Nach dem Prompt "Sonnenstrahl" vom 10.01.2021
Geschrieben am 13.02.2021 von 10:30 bis 11:00 Uhr
Beendet am selben Tag von 19:30 bis 20:00 Uhr
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EDWARD
Manchmal wird es dunkel. Ganz unverhofft, mitten an einem sonnigen Tag, während man gerade eigentlich glaubt, dass man letztendlich trotz allem mit so viel Rückhalt von lieben Menschen doch unbesiegbar ist. Das kenne ich schon, aber manchmal wird es noch dunkler als sonst. Aber wenn es einmal richtig furchtbar und vollkommen dunkel wird, dann wird es danach besonders hell. Man könnte nun philosophisch behaupten, dass nach dem düstersten aller Regentage ein besonders schöner Regenbogen am Himmel erscheint und die dafür verantwortliche Sonne die Welt in ein noch sehr viel schöneres und wundervoll strahlendes Licht taucht als sonst. In der Realität ist diese ungewohnte Helligkeit zumindest im aktuellen Fall aber eine unnatürlich grelle Leuchtstoffröhre an einer sehr fremden, kahlen Decke und im selben Moment, in dem ich verwirrt blinzele, ist mir klar, dass ich dort bin, wo ich nie wieder sein wollte.
Ganz ruhig, denke ich mir, wenigstens war es nicht das Licht am Ende des Tunnels. Ich lebe noch, das ist das Wichtigste! Und das merke ich sehr deutlich an den pochenden Kopfschmerzen. Davon abgesehen, dass mein Körper sich anfühlt, als hätte ich Muskelkater an einigen Stellen, von denen ich nicht einmal wusste, dass ein Mensch dort überhaupt Muskeln besitzt, geht es mir also eigentlich sehr gut. Zumindest würde ich das behaupten, wenn nicht langsam die Erinnerungen zurückkommen würden, bis zu dem Punkt, an dem sie eben nicht mehr da sind. Wäre eigentlich sehr beruhigend, wenn in diesen Bildern, die vor meinem inneren Auge auftauchen, nicht auch zwei kleine Mädchen involviert gewesen wären. Schlechtes Timing, denke ich mir noch. Immer zu den unmöglichsten Zeitpunkten! Aber dann fällt mir auf, dass es für solche Kurzschlüsse eigentlich gar keinen guten Zeitpunkt gibt.
In der Hoffnung, dass ich vielleicht mein Handy dabei habe und einen Anruf nach Hause tätigen kann, taste ich noch ein bisschen verdattert um mich, bekomme schließlich das rollende Nachtschränkchen zu fassen und werfe fast eine Vase samt bunter Blumen auf den Boden, weil meine Bewegungen doch noch ein bisschen ungeschickt sind. Ich rette die hübschen Gute-Besserung-Wünsche in letzter Sekunde, frage mich, wie lange in Gottes Namen ich mich bloß ausgeschlafen habe und blicke plötzlich in zwei kleine dunkle Knopfaugen, die mich mit leichtem Silberblick ein bisschen dümmlich, aber sehr liebenswert anstarren. Neben einem rosaroten kleinen Plastikpferdchen sitzt sie in nicht mehr ganz so strahlend weißem Fell, aber mit einem sehr niedlichen Kleidchen und hat wohl liebevoll ein Pflaster auf die Stirn geklebt bekommen.
"Hello, Kitty!", begrüße ich sie halblaut, schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln und hoffe, dass mich niemand hört. Die Stelle, an der neben meinem Bett in ein bisschen Entfernung noch ein anderes Bett stehen sollte, ist zumindest leer, also denke ich mir nicht viel dabei, während ich das kleine Kuschelkätzchen vom Nachtschrank angele und mich mit ein paar wehmütigen Tränchen im Augenwinkel zurück unter die Decke mummele. Ich würde gern behaupten, dass sie mich tröstet, stattdessen wird mein Gewissen immer schlechter und ich immer schuldbewusster. Eigentlich sollte ich auf meine Kinder aufpassen, anstatt ihnen das Gefühl zu geben, dass sie auf mich aufpassen müssen. In einer Mischung aus trübsinnigen Gedanken und Müdigkeit schlafe ich wieder ein. Als ich aufwache, ist es wieder stockfinster um mich herum. Nein, doch nicht. Ein kleines Nachtlicht brennt irgendwo, ich schmecke Blut und schließe entnervt wieder die Augen. Das kann doch alles nicht wahr sein, schimpfe ich ein bisschen auf mich selbst, aber eigentlich mehr auf die Umstände.
