- Teil 2 -
Das trübe Licht der verspäteten Laterne ließ den seidenen, kupferfarbenen Einband in ihren nassen Händen schimmern. Bewundernd drehte Jade das Buch in ihren Händen. Sie konnte sich an der Gravur von den zwei verschiedenfarbigen Schlangen, die ein Oval bildeten und sich gegenseitig in den Schwanz bissen kaum satt sehen. Eine Ecke war nun etwas angestoßen, und der Buchrücken schlammig triefend vom Sturz in die große Pfütze.
Der kleine, dickliche Junge hatte ausgesehen, als ob ihm sein Kopf platzen würde, wie er so schwer keuchend um die Straßenecke geschossen kam. Jade war beim Zusammenprall mit ihm gegen ein Schaufenster gestolpert, dem Jungen dabei dieses Buch entglitten, unbemerkt.
Drei größere Jungen waren ihm allerdings auch dicht auf den Fersen gewesen. Sie johlten und trieben ihr Opfer weiter durch die verregneten Straßen.
Fast reflexartig hatte Jade nach dem Buch geschnappt, noch bevor es zu Gänze in der braunen Brühe landete. Cool, das gehört jetzt mir, grinste sie innerlich. Aber jetzt erst mal raus aus dem Regen.
Ihr Bruder Max war heute zu Hause geblieben. Zu Hause, naja, oder eben auf dem Boot. DEM Boot.
Seit ihrem letzten Abenteuer bei Ronja und Birk im Schnee, wobei Max und sie nur ihre dünnen Pyjamas getragen hatten, schniefte ihr kleiner Bruder. Seine Nase tropfte und die Augen hätten auch von Frau Mahlzahn sein können. Papa ließ ihn daher lieber einen Tag zu Hause bleiben. Vermutlich wäre Jade dann auch nicht mit dem Jungen im Regen zusammengestoßen, hätte sie wie sonst noch ihren Bruder zur Schule bringen müssen. Vermutlich würde sie dann auch nicht dieses coole Buch unter ihrem Regenmantel halten.
Und Vater war jetzt ebenfalls zu Hause, lag vermutlich schlafend auf der Couch. Endlich hatte er wieder einen Job gefunden, Nachtschicht. »Nix dolles, aber vielleicht kömma dann bald wieder ´ne richtige Bude für uns suchen.«
Jade´s Augen waren bei den Worten fast aus dem Kopf gequollen und sie musste schnell den Raum verlassen, bevor ihr Vater die Tränen sehen konnte. Niemals würde sie das zulassen! Dieses Boot war das wunderbarste, das beste zu Hause auf der Welt!
Ihr kleiner Bruder begrüßte sie mit einem heiseren Krächzen. Sie strubbelte ihm zur Antwort die Haare, kickte die Gummistiefel schnell in eine Ecke und platzierte ihre wertvolle Beute vorsichtig auf der Kommode. Erst danach flog der Rucksack den Stiefeln hinterher, der Regenmantel folgte etwas höher, verfehlte die Garderobe nur knapp.
Max zischte sie an: "Leise, Papa schläft!"
Mit einem fiebrigen Glanz in den Augen wischte sie etwas Dreck vom Buchrücken, versuchte, die Schrift zu entziffern. Doch die Nässe und der Straßenschmutz waren nicht gnädig mit dem Einband gewesen. Angestrengt starrend kniff sie die Augen zusammen. Einige Buchstaben sahen fast aus... ja es könnte etwas sein wie: »D.e Une dlich- -e. i. t.«.
Galgenmännchen! Cool!
Max drängte sich neben sie. »Waf haftn du da?«, schnupfte er sie an.
Jade lächelte: »Hat ´n Junge auf dem Schulweg verloren und ich hab´s gefunden, ist also jetzt meins.«
Sie grübelte kurz, dann strahlte sie: »Das heißt doch bestimmt Die Unendlichkeit!«
Ein breites Grinsen schob sich auf ihr Gesicht: »Max, das ist unsere Geschichte. Bestimmt! Endlich nicht mehr morgens aufstehen und die Abenteuer verlassen müssen. Komm, lass es uns ausprobieren! Unendlich heißt doch, für immer!«
Sich die wunde Nase am Ärmel reibend trottete ihr Bruder die Stiegen zu den Kojen hinab.
»Diesmal ziehen wir uns aber was anderes an«, rief Jade aufgeregt hinter ihm her und kam mit zwei Daunenjacken geeilt.
Noch einmal ließ sie die Seiten bewundernd durch die Finger gleiten, erkannte darin rote und grüne Schrift, wundervoll verzierte, seitengroße Buchstaben dazwischen. Dann schob sie es andächtig in die alte Kiste zwischen ihren Schlafplätzen.
Jade und Max schlossen ihre Augen, glitten kurz durch die Dunkelheit, bis sie eine große Welle erfasste und wie nun jeden Abend zu einem neuen Ort trug.
Diesmal setzte sie die dunkle Woge in einem finsteren Wald ab. Sturmwind fegte durch die uralten Wipfel über ihnen und in der Ferne sahen sie ein Glühen im Zickzack durch das Unterholz huschen.