt untersucht immer gleich. Unterschiedlich ist nur, was davon er danach ausspricht und was nicht. Schwierigkeiten und Risiken kann er auch benennen, ohne etwas dergleichen zu verraten." Einstimmiges Schweigen. Wir überlegen wohl gerade alle drei, ob uns das erleichtert oder ob es nur ein Tropfen Trost auf einen heißen Stein voller Sorge ist.
Allerdings werden wir erlöst, als sich die Tür ein weiteres Mal öffnet. Barbara mustert uns alle drei auffordernd, hat schon ihre Jacke an und auch wieder mehr Farbe im Gesicht. "Und?", fragen wir fast gleichzeitig. Sie rollt mit den Augen und winkt uns zu sich, "Lasst uns nach Hause fahren! Ich bin müde, mein Rücken tut weh und außerdem denke ich seit der Hinfahrt nur noch an den Brathering im Kühlschrank!" Wie auf ein Kommando werfen wir einander unschlüssige Blicke zu, dann setzen wir uns in Bewegung und wagen uns auf den Heimweg.
Die gesamte Rückfahrt über kommt kein richtiges Gespräch zustande.
Barbara antwortet zwar brav auf die Fragen, mit denen Roman und Adrian sie überhäufen, aber wirklich aufschlussreich ist es nicht.
Auf ein "Ist alles okay?" ist die Antwort "Ja", die Frage "Was war denn los?" wird beantwortet mit "Nichts". Auch die Versuche mit "Was ist denn nun passiert?" und "Was machen wir jetzt?" kommt nur "Nichts".
"Ja, aber der Arzt muss doch irgendwas gesagt haben", fleht Roman händeringend. Barbara zuckt mit den Schultern. "Hoher Blutdruck. Bisschen dehydriert. Kreislauf. Sowas halt. Beim Ultraschall alles okay, ich musste nur solange warten, weil er noch eine Flüssigkeitsinfusion durchlaufen lassen wollte", erklärt sie nüchtern. Mein Blick wirkt wohl besorgt genug, dass sie sich trotz der nervigen Fragen vom vorderen Bereich des Autos endlich erbarmt. "Jetzt schau mich nicht so an!", verteidigt sie sich. "Ich bin von Grund auf empfindlich, dann kommen noch die Hormone dazu. Es ist aber laut Arzt definitiv alles noch im Rahmen und wir sind alle gesund!" Damit müssen wir uns wohl zufrieden geben.
Zuhause muss der Brathering dran glauben, danach lässt sich Barbara dazu breitschlagen, dass sie sich nicht im Bett verkrümelt, sondern zumindest ich ihr auf dem Sofa im Wohnzimmer Gesellschaft leisten darf. Die anderen beiden verbannt sie erst mal nach oben, mit dem Vorwand, dass sie ihr zu laut atmen. Dafür darf ich mich zu ihr setzen und sie kuschelt sich mit der Sofadecke in meine Arme. Während ich noch überlege, wie ich die Fragen, die mir immer noch auf der Seele brennen, in deutsche Worte formulieren soll, lehnt Barbara seufzend den Kopf gegen meine Schulter und blinzelt von unten prüfend in mein Gesicht.
Es muss Bände von meinen Denkvorgängen sprechen oder zumindest noch besorgt aussehen, denn ohne dass ich überhaupt was sagen muss, nimmt sie meine Hände zu sich und erzählt von sich aus.
"Du musst dir keine Sorgen machen", beginnt sie sanft. "Also, zumindest nicht über gesundheitliche Beschwerden, wirklich. Vielleicht um unser aller Nerven, wenn das alles erst mal richtig los geht. Aber es ist alles in Ordnung." Brav nicke ich und ringe mir ein Lächeln ab. Wahrscheinlich hat die Aufregung uns einfach alle etwas mitgenommen.
"Die anderen hab ich weggeschickt, weil du es zuerst wissen sollst", fügt sie dann noch leise, aber sehr sehr zärtlich hinzu. Mein Herzschlag pocht sofort wieder bis zum Hals und unwillkürlich fasse ich Barbaras Hände fester, bis sich unsere Finger ineinander verflechten.
"Natürlich werden sie es auch erfahren", lenkt sie schnell ein. "Geheimhalten kann ich es sowieso nicht lange. Und wie gesagt, es ist vielleicht erst mal ein Schock, aber nichts Schlimmes!"
Eine vollständige Frage fällt mir kaum ein, also lege ich den Kopf schief und mustere Babs mit einem sehr fragenden Blick. "Schau mich nicht an wie ein Hündchen, das man an der Autobahn-Raststätte vergessen hat", tadelt sie mich mit einem sanften Lächeln. "Es wird sich sowieso einiges hier ändern. Darauf haben wir uns ja eingestellt. Du weißt ja, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt oder so-" Zwar hab ich keine Ahnung, was sie mit damit sagen will, aber sie wirkt entspannt genug, dass ich wirklich kurz zu hoffen wage, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche.
Barbara küsst meine Wange, schnauft nochmal tief durch und zuckt fast hilflos mit den Schultern. Fast traue ich meinen Ohren nicht, aber vor Erleichterung füllen sich meine Augen schon wieder mit Tränen, bevor mein Herz dann völlig verrückt spielt.
"Ich hab zwar lange genug gebraucht, mich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass unser Leben auf den Kopf gestellt wird, weil wir noch ein Kind bekommen", Barbara druckst herum, "Aber jetzt kommt's ja auch nicht mehr drauf an, eins mehr oder eins weniger... Es sind Zwillinge!"