- Teil 13 -
Das Amulett pulsierte warm unter Max Shirt. Ungläubig zog er es hervor und hielt es in der Hand. Gemeinsam starrten Jade und ihr kleiner Bruder Max auf NURYA. Die steinernen Augen der beiden, sich umschlingenden und gegenseitig in den Schwanz beißenden Schlangen pulsierten in sanftem orange.
"Max, weißt du was das heißt?", Jade war ganz aufgeregt. "Sie ruft uns! Endlich! Wir dürfen zurück nach Phantasien."
Sie schlang den Rest ihres Frühstückbrotes in einem Stück hinunter und sprang auf.
Max versuchte es seiner Schwester nachzumachen. Allerdings war er vier Jahre jünger, sein Mund entsprechend kleiner und sein Brotrest eigentlich kein Rest sondern noch fast das gesamte Frühstück.
"Wawte auw miff." Brotreste flogen quer durch die kleine Küche, doch er folgte seiner Schwester eilig die Stiegen in den Bauch des Bootes hinab.
Jade suchte ihnen beiden bereits warme Kleidung und feste Schuhe zusammen. Auch wenn sie jetzt nur zu Ihr reisen würden, man sollte immer vorsichtig und auf alles vorbereitet sein.
Eine Minute später lag der Umschlag der Kindlichen Kaiserin in der Holzkiste und die Kinder warm angezogen auf ihren Betten.
Die große, dunkle Welle erfasste sie fast augenblicklich, nahm sie mit auf ihre Reise zwischen den Welten. Sie setzte die Kinder im sternenbeschienen Halbdunkel der geöffneten Magnolienblüte ab.
Sie waren wieder da. Wirklich und leibhaftig. Glücklich und staunend blickten sich beide um. Von hier oben, auf der Spitze des Elfenbeinturms stehend, konnte man weit über die Länder Phantasiens blicken. Hier oben lag das Zentrum aller Fantasie, von hier stammten alle Gedanken, alle Ideen. Auch die aller Menschen. Auch ihre eigenen.
Ein leises, vogelähnliches Lachen riss die Geschwister aus ihrer Betrachtung. Freudig drehten sie sich um und erschraken.
Die Kindliche Kaiserin sah krank aus. Sie stand ein wenig gebeugt in ihrem weißen Seidengewand, ihre blasse Haut wirkte gelblich und unter den Augen im alterslosen Gesicht zeichneten sich dunkle Ringe ab. Überhaupt, das Gold in ihren Augen wirkte heute matt und stumpf. Die langen, windumspielten Haare schienen verfilzt und ganz und gar nicht mehr so seidig.
"Keine Angst", beruhigte sie die Kaiserin, "ich bin krank, das ist wahr. Aber das war ich auch schon bei eurem ersten Besuch."
Jade und Max sahen sie verblüfft an.
"Um mich und das ganze Land zu heilen, liest Bastian doch nun das Buch, welches ihr ihm gebracht hat. Übrigens, das habt ihr beide wirklich gut gemacht. Ich bin stolz auf euch."
"Aber bei letzten Mal hast du gar nicht krank ausgesehen", meinte Max.
Die Kaiserin lächelte ihn traurig an: "Das stimmt, mein Junge. Aber nun schreitet die Krankheit unerbittlich voran. Seht selbst." Und sie wies mit einer Geste zum Nachthimmel.
Eiskaltes Grauen erfasste die beiden Kinder, als sie es erkannten. Das hungrige, alles verzehrende Nichts breitete sich von dort aus, fraß gierig Stern um Stern und näherte sich unerbittlich auch dem Elfenbeinturm. In der Ferne sahen sie einige Ausläufer, die schon bis zum Boden reichten, die dort bereits die ferneren Länder berührten.
"Oh nein!", Jade schlug die Hand vor den Mund.
"Leider doch", erwiderte die alterslose Frau, "Es breitet sich weiter aus, und damit schreitet auch meine Krankheit voran." Traurig sah sie die beiden an.
