- Teil 11 -
Die beiden Kinder schlossen ihre Augen, warteten auf die gewaltige Welle, die sie wieder ins Reich der Geschichten bringen würde. Doch heute fühlte es sich anders an.
Es begann nicht so wie sonst, mit diesem schwerelosen, kribbelnden Gefühl. Diesmal war es eher ein gieriger Sog, der sie beide erbarmungslos in die Höhe zog. Doch dann kam die bekannte dunkle Welle und nahm sie mit, entriss sie dem verschlingen Sog und spülte sie ins Traumreich.
Sie stand vor ihnen, genau wie beim ersten Mal. Diese wunderschöne, alterslose Frau mit den goldenen Augen. Ihr Haar wehte leicht im Nachtwind und im schmale Silberreif auf der Stirn der Kindlichen Kaiserin funkelte und glitzerte das Sternenlicht wie Edelsteine.
Sie klatsche bei ihrem Anblick erfreut in die schlanken Hände. Wieder erklang dieses eigentümliche, vogelähnliche Lachen aus ihrem Mund.
Dann zerriss ein Blitz den Himmel über der Magnolienblüte. Lastkähne wurden vom grellen Licht unter giftig-gelben Wolken erhellt. Überall liefen und kletterten Ratten über die riesigen Gerüste und Container, Lagerhallen und Boote.
Jade und Max zuckten zusammen. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, dann standen sie alle wieder auf der Spitze des Elfenbeinturms. Unter ihnen breitete sich die nächtliche Landschaft Phantasíens endlos in alle Richtungen aus.
Das eigentümliche Lachen der Kaiserin erstarb.
Nun wirkte die Frau eher traurig, als sie ihnen ihre leere Hand auffordernd entgegenstreckte. Max verstand die Geste sofort und zog das Amulett unter seinem Shirt hervor.
Beim seinem ersten Schritt zur Kindlichen Kaiserin zuckte erneut ein Blitz durch die düstere Wolkendecke. Die Frau stieß einen leisen Schrei aus, fiel auf die Knie. Mit tränenerfüllten Augen blickte sie zum riesigen, dunklen Loch, droben am Himmel.
Jade stockte der Atem. Das finstere, alles verschlingende Nichts dort war gewachsen. Es schien nun auch viel näher als beim letzten Mal. Hungrig belauerte es die Welt unter sich, bereit, alles zu verschlingen.
Die Kinder liefen zu der Frau, wollten ihr aufhelfen. Doch die Kaiserin schüttelte nur den Kopf. "Es ist fast zu spät. Wir müssen uns nun eilen." Sie sah Max in die Augen: "Du großer, starker Junge hast so viel erlangt. Hoffen wir, dass es ausreicht, um uns alle zu retten. Gib mir nun bitte NURYA zurück."
Irgendwo in der Ferne schlug eine Turmuhr drei Mal.
Jade sah noch, wie Max die Hand mit dem Amulett hob. Dann zerriss ein erneuter Blitz die Wolken. Donnernd schlug er genau in der Mitte der elfenbeinernen Blüte ein. Das Licht blendete das Mädchen, brannte das Bild der zerberstenden Magnolienblüte in ihre Netzhaut.
Gequält schloss Jade ihre Augen. Ohrenbetäubendes Klingeln schien ihren Kopf zu sprengen.
Sie spürte noch, wie sie fiel. Der Wind zerrte an ihren Haaren, an der Kleidung. Sie trudelte in der Schwerelosigkeit, drehte sich haltlos in der Luft.
Dann schlug sie auf.
Sand. Da war Sand unter den tastenden Händen. Warmer, körniger Sand. Und Steine. Sie lebte noch. Lag auf dem Rücken. Irgendetwas stach sie gerade unangenehm in die linke Pobacke.
Stöhnend wälzte sie sich auf die Seite, ertastete weitere, spitze Steinchen. Dann öffnete sie versuchsweise ihre Augen.
Noch immer tanzten grelle Lichter in ihrer Sicht, doch es besserte sich.
Sie lag auf einem riesigen Haufen aus Sand und Steinen. Es war noch immer Nacht. Noch immer hingen diese bedrohlichen Wolken am Himmel und noch immer belauerte sie dort oben dieses lichtfressende, hungrige Etwas. Auch die Blitze waren noch da, zuckten jetzt aber nur in weiter Ferne am Horizont über die Landschaft.
Einige Schritte neben ihr erhob sich Max stöhnend aus dem Sand. Verwirrt blickte sich ihr Bruder um, klopfte den Sand von seiner Hose. Dann sah er sie, kam mit einem erfreutes Grinsen zu ihr gehumpelt.
