- Teil 8 -
Leise donnernd schloss sich das gewaltige Tor hinter den Kindern. Der Klang hallte noch lange nach. In sanftem Dämmerlicht führte ein hoher, endlos wirkender Gang tiefer in das Gebäude. Links und rechts schienen Steinfiguren die Decke zu stützen.
Minutenlang wanderten Jade und Max an den aufgereihten Abbildern von Frauen wie Männern entlang. Hier musste auch dieses Mädchen mit der Schildkröte entlang gekommen sein.
Endlich konnten sie in der Ferne eine kleine Türe in der gegenüberliegenden Wand ausmachen. Verwundert erreichten die beiden dann letztendlich eine wirklich ziemlich kleine, hölzerne Tür. Sie reichte Jade gerade bis zur Hüfte, die zierliche Klinge befand sich auf Kniehöhe.
Kurz überlegt das Mädchen, ob sich dahinter vielleicht eine weitere, noch kleinere Türe befinden mochte, gefolgt von einer dritten und vierten. Immer etwas kleiner als die Vorherige. So wie bei Alice. Aber hier stand kein Tischchen mit irgendwelchen dämlichen Keksen, denn das war schließlich eine andere Geschichte.
Dafür sah Jade nun ein kleines, meisterlich verziertes Holzschild an der Tür, als sie sich davor hinkniete. Die Aufschrift lautete: "Meister Sekundus Minutius Hora".
So klein wie diese Tür war, so riesig war dagegen der Saal dahinter. Die hohen Decken wurde von riesigen Säulen getragen. Unzählige Kerzen warfen ihr goldenes Licht über die Szenerie. Rundum liefen weitere Galerien über ihnen an den Wänden entlang.
Stetiges Ticken und Summen, Schnurren und Klacken schien von allen Seiten zugleich auf sie einzudringen. Unmengen von Uhren befanden sich hier. Große Standuhren standen verteilt herum, kleine Wanduhren hingen neben aufwändigen Kuckucksuhren an aufgestellten Halterungen, an den Wänden und an den Säulen. Auf Tischchen standen Eieruhren, in Vitrinen lagen Taschenuhren neben Armbanduhren. In Regalen reihten unzählige Spieluhren gemeinsam mit Weckern. Es gab Sanduhren, in den vielfarbiger Sand munter rieselte. Wasseruhren, deren stetiges Tröpfeln monoton und einschläfernd wirkte. Mehrere Sonnenuhren, aus Holz, aus Stein und aus Metall konnten sie bewundern, auch wenn diese hier ohne Sonnenlicht natürlich nichts anzeigten.
Inmitten eines Uhrwalds aus Standuhren im Raum sahen sie kurz diese große, braune Herrenjacke um eine Ecke huschen. Da war dieses Mädchen, Momo also abgeblieben. Die Geschwister eilten hinter ihr her. Doch im Gewirr zwischen den Gängen und Pfaden inmitten der tickenden Standuhren verloren sie völlig die Orientierung. Jade hatte ihren Bruder wieder bei der Hand genommen. Mehrfach glaubte sie, die gleichen Uhren immer und immer wieder zu passieren.
Auch ihrem kleinen Bruder schien dies aufzufallen. In nörgelndem Tonfall setzte er an: "Ach Jade, mir tun die Füße weh. Können wir nicht eine Pause machen? Das Mädchen ist doch eh weg."
Auch Jade taten inzwischen die Füße weh, also setzten sich die beiden auf den Marmorboden, mitten zwischen all die aufragenden Uhren. Das stetige Ticken ringsum wirkte beruhigend auf die beiden.
Jade wurden gerade die Augenlider schwer, als sie eine leise Stimme aus einem etwas engeren, dunklen Gang rechts hörte.
Eine ruhige, männliche Stimme sagte gerade: "... und du darfst dort nicht reden. Hörst du, Momo? Kein Wort darf deinen Mund verlassen, wenn wir angekommen sind."
"Ja, Meister Hora."
Die zweite Stimme musste zu dem stubbeligen Mädchen gehören. Und die erste war dann der Herr dieser Uhren, jedenfalls stand sein Name auf der merkwürdigen, kleinen Holztür von eben.
