-Teil 6-
»Ach herjemine!«
Der alte Mann mit dem Bulldoggengesicht betrachtete Jade und Max über den Rand seiner goldgefassten Brille, wie sie so tropfnass vom Novemberregen wortlos vor ihm standen. »Nicht noch mehr von der Sorte. Ich habe dem anderen Balg gestern schon gesagt, ich mag keine Kinder! Haut ab!«
Die Geschwister standen schweigend da, starrten ungläubig auf den bösen, alten Mann in seinem abgewetzten Sessel. Er trug einen schwarzen Anzug, der im trüben Licht staubig wirkte. Sein Bauch wurde von einer geblümten Weste zusammengehalten.
War er wirklich der Richtige? Hatte die Kindliche Kaiserin diesen schrecklichen Mann gemeint? Auf der Ladentür stand jedenfalls sein Name, also musste er es wohl sein.
Kaum hatten sie vor wenigen Minuten das Antiquariat unter dem Gebimmel einer Traube Messingglöckchen betreten, erklang hinter Regalen und Tischen voller Bücher diese barsche Stimme durch die verqualmte, staubige Luft. Mürrisch verlangte dort jemand zu wissen, was sie suchten. Also waren sie dem Klang der Stimme gefolgt. Jetzt standen sie hier und wussten nicht mehr weiter.
»Was ist jetzt? Braucht ihr einen Plan, um den Ausgang zu finden? Hier gibt es keine Kinderbücher. Ich will euch hier nicht haben. Der Letzte gestern hat mich sogar bestohlen.« Der Mann zog an seiner gebogenen Pfeife, die ihm aus dem schiefen Mundwinkel hing. »Oder hat dieser Bastian euch gar zu mir geschickt, um noch mehr zu stehlen?« Sein Blick wurde lauernd. Die Geschwister schwiegen weiter.
»Also gut«, bei diesen Worten klappte er sein Buch zu und zog sich ächzend an einer Armlehne in die Höhe, »ich bringe euch jetzt zur Tür. Und wagt es nicht, auch nur eines meiner Bücher mit euren dreckigen, nassen und verschmierten Fingern zu berühren!«
Da fasste sich Jade endlich ein Herz. »Wegen dem Jungen von gestern sind wir hier. Irgendwie jedenfalls.«
Der alte Mann hob erwartungsvoll eine Augenbraue.
Max trat mutig vor. Mit einer schnellen Bewegung zog er NURYA unter seinem Shirt hervor.
Das Amulett und den Umschlag der Kaiserin hatten sie nämlich beim Aufwachen noch immer bei sich getragen. Ein kleiner Beweis, dass nicht nur alles erträumt war.
Max hob das Amulett mit den zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen hoch. Der alte Mann blieb stehen, starrte es ungläubig an. Mit einer runzligen Hand griff er sich an den fast kahlen Kopf und zog an einem der Haarbüschel, die ihm noch über den Ohren verblieben waren. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er den Anhänger an. »Woher habt ihr das?« Sein Tonfall klang verwundert, ungläubig.
Jade zog vorsichtig den Umschlag der Kaiserin aus ihrem Regenmantel. »Also, wir haben gestern ein Buch gefunden.«
Nun klang der alte Mann gar nicht mehr so abweisend, als er fragte: »Und darauf war zufällig dieses Symbol?« Er deutete auf NURYA, das Max noch immer in der Hand hielt.
Jade nickte. »Der Junge gestern hat es verloren.«
»Aha, und dann?«
Jade begann, dem Mann von ihrem besonderen, magischen Boot zu erzählen. Er sah sie sehr skeptisch an und schob sie einen weiteren Schritt Richtung Ausgang.
Doch als sie dann berichtete, wie sie mithilfe des gefundenen Buches nach Phantasien gereist, und dort nach einer abenteuerlichen Reise bis zum Elfenbeinturm gelangten, wurde sein Gesicht immer freundlicher.
Ein verklärter Blick trat in sein Gesicht, als sie von der Audienz in der Magnolienblüte und der Kindlichen Kaiserin sprach.
»Und dann gab sie uns diesen Umschlag und sagte, wir sollen Herrn Koreander aufsuchen, ihm dies hier zeigen«, schloss sie ihre Erzählung.
Sie reichte dem alten Mann den Umschlag. Er nahm ihn mit zittrigen Fingern entgegen, zog das Blatt vorsichtig heraus. Immer und immer wieder las er dieses eine Wort, welches in geschwungenen, verschnörkelten Lettern darauf geschrieben stand. Den Namen, den er selbst vor so vielen Jahren der Kindlichen Kaiserin gegeben hatte. Tränen traten in seine faltigen Augen.
Er zückte ein Streichholz und steckte sich seine Pfeife, die bei ihrer Erzählung verloschen war, erneut an.
Nach dem er einige Rauchkringel nachdenklich gen Decke geschickt hatte, nahm er den Faden gefasst wieder auf. »Und ich soll euch nun helfen, die verlorenen Zeit zurückzugewinnen.« Er schwieg einen Moment nachdenklich, dann sahen die Kinder ein Funkeln in den alten Augen aufblitzen.
»Oh ja! Das könnte funktionieren. Wartet kurz auf mich.«
Er verschwand zwischen den Regalen und Bücherstapeln. Sie hörten ein Rumpeln und Scharren, so als ob schwere Dinge über den Boden geschoben wurden. Dann kehrte er mit einem Lächeln im Bulldoggengesicht zurück. In seinen Händen trug er stolz ein vergilbtes, altes Buch. Auf dem Bild darauf konnte man eine Zeichnung von Häusern und Türmen erkennen. Davor ein strubbeliges Kind in einer zu großen Jacke, und eine Schildkröte.
»Handsignierte Erstausgabe.« Herr Koreander schien wie verwandelt. Von dem alten Griesgram zu Beginn war nichts mehr übrig. »Ich kopiere euch schnell die entsprechenden Seiten.« Damit war er schon wieder verschwunden. Im Hintergrund summte ein Kopierer mehrfach, dann kam er mit einigen Blättern in den Händen zurück.
»Hier, nehmt dies.« Er reichte Jade die schlechten schwarz/weiß Kopien aus dem Buch. »Ihr müsst dort aber vorsichtig sein. Meidet alles, was grau, farblos und kalt erscheint. Sucht einfach nach dem Mädchen. Ihr werdet sie schon erkennen. Nur bleibt immer im Bereich der Farben, hört ihr, geht nie in die grauen Bereiche. Bleibt immer dort, wo es bunt ist! Das Mädchen wird euch helfen, die verlorene Zeit zu finden! Sie heißt Momo.« Er nickte ihnen zu. "Und denkt dran, immer nur dort, wo es bunt ist!"
Sie dankte ihm, verließen den Laden dann zügig und liefen eilig durch den Regen zurück zum Hausboot, die wertvollen Blätter unter dem Regenmantel dicht an die Brust gepresst.