"Aber was können wir tun? Wir müssen doch irgendwie helfen können!" Jade drückte aufgeregt die Hand ihres Bruders.
"Aber natürlich könnt ihr beiden wunderbaren Kinder helfen. Darum habe ich euch ja gerufen."
Ächzend ließ sie sich auf eine Bank niedersinken.
"Bastian liest nun in dem Buch, damit hat er den weiteren Ablauf in Gang gesetzt. Er kontrolliert dadurch jetzt das zukünftige Geschehen und damit auch Phantasiens Zukunft, meine Zukunft, unser aller Zukunft. Doch ich befürchte, er braucht dabei ein klein wenig Unterstützung."
Hoffnung breitete sich in den Gesichtern der Kinder aus.
"Was können wir tun?"
"Oh, ihr seid so großartig." Erfreut klatschte sie in ihre Hände.
"Passt gut auf, was ich nun erzähle, denn die Zeit ist wirklich knapp. Der Krieger Atrėju ist mit seinem Pferd in den Sümpfen der Traurigkeit angekommen. Da Bastian nun die Geschichte beeinflusst, kann ich nicht mehr so klar in die Zukunft blicken wie zuvor. Ich befürchte, wenn Bastian nicht fest genug an Phantasien glaubt, dann wird Atrėju in den Sümpfen scheitern. Ihr beiden müsst dies verhindern."
"Ja aber wie?" Jade sah die Kaiserin fragend an.
"Das weiß ich nicht, liebes Kind. Vermutlich fehlt nur eine Kleinigkeit, eine helfende Hand zur rechten Zeit, oder etwas Mut, wenn alles verloren scheint." Sie sah die Geschwister an. "Ich bin mir sicher, dass ihr dies schaffen könnt. Ihr habt in der Vergangenheit schon schwerere Aufgaben bewältigt."
Max wurde bei dem Lob ein wenig rot. Trotzdem fragte er: "Und wo ist dieser Sumpf, in dem wir dem Krieger helfen sollen? Kannst du uns dahin bringen?"
Die Kaiserin schüttelte leicht mit dem Kopf.
"Nein, das kann ich nicht mehr. Jedenfalls nicht direkt. Aber wenn euch mein alter Freund Karl in seinem Buchladen eine Geschichte mit einem Sumpf heraussucht, dann hilft euch dies hier bei der weiteren Reise."
Sie tippte das Amulett NURYA kurz mit einem Finger an. Ein grüner Schimmer erfüllte nun die beiden Schlangen.
"Boah!" Max war überrascht. "Das kann ich nicht so schnell."
Die Frau lächelte matt, ging aber nicht weiter darauf ein.
"Die Macht in NURYA wird euch zu den richtigen Sümpfen führen, so lange ihr eurem Boot einen beliebigen Sumpf als Reisezeit gebt und Max bei der Reise das Amulett trägt. Und jetzt eilt euch bitte. Es ist alles gesagt. Nun ist die Zeit zum Handeln gekommen."
Die Kinder nickten, winkten der Kindlichen Kaiserin zum Abschied, wünschten ihr alles Gute und sprachen dann gemeinsam den Geheimen Namen aus.
-
Die Traube von Glöckchen klingelte wild über ihnen, als Jade keuchend die Tür der Buchhandlung aufriss.
"Gemach, die Klinke brauche ich noch!", erschall es aus den Tiefen des Buchladens. Zögernd traten die Kinder ein. Dies war das Reich der Geschichten. Überall standen und lagen die wertvollen Schätze.
"Und die Tür zu, es ist Dezember, nicht Juni!", erscholl wieder die
mürrische Stimme im Hintergrund.
Das war Herr Koreander, der Inhaber dieser Buchhandlung, ein alter Freund der Kindlichen Kaiserin und seit einigen Wochen wohl auch so etwas wie der Freund der beiden Geschwister.
