- Teil 14 -
„Und was jetzt?“, Max sah seine Schwester fragend an.
„Jetzt legen wir die kopierten Seiten vom Buchhändler in die Kiste und reisen in den Sumpf. Du musst dabei nur dieses grüne Leuchten am Amulett andingsen, es halt zum Leuchten bringen. Dann sollten wir schon im richtigen Sumpf landen.“ Jade sah kritisch zu ihm hinüber. „Du weißt doch, wie das geht?“
„Klar, bin doch kein Baby mehr.“, entgegnete Max entrüstet. Gerade so, als ob sie gefragt hätte, ob er noch immer am Daumen lutschen würde. Naja, manchmal tat es dies auch, aber nur wenn bestimmt keiner hinsah. Abends, im Dunkeln, im Bett. Aber nur ganz selten!
Kaum waren die beiden Geschwister aus dem alten Buchladen auf ihr Hausboot zurückgekehrt und ihre dicke Winterkleidung losgeworden, saßen sie schon auf ihren Schlafkojen. Jade hielt die Din A4 Blätter in den Händen, die leicht nach Tonerfarbe rochen. Max zog das Amulett NURYA unter dem Pulli hervor. Er ließ es kurz auf seiner Brust aufleuchten, um seine Worte zu untermauern.
Jade nickte: „Na gut, dann lass es uns jetzt tun. Wir wollen in den Sumpf, den Krieger Atrėju finden. So wie sie es gesagt hat.“
Das Mädchen stand auf, legte die Blätter in die alte Holzkiste zwischen ihren Kojen. Dann sah sie ihren Bruder grübelnd an.
„Ist es in einem Sumpf eigentlich warm?“, überlegte sie laut, bevor sie neuerlich aufstand. Kurz darauf kam sie mit Gummistiefeln und den gelben Regenjacken wieder die Stiege hinab. So ausgestattet konnten sie die Reise endlich antreten.
Sie legten sich beide hin und schlossen die Augen.
Das heißt, Jade linste immer wieder kritisch zwischen den halb geschlossenen Lidern zu ihrem Bruder hinüber. Sie wollte nur sichergehen, dass Max nicht vergaß, das grüne Leuchten aufrecht zu halten. Immerhin, bisher machte er es ziemlich gut. Doch ein wenig fürchtete sie sich trotzdem. Sie wollte auf keinen Fall in einer Gruselgeschichte und in einem Fiebersumpf mit einem Werwolf landen.
Dann kam die dunkle Woge des Schlafes, nahm die Geschwister mit sich. Die Welle hob sie empor, trug sie durch die Finsternis zwischen den Welten. Das Leuchten aus dem Amulett hüllte sie dabei tröstend ein, ließ die Schaumkronen in giftigem blau-grün schimmern. Jade ließ sich treiben und schweben, genoss den Moment der Schwerelosigkeit.
So war es jedes Mal, wenn sie durch den Traum in eine Geschichte reisten. Sie wurden emporgehoben, flogen und drifteten durch den Raum, bis die Welle sie sanft auf ihrem gewünschten Ziel absetzte.
Doch diesmal war es anders. Plötzlich flackerte das Licht um sie herum. Einmal, zweimal. Es ging kurz aus, dann war es wieder da. Indessen schien es jetzt schwächer, wirkte nun eher wie eine grüne Kerze.
Bei jedem Flackern erschien es Jade, als ob sie zwischen unterschiedlichen Wirklichkeiten wechselten. Sie wurden mit einem Male hin und her gerissen, sahen gleichzeitig tausende verschiedener Welten unter sich und neben sich, überall um sich herum.
Aus dem schwerelosen Treiben auf der Woge war ein wirbelndes Reißen geworden. Gerade so, als ob sie in einem Fluss in den Stromschnellen trieben, kurz vor einem tosenden Wasserfall.
Um sich herum erblickte Jade Wüstenwelten, unendliche Gebirge aus Eis, Urwälder, Feuersäulen, Wolkenburgen, schwebende Bäume und endlose Höhlen. Sie war unter Wasser und wurden gleichzeitig auf einen Sandsturm zugeschoben. Unter ihr war es Nacht und Tag im selben Augenblick. Alles geschah zugleich, wirbelte wild durcheinander. Es wirkte wie eine riesige Collage aus ungezählten Welten, auf die die Welle nun ziellos zusteuerte. Zusammen mit den beiden Kindern. Mit jedem Flackern des grünen Leuchtens wechselte das Ziel unter ihnen.
Dann erlosch das Licht des Amuletts zur Gänze.
Entsetzt riss das Mädchen die Augen auf, sah zu ihrem Bruder hinüber. Max trudelte kopfüber in der Leere über einem Wellenkamm. Das Amulett war ihm von Hals gerutscht. Er hatte die Kette gerade noch gegriffen, bevor sie endgültig in der Finsternis verschwinden konnte. Das grüne Leuchten von NURYA war dabei verloschen. Hektisch zog sich der Junge die Kette wieder über seinen Kopf, hielt sie zur Sicherheit mit beiden Händen fest umklammert. Er kniff die Augen fest zusammen, konzentrierte sich.
Da erstrahlte auch das grüne Leuchten wieder.
Die graue Welt kurz unter ihren Füßen flackerte noch einmal kurz, dann fielen die Beide mit einem lauten Platsch in einen schlammigen, schwarzen Tümpel. Übelkeitserregende Gestank hüllte die Kinder ein. Die dunkle Brandung über ihnen verschwand und ließ sie allein zurück.