Jade zog den ächzenden Max wieder hoch. Gemeinsam liefen sie hinter den beiden Stimmen her. Die Geschwister waren so darauf bedacht, den schlurfenden Schritten und dem leisen Gespräch vor ihnen zu folgen, das sie die langsame Veränderung der Umgebung erst gar nicht bemerkten.
Als es ihnen dann doch auffiel, standen sie im Dunkel unter einer riesigen, goldenen Kuppel. Sie schien den gesamten Himmel zu umspannen. Genau in der Mitte drang eine schmale, helle Lichtsäule aus einem Loch und fiel senkrecht bis zum Boden. Dort traf sie auf einen kreisrunden, schwarzen Teich.
An dessen Rand stand ein seltsam gekleideter Mann. Er trug das Mädchen Momo auf dem Arm. Silberweiße Haare hingen ihm bis auf die schmalen Schultern. Seine Jacke war goldbestickt und die samtene, blaue Kniehose endete in weißen Socken. An den Füßen trug er merkwürdig lange und spitze Schuhe mit goldenen Schnallen. Und neben ihnen saß wieder die Schildkröte am Boden.
Staunend sahen alle fünf einem langsam schwingenden Pendel aus Sternenlicht zu, das sich von der Mitte des Teichs dessen Rand näherte.
Das Mädchen, Momo, schien ganz aufgeregt und zeigte immer wieder auf den Teich.
An dessen Rand erhob sich nun langsam eine Blüte aus dem Wasser.
Jade sah genauer hin. So eine Blume hatte sie ganz bestimmt noch nie zuvor gesehen.
Sie schien aus unzähligen, strahlenden Farben zu bestehen und sie war unendlich schön. Als das Pendel über ihr schwebte, erschollen leise, sanfte Klänge über dem Teich.
Das Pendel schwang nun langsam wieder zurück, auf den gegenüberliegenden Rand zu. Mit jedem weiteren Moment verblasste die wunderschöne Blüte wieder. Immer weiter, je mehr sich das Pendel von ihr entfernte und bald versank sie wieder im schwarzen Wasser.
Doch nun erblühte eine noch viel schönere Blume auf der anderen Seite.
Jade sah dem Schauspiel gebannt zu. Die nächste Blüte war noch bunter als die erste,unendlich strahlender. Und ihre Klänge noch ungleich lieblicher in den Ohren.
Max dagegen hatte das leuchtende Amulett NURYA hervorgezogen. Es pulsierte erneut inmitten dieses Tongefunkels. Diesmal war es kein grauer Nebel, den das Amulett in sich aufsog. Nun waren es die Klänge der verblassenden Blüten selbst, inmitten des schwarzen Teiches unter der goldenen Kuppel.
Es dauerte nicht lange, dann steckte Max NURYA zufrieden grinsend unter sein Shirt. Er wollte gerade den Mund aufmachen, als ihm Jade schnell die Finger über die Lippen legte. Kein Wort, nicht reden, hatte dieser seltsame Mann zu Momo gesagt. Das galt bestimmt auch für sie beide. Wer weiß schon, was sonst passieren würde.
Also traten sie schweigend zurück ins Dunkel. Sie erreichten bald wieder den Wald aus Standuhren. Max feixte: "Wir haben es geschafft! Ich kann es spüren. Das Amulett ist randvoll mit Zeit." Er strahlte so zufrieden und selbstbewusst wie noch nie.
Sie glaubte ihm. Er hatte schließlich das goldene Kleinod von der Kindlichen Kaiserin erhalten. Also vertraute sie auch darauf, das er wusste, was er damit tat. Eigentlich seltsam, sie vertraute ihm sonst selten. Aber diesmal schien alles irgendwie anders. Max wirkte auch mit einem Mal viel älter und reifer als noch vor einem Tag.
Die Kinder nahmen einander bei den Händen, sprachen gemeinsam den Geheimen Namen aus und erwachten zu Hause in ihren Schlafkojen auf dem Hausboot.