- Teil 3 -
»Schau mal!«, Jade zupfte ihrem Bruder am Ärmel, »das muss ein Irrlicht sein.« Sie wies in die Richtung des verschwindenden Glühens.
Max zog die Nase hoch und sah müde an ihrem ausgestreckten Arm entlang: »Ich seh nix. Ist doch eh viel zu dunkel hier.«
Da kam mit einem »Whoosh« ein Schatten aus den wankenden Baumwipfeln geglitten und zog knapp über ihren Köpfen dahin. Im Sternenlicht erkannte Jade lederne Schwingen, wie von einer Fledermaus. Einer riesigen Fledermaus. Darauf eine zu groß geratene, pelzige Raupe, die mit winzigen, rosa Händchen die Zügel hielt. Ein Schnalzen erklang, mit dem der Reiter sein Flugtier antrieb.
Die Kinder stoppten. Trotz der stürmischen Nacht war hier ganz schön viel los, in diesem Wald. Überall knackten Zweige, raschelte es im Unterholz. Dazu knarrten und wankten die uralten Bäume, rauschte der Sturmwind in den knorrigen Zweigen. Ein richtiger, verwunschener Wald. Hoffentlich gab es hier diesmal keine Hexe.
Und wieder erklang ein schnalzendes Geräusch in der Nacht, diesmal aus einer anderen Richtung. Eine daumengroße Gestalt mit einem roten Zylinder kam peitschenschwingend auf einer Schnecke durch das Laub geprescht. Jade hielt bei dem Anblick den Atem an. Selbst Max´ ferngesteuertes Auto war nicht so schnell wie diese Schnecke. Es roch ein wenig nach verbrannten Blättern, als auch dieser Reiter sie passierte.
Irre!
Aber wo wollten die alle bloß so eilig hin?
An einer Lichtung hielten die Kinder an und blickten staunend nach oben. Unzählige Sterne leuchteten am Nachthimmel. Und nicht nur das. Sie konnten mehrere Planeten ausmachen. Einer blau leuchtend, ein anderer in giftigem Gelb und mit weißen Ringen umgeben. Ein Weiterer flackerte rötlich und schien sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen. Das Weltall schien hier so riesig!
Und zwischen alledem lag etwas Finsteres.
Mitten über ihnen am Himmel war ein Fleck, an dem kein einziger Stern leuchtete. Ja, es schien, als ob diese dunkle, hungrige Stelle im All jegliches Licht aus der Umgebung sogar verschlang.
»Das ist ein Schwarzes Loch!«, meinte Max.
Jade kannte sich damit nicht aus, nickte nur, während sie staunend weiterging.
Dann trat sie in eine brackige Pfütze, versank bis zur Hüfte darin. Reflexartig griff sie nach einem Zweig und hielt sich fest. Ihr Bruder machte einen entsetzten Satz zur Seite, als das stinkende Wasser in alle Richtungen spritzte.
»Mist!« Jade versuchte, sich wieder aus dem Loch zu ziehen, musste aber feststellen, das ihr Fuß irgendwo festhing. »Na toll!«, schimpfte sie, schob den Ärmel der Daunenjacke hoch und griff in das Wasser.
»Was is los?«, wollte Max wissen.
»Ich hänge fest. Glaub´ da is ne dämliche Wurzel.« Sie tastete im Wasser umher. »Irgendwas hängt jedenfalls an meinem Fuß.«
Inzwischen war die ganze Vorderseite der Jacke nass und dreckig von ihren Verrenkungen. »Und ich komm da nicht ran, Scheiße!«
Langsam wurde sie panisch und riss wiederholt an ihrem Bein, drehte sich hektisch im Wasser in alle Richtungen.
Max sah sie ängstlich an und wimmerte: »Jade, da ist was im Wald!«
Das Knarren und Rauschen der Bäume wurde von einem Bersten und Knacken übertönt, dass immer lauter wurde. Und es hielt auf sie zu.
Max stürzte zu seiner Schwester, riss an ihrer Jacke, um sie aus dem Loch zu ziehen. Vergeblich.
Das Bersten von Baumstämmen übertönte die panischen Schreie der Kinder.
Mit einem Quietschen kam ein hausgroßes, steinernes Rad direkt vor ihnen zum Stehen.
»Na wen haben wir den da?«, erklang eine tiefe, aber gutmütig knarrende Stimme weit oben. Das steinerne Rad wackelte, dann kam ein riesiger, ebenfalls steinerner Fuß dahinter hervor. Der zugehörige Riese beugte sich hinab und betrachtete die beiden freundlich. »Ich schätze, ihr könnt etwas Hilfe gebrauchen.«
Die Kinder zitterten. Max vor Angst, Jade zusätzlich aufgrund der Nässe und Kälte. Eine steinerne Hand griff nach Jade und ein Finger löste ihren Fuß sanft aus dem Wasserloch. Noch immer sprachen beide kein Wort.
»Wisst ihr was, hier im Wald ist es doch viel zu gefährlich für euch. Wenn ihr wollt, nehme ich euch ein Stück mit.«
Die beiden starrten den Riesen nur aus angstgeweiteten Augen an.
»Ach herrje, ich esse nur Steine, ihr braucht wirklich keine Angst zu haben. Wollt ihr nun mit?«
Jade und Max nickten stumm und der Riese nahm sie vorsichtig in die Höhe. Er setzte sie auf dem Lenker seines (Jade erkannte es erst jetzt) steinernen Fahrrads ab. Dann stieg er ebenfalls auf und fuhr an.
Eine Zeit lang rumpelten sie schweigend durch den Wald, nur vom Lärm der berstenden Bäume unter den riesigen Rädern begleitet.
Als sie am nächsten Tag eine grasbedeckte Ebene erreichten, begann der Riese zu erzählen.
Er sei ein Bote und auf dem Weg zur Kindlichen Kaiserin. Denn in seiner fernen Heimat, dem Gängeberg, geschahen seltsame Dinge. Er wies bei den Worten mit der Hand zur hungrigen Finsternis im All über ihnen.
»Das da, das ist jetzt auch im Berg. Zuerst nur ganz klein, aber es wird größer. Und wenn man es berührt, dann fehlt einem plötzlich die Hand. Oder der Fuß, wenn man hinein tritt. Es tut nicht weh, aber der Körperteil ist einfach weg.
Die Felsenbeißer im Berg haben sich entschlossen, der Kaiserin davon zu erzählen. Also bin ich nun als Bote auf dem Weg.«