"Wir sind es, Herr Koreander", rief Jade den Wolken aus Pfeifenrauch entgegen, die in der staubigen Luft über einem abgewetzten Ledersessel aufstiegen.
"Hmm?" Mit einem knurrenden Brummen erhob sich der alte Mann mit Bulldoggengesicht, schob sich die goldgefasste Brille wieder zurecht. Als er die beiden erkannte, hellte sich seine Miene auf.
"Sapperlot, da seid ihr ja wieder. Braucht ihr meine Hilfe? Wie geht es der Kaiserin?" In den ewig-grimmigen Blick stahl sich ein jugendhaftes Funkeln.
"Ja, Herr Koreander", antwortete Jade. "Die Kindliche Kaiserin schickt uns wirklich zu ihnen, um Hilfe zu erbitten. Und ihr geht es gar nicht gut."
Der alte Mann strich sich bestürzt über seine geblümte Weste.
"Nicht gut, sagst du? Wie meinst du das?"
"Sie sieht krank aus", schaltete sich Max ein.
Und Jade ergänzte: "Sie sagte, der Junge liest nun das Buch, die Geschichte geht weiter, damit sie wieder gesund werden kann."
"Dann wird bald alles wieder gut", seufzte Herr Koreander. "Aber warum schickt die Goldäugige Gebieterin dann euch beide zu mir?"
Jade erklärte es ihm.
"Einen Sumpf? Ihr braucht eine Geschichte mit einem Sumpf?" Ratlosigkeit machte sich im Bulldoggengesicht breit. "Ich glaube, so etwas habe ich nicht. Aber lasst mich mal einen Moment nachdenken."
Mit einem Stöhnen fiel er zurück in seinen Sessel. Als er die Pfeife erneut in Gang gesetzt hatte, schloss er genießerisch die Augen.
Nach einigen Augenblicken begann er leise zu brummen. "Hmmm - Hmmm Hmmmm. Hmmmm - Hmmm - Hmmmm? Hmm - Hmmm!!"
Dann riss er die Augen auf und sprang in die Höhe.
"Ich habs!", rief er triumphierend aus. Damit verschwand er im Hintergrund. Sie hörten ihn Schubladen öffnen und Papier rascheln.
Ein schmales Buch in den Händen schwenkend kam er strahlend zu ihnen zurück.
"Das ist es! 08/15!"
"Das ist WAS?", fragte Jade ihn zweifelnd.
"Ausgabe 08/15, oder auf Deutsch, der Erstdruck, erschienen am 15.8. Und dazu handsigniert." Stolz lächelte er. "Ein alter Freund aus den Staaten hatte es mir vor einigen Jahren geschickt. Eigentlich lese ich solche Dinge nicht, aber heute hat es immerhin beträchtlichen Sammlerwert."
"Aha?"
"R.L.Stine gilt heute als der erfolgreichste Autor von Jugend-Gruselgeschichten. Dies hier ist noch eines der früheren Werke seiner Goosebumps-Reihe. Der Titel lautet The Werewolf of Fever Swamp."
Max sah ihn ratlos an, und auch Jade hatte nur die Hälfte verstanden.
"Jaja", meinte Herr Koreander, "es ist halt ein Orginal, daher in englischer Sprache verfasst. Aber für eure Zwecke müsste er reichen. Schließlich wollt ihr ja nicht in den Fiebersumpf selbst."
Die Kinder starrten ihn nur zweifelnd an.
Er ging summend zu seinem uralten Kopierer, erstellte ihnen einige Abzüge der benötigten Seiten und reichte sie zwinkernd an Jade weiter.
"Und sie sind sicher, dass das funktioniert?", wollte sie von ihm wissen.
"Warum denn nicht, hat es doch vorher auch schon. Das Amulett soll euch doch an den richtigen Platz bringen, habt ihr mir erzählt."
Die beiden waren noch immer skeptisch, vertrauten aber auf die Erfahrung des alten Buchhändlers.
Also bedankten sie sich artig und verließen das Geschäft eilig in Richtung ihres Hausbootes.