Staunend blickte er sich um. "Das ist ja eine Wüste."
Sie folgte seinem Blick. Er hatte recht. Sie waren mitten in einer Wüste gelandet. Genauer gesagt, auf einer riesigen, roten Sanddüne. Um sie herum standen und lagen überall Felstafeln verteilt, dazwischen erhoben sich endlose Berge aus weiterem Sand.
Ein Dutzend Schritte vor ihnen stand die Kindliche Kaiserin. Sie blickte konzentriert ins Tal. Ein Junge schritt dort auf ein steinernes Tor zwischen zwei riesige, komischen Figuren zu.
"Wer ist das?", wollte Max von der Kaiserin wissen, als sie neben ihr angelangt waren.
"Ihr seht dort Atréju auf seiner Mission." Die Frau wirkte so müde und traurig.
Der dunkelhaarige Junge unten im Tal zögerte und blieb stehen. Er blickte die zwei gigantischen Statuen abwechselnd an.
Jade betrachtete sie genauer. Sie wirkten wie aus flüssigem Silber. Die Gesichter mit den halb geöffneten Augen waren menschenähnlich. Doch sie hatten die Vorderpranken von Löwen, ihre Hinterleiber war wie die von Stieren geformt und auf dem Rücken trugen beide Adlerschwingen. Und sie waren wirklich riesig.
Nun ging der Junge langsam weiter, trat zwischen die Figuren, dann durch das steinerne Tor.
"Wir müssen jetzt schnell handeln." Die Kindliche Kaiserin wandte sich an Max.
Schweigend gab ihr der Junge das Amulett.
"Atréju wird gleich vor das Spiegeltor treten. Dort muss er zum ersten Mal Bastian in die Augen blicken. Aber dazu muss Bastian unbedingt das Buch lesen. Andernfalls findet Atréju dort nur die endlose, gierige Leere und wird womöglich von ihr aufgesogen."
Jade wurde wieder rot.
Die Kaiserin fuhr fort: "Dazu nutzen nun wir die von euch gesammelte Zeit. Ich bringe uns genau dorthin zurück, wo die Geschichte zerbrochen ist. Und dann werdet ihr sie wieder heilen!"
Bunter Lichter umspielten die schmale Gestalt in einem Gewand aus weißer Seide, als sie NURYA hoch über ihren Kopf hob. Herrliche Töne und Musik erklangen in der Luft, es war ein Tongefunkel wie bei den wunderschönen Zeitblumen.
Die Lichter breitete sich aus, hüllte die drei Gestalten ein, verdichteten sich zu einer undurchdringlichen Wand und hoben sie unter wunderbarsten Klängen in die Höhe.
Nach einer endlosen Zeit, oder vielleicht auch nur einem kurzen Moment war es vorbei.
Die drei standen erneut unter nächtlichem Sternenhimmel in der geöffneten Blüte auf der Spitze des Elfenbeinturms. Von den Rissen und der Zerstörung durch das Gewitter war hier nichts mehr zu erkennen.
"Nun liegt es an euch." Die Kinder wandten sich zur Kaiserin um, die sie erwartungsvoll ansah. "Ihr müsst nun in eure Welt zurückkehren. Der Junge Bastian wird sehr bald schon von drei wirklich unerzogenen Kindern durch die Stadt gejagt. Es ist jetzt an euch, dafür zu sorgen, dass er sein Buch nicht verliert, damit er es bald lesen kann."
Sie blickte zu Max. "Behalte du mein Amulett NURYA noch eine Weile. Wenn ich eure Hilfe brauche werde ich euch damit rufen."
Die Kinder sahen sie erschrocken an. Jade sprach aus, was sie beide dachten: "Sehen wir dich denn wieder?"
Wieder erklang dieses leise, vogelähnliche Lachen. "Ach ihr lieben Kinder, natürlich sehen wir uns wieder. Ich habe da so ein Gefühl, das es noch lange nicht vorbei ist. Ihr habt euer Schicksal mit dem unsrigen verbunden. Vermutlich wird Phantasíen niemals mehr gänzlich ohne euch sein können. Und jetzt eilt euch, sonst geht das Buch vielleicht erneut verloren."
Sie winkte beiden zum Abschied, als die Kinder sich an den Händen nahmen und gemeinsam den Geheimen Namen aussprachen. Langsam verblassten sie in der Traumwelt und erwachten in ihren Schlafkojen auf dem alten Hausboot.