Meine plüschige Hello Kitty liegt traurig mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, als ich am nächsten Tag fast schon gegen Mittag wieder wach werde. Ich vollziehe beinahe eine akrobatische Meisterleistung, um sie wieder zu mir ins Bett zu befördern, ohne die EEG-Verkabelung zu enthaupten. "Biste nicht zu alt dafür, dein Kuscheltier mitzubringen?", fragt aus heiterem Himmel ein glatzköpfiger Mann mit buschigen Augenbrauen und dickem Klebeverband am Kopf, der ohne mein Wissen mitsamt Bett wohl über Nacht hier aufgetaucht ist. Ich starre ihn kurz verdattert an, komme aber nicht einmal mehr dazu, zu antworten, um mich zu erklären, bis es an der Tür klopft und das Zimmer von zwei kleinen Wirbelwinden gestürmt wird.
Die Jalousien sind geöffnet. Wie um mir aufzuzeigen, dass doch nicht alles auf dieser Welt dunkel geworden ist, fallen ein paar warme Sonnenstrahlen zum Fenster hinein, als wir es uns zu dritt im Bett gemütlich machen. Rechts in meinem Arm Emily, links halb auf mir drauf Elaine, die schwört, mich nie nie wieder loszulassen. Der Mann im anderen Bett sieht um einiges versöhnlicher gestimmt aus und nickt verstehend. Ich werfe ihm ein kurzes Grinsen zu, bevor er uns wohl ein bisschen Privatsphäre eingestehen möchte, indem er sich auf die andere Seite rollt. Etwas hinter meinen beiden kleinen Sonnenscheinchen hat auch Barbara das Zimmer betreten und schließt die Tür glücklicherweise wieder, bevor ich auf den Gedanken kommen könnte, dass auch Roman und Adrian dabei sind. Die Enttäuschung darüber lasse ich mir natürlich nicht anmerken. Wir spielen vom ersten Kennenlernen bis zur Hochzeit eine Liebesgeschichte zwischen dem pinkfarbenen Pony und der nicht minder rosarot angezogenen Hello Kitty, während Babs sich einen Stuhl heranzieht und geduldig darauf wartet, dass die Hochzeitsglocken läuten, bis auch sie mir einen Kuss geben darf.
Ich lasse mich dazu breitschlagen, dass Elaine ein Pflaster auf meine Stirn kleben darf. Es ist nämlich ein Zauberpflaster, das auch von innen wirkt, und alles wieder gut macht. Emily inspiziert das Elektrodennetz auf meinem Kopf und stellt fest, dass ich aussehe wie ein Alien mit klebrigen Haaren - und das, wie sie noch hinzufügt, obwohl sie noch nie ein Alien gesehen hat, sehr wohl aber schon ungewaschene Haare. Ich muss lachen und drücke die beiden fest an mich. Hello Kitty liegt geduldig auf der Bettdecke, aber viel wichtiger sind in diesem Moment meine beiden lebendigen Kuschelkätzchen, von denen die Große noch darüber nachsinniert, ob die im Krankenhaus jetzt meine Gedanken lesen können und die Kleine ihre Ärmchen um mich schlingt, den Kopf auf meine Brust legt und wie gebannt meinen Herzschlag mit deutlichen "Bumm-bumm"-Geräuschen nachahmt.
Als der Abschied naht, erinnert Barbara die Kinder daran, dass sie doch etwas vergessen haben. Kurzerhand präsentieren mir die beiden Mädels ein gemeinsam selbst gemaltes Bild, das erstaunlich treffend die gesamte Familie zeigt. Roman, dessen Haare nicht mit Buntstift angemalt sind, sondern mit grau glänzendem Bleistift coloriert wurden. Adrian, dessen Brille so groß ist, dass es fast aussieht, als hätte er zwei Köpfe. Barbara mit einem weitaus dickeren Bauch als in der Realität, darauf ein weiteres lachendes Köpfchen gezeichnet, und mich mit Sturmfrisur und offensichtlich einem Sonnenbrand im Gesicht, flankiert von den beiden Mädels, die sich selbst in wallenden Prinzessinnengewändern portraitiert haben. Etwas verwundert rutscht mir die Frage "Und wo ist die Mama?" raus. Elaine schaut mich verständnislos an und deutet ohne zu Zögern auf den Stuhl am Bett, von dem Barbara vor Schreck fast runterfällt. "Da sitzt sie doch!", erklärt sie mir.
Ich kann unser Glück kaum fassen, strahle mit der über uns stehenden, in neonfarben leuchtendem hellgelb ausgemalten Sonne um die Wette und glaube meinen eigenen Zweifeln bezüglich Licht und Dunkelheit schon selbst gar nicht mehr. Zum bittersüßen Abschied bekomme ich drei Küsschen, darf nochmal kurz kuscheln und winke schließlich mit dem Hello-Kitty-Ärmchen meinen drei Damen hinterher, wobei ich mit verstellter Stimme ein hoch piepsiges "Goodbye, Kitty!" verlauten lasse. Emily schüttelt heftig den Kopf. "Nein, falsch", tadelt sie mich und erklärt stolz in bestem Englisch, wie ich selbst ihr es nicht besser hätte beibringen können: "Get well soon, Kitty!"