Nach dem Prompt "Verblichene Fotografien" vom 24.11.2019
Geschrieben am 12.07.2020 von 22:00 bis 23:00 Uhr
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EDWARD
Für einen Frühjahrsputz ist es mittlerweile zwar fast schon zu spät im Jahr, aber manchmal überkommt es mich eben auch im Sommer. Mir geht es dabei gar nicht mal so sehr um das Saubermachen an sich, denn so ein wahnsinnig ordentlicher Mensch bin ich eigentlich gar nicht. Barbara bricht in schallendes Gelächter aus, als ich bewaffnet mit Staubwedel, Putzeimer samt Lappen und einem großen Müllsack gerade auf dem Weg zum Dachboden bin. "Machst du wieder eine Großputzaktion?", fragt sie mich amüsiert und ich nicke überaus motiviert. "Es heißt doch immer, dass man sich besser fühlt, wenn man... ein wenig Ballast abwirft und sich von alten Dingen trennt?", versuche ich scheinheilig zu erklären und Barbara nickt überaus verständnisvoll. "Falls du Hilfe beim Ausmisten brauchst", beginn sie grinsend und zwinkert mir zu, "Oder jemanden, der dieselben fünf Millionen Babyfotos auch beim fünften Mal Anschauen wahnsinnig niedlich findet und sich nicht an skurrilen Kindergartenbasteleien satt sehen kann..."
Ich muss selbst lachen und zucke verlegen mit den Schultern. "Diesmal miste ich wirklich aus, versprochen", beteuere ich. "Natürlich", Barbara rollt schmunzelnd mit den Augen, "Aber wenn du mir tatsächlich einen Gefallen tun möchtest, hinter der Vitrine links müssten einige Kisten mit meinen alten Schallplatten sein. Die könntest du mir in die Garage stellen, die wollte ich zu diesem einen Händler in der Stadt bringen, wo wir letztens waren. Wer weiß, vielleicht kriegt man dafür ja noch was." Ich nicke brav, als gäbe es keinerlei Möglichkeit, dass ich von diesem Unterfangen auf irgendeine Art und Weise abgelenkt werden könnte, "Kein Problem, das mache ich gern, wenn ich schon mal dabei bin!" Barbara zwinkert mir zu, aber mein guter Wille ist unzerstörbar. "Immerhin sollte wirklich mehr Ordnung auf dem Dachboden herrschen, wenn wir ihn nun bald vermutlich nicht mehr nur zu zweit nutzen", sinniere ich noch über unsere aktuelle Wohnsituation nach und Barbara zuckt grinsend mit den Schultern. "Viel Erfolg", wünscht sie mir und fügt fast schon gehässig noch hinzu, "Ich schau nachher mal nach dir, falls du vor lauter Schwelgen in Erinnerung die Zeit vergisst!"
Aber wenn ich mein Wort gebe, dann kann mich nichts und niemand davon abhalten, dieses Versprechen auch zu erfüllen! Das wird sie schon noch merken, da sollte sie mich nicht unterschätzen, pah! Na gut, der Fairness halbe sei gesagt: Sie hat die Situation richtig eingeschätzt. Denn als ich nach nur ein paar kurzen Momenten auf dem Dachboden das Geräusch der knarzenden Treppenstufen höre, ertappt Barbara mich auf frischer Tat komplett entrückt beim Kramen in der Vergangenheit. Ein prüfender Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich seit drei Stunden hier oben bin, mein Müllsack aber noch komplett leer und alle Utensilien zum Putzen noch komplett unbenutzt sind. "Erwischt!", meint sie grinsend und setzt sich neben mich. "Ich kann alles erklären", verteidige ich mich lachend, während ihr beim Blick in die aktuell geöffnete alte Kiste schockiert Mund offen steht. "Ich dachte wirklich, hier wären die Schallplatten drin und wollte nur kurz nachsehen, ob du nicht aus Versehen irgendwelche Schätze verkaufen würdest..." Barbara starrt noch immer in den Karton, den ich gerade heimlich durchforsten wollte, schnappt kurz nach Luft und bricht dann in schallendes Gelächter aus. "Oh mein Gott", schnauft sie und nimmt mir das alte Foto aus der Hand, das ich ihr gerade grinsend entgegen halte. "Was zur Hölle hatte ich da bitte für eine Frisur?", empört sie sich, dann mustert sie mich mit einem gefährlichen Seitenblick, "Ich kann dich nie wieder aus den Augen lassen... Du weißt um einiges zu viel und hast viel zu viele furchtbare Dinge gesehen!"
Erst spät am Abend schaffen wir den Weg nach zurück nach unten. Die Kiste, in der Barbara irgendwann einmal nicht nur Fotos von ihrer Jugend, sondern auch Postkarten, Briefe und Tagebücher von damals gepackt haben muss, hat uns keine Ruhe gelassen. Wir haben Dinge gesehen, die niemals für irgendwelche Augen bestimmt waren, Tränen gelacht und viel über alte Zeiten, Erinnerungen, Gott und die Welt geredet. Roman ist währenddessen auf dem Sofa eingeschlafen, Adrian sieht nur sehr desinteressiert noch irgendeinem Actionfilm zu, während er ihm den Bart krault. Der Ton ist über Romans Schnarchen kaum zu vernehmen, aber offensichtlich ist mit Romans Kopf in seinem Schoß für Adrian auch nicht an Aufstehen zu denken. "Ihr seid ja noch wach", stellt Barbara fest. "Teilweise", korrigiert Adrian und seufzt. Ich stehe eine Weile ganz unschuldig daneben, dann präsentiere ich auf Barbaras aufgeregtes Stichwort "Mir egal, was ihr noch vor hattet, du MUSST dir das anschauen!" hin unsere persönliche Auswahl der vielleicht peinlichsten Momente vergangener Jahrzehnte in einem Schuhkarton. Schon über das erste Bild muss Adrian so sehr lachen, dass Roman grummelnd wach wird. "Was zur-", grummelt er, bis Adrian ihm das Foto vor die Nase hält und Roman laut losprustet, "Ich korrigiere- WER zur Hölle? Das bist nicht du. Sag mir, dass das nicht du bist!"
Etwa um halb vier am Morgen gehen wir endlich alle zu Bett. "Ich hab die Schallplatten vergessen", nuschele ich verschlafen gegen Barbaras Schulter, "Tut mir leid, die stehen noch oben..." Sie lacht leise und küsst meine Wange. "Als hätte ich wirklich damit gerechnet, dass wir heute noch etwas anderes tun, als unseren Schabernack mit lauter uralten Sachen zu treiben!", neckt sie mich liebevoll. Ich öffne blinzelnd ein Auge und verteidige mich hastig, "Verschoben ist nicht aufgehoben! Ich schwöre, das nächste Mal, wenn ich nach oben gehe..." Barbara lacht und küsst mich auf den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen, bevor ich etwas verspreche, was ich sowieso nicht halten kann. "Natürlich", flüstert sie schmunzelnd gegen meine Lippen.