- Teil 10 -
Das Boot schaukelte immer stärker im aufziehenden Sturm.
Aber wo war jetzt dieser dämliche Umschlag mit dem Zettel abgeblieben? Ohne ihn konnten sie nur schwer zurück zur Kindlichen Kaiserin gelangen. Jade überlegte fieberhaft, wo sie das Schreiben zum letzten Mal gesehen hatte. Im Buchladen, bei Herr Koreander vermutlich. Dort hatte sie es dann in die Tasche ihres Regenmantels...
Ihr sank das Herz in Hose. Das Schreiben mit dem geheimen Namen der Kindlichen Kaiserin befand sich bestimmt noch in der Seitentasche ihres Regenmantels. Des gelben Regenmantels.
Den wiederum hatte sie vor ihrer Traumreise zu dem komischen Mädchen Momo und den wunderschönen Blumen oben an den Kleiderhaken hinter der Tür gehängt. Innen. Wie immer. Tropfnass vermutlich.
Jade wusste, wie ihr Vater es hasste, wenn sie nasse Sachen einfach an der Garderobe ihres Bootes aufhängte. Grummelnd räumte er sie dann hinter ihr weg. Genauer gesagt, nach draußen unter das Vordach, wo sie dann abtropfen und trocknen konnten. Vermutlich auch ihren geliebten, gelben Ölmantel.
Genau so einer, wie eben vor dem Fenster über den Schnee getrieben war.
Panisch rannte sie die Stiegen zum Wohnbereich hoch.
Scheiße!
An der Garderobe hing wirklich kein Regenmantel. Ihr Bruder rief noch etwas hoch, doch sie beachtete ihn gar nicht. Wenn der blöde Zettel weg war, oh nein.
Sie sollte es sich besser nicht ausmalen. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie dann noch rechtzeitig zu der Kaiserin zurückgelangen sollten. Womöglich hatte sie jetzt gerade die ganze Welt dem Untergang geweiht? Oder eher, alle Welten, alle Geschichten?
Das finstere Ding hinter den Wolken würde jetzt immer weiter wachsen. Alle Menschen, ihr Vater und sie selbst würden irgendwann von diesem schrecklichen, hungrigen Loch am Himmel gefressen werden.
Jade riss panisch die Tür auf, stürzte auf das Deck.
Hier hing auch kein Mantel am Haken unter dem Vordach!
Wohin hatte der dämliche Wind ihn eben geblasen? vom Fenster aus nach links, den Kai entlang.
Nur mit Hausschlappen, Jogginghose und Wollpulli bekleidet sprang sie auf den schmalen Steg, der das schaukelnde Hausboot mit dem Kai verband.
Sie blickte sich um. Wo war das verfluchte Ding hin?
Sie konnte nirgends etwas annähernd gelbes erkennen.
Der eiskalte, braune Schneematsch drang sofort durch ihre Filzschlappen, wurde von den Wollsocken aufgesogen.
Hinter ihr trat Max auf das Deck. "Jade, spinnst du? Komm zurück! Biiittää!" Da war er wieder, dieser nervige Quengelton, den sie so verabscheute. Sie blendete ihren Bruder gedanklich aus und stapfte weiter, den Kai entlang.
Der Sturmwind blies den einsetzenden Regen gegen ihren Rücken, ihre Beine. Er heulte in den hoch aufragenden Lastenkrähnen, ließ die Wimpel, Fahnen und Flaggen an den Booten laut knattern und blies schaumige Gischt durch den Hafen. Jade wurden die blonden Haare ins Gesicht geweht. Salziger Schaum klebte darin. Die Hose flatterte bereits nass an ihren Beinen, Regenwasser lief wie Eisschauer den Rücken hinab.
Ihr was dies jetzt alles gerade egal. Sie musste den dämlichen Regenmantel wiederfinden, bevor ihn der Wind ins Wasser trieb. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.
Was war das da hinten?!! Eine Plastiktüte? Oder der Mantel?
An einem Poller flatterte etwas Gelbes im Wind. Konnte das ihr Mantel sein? Ein Funke Hoffnung glomm in Jade auf.
Sie rannte darauf zu, den aufspritzenden Eismatsch ignorierend. Gerade als sie nach dem nassen und dreckigen Mantel greifen wollte, zerriss ein greller Blitz den Himmel. Der Donner ließ den Boden unter ihr beben.
Jade erschrak, zuckte zusammen. Ihre Fingerspitzen streiften nur die gelbe Kapuze und rissen das Kleidungsstück vom Poller los. Der Wind nahm es sofort wieder mit sich, trieb es weiter den Kai entlang.
NEIN! Das durfte jetzt doch nicht wahr sein!
Jade sprang fluchend wieder hinterher. Irgendwo blieb ihr linker Filzpantoffel hängen, riss den triefenden Socken gleich mit vom Fuß. Ihr war es gleich.
An einem gemauerten Vorsprung blieb das blöde Kleidungsstück erneut hängen, flatterte frech vor einer dunklen, vergitterten Öffnung. Atemlos sprang sie darauf zu, landete bäuchlings im Masch, griff nach dem Mantel und schloss fest die Faust um ihn.
Endlich!
Kurz blieb sie noch im Matsch hocken, rang keuchend nach Atem und rieb sich die aufgeschlagenen Knie. Immerhin hatte sie im Buchladen den Reißverschluss der Tasche geistesgegenwärtig verschlossen. Der Umschlag sollte also noch trocken sein.
Sie richtete sich wieder auf, bemerkte zum ersten Mal ihren nackten Fuß und fröstelte. Jetzt bloß wieder zurück ins Warme.
Aus dem Gitter neben ihr erklang ein vielstimmiges Quicken.
Ratten, da kamen wirklich Ratten zwischen den Stäben raus. Sie liefen ihr über die Füße, quollen regelrecht über den Steinboden. Was machten die denn jetzt hier?
Aber Jade wollte nur schnell wieder zurück zum Boot, ignorierte die Tiere und marschierte los.
Nach einem Dutzend Schritten auf dem Kai fiel ihr erneut auf, wie menschenleer hier alles schien. Nirgends war jemand zu sehen, nur diese Ratten waren plötzlich überall. Wo waren denn alle abgeblieben? Sonst waren hier doch immer irgendwo Menschen.
Wieder blitzte es in den schwefelgelben Wolken über ihr auf. Weiter hinten im Hafen beleuchtete der Blitz ... zwei ... Berge?
Was war das jetzt schon wieder? Ein fernes Schnaufen drang an ihre Ohren.
Die Formen dort kamen ihr irgendwie bekannt vor. Moment, war das etwa ... LUMMERLAND? Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht, blinzelte gegen das Wasser.
Nein, da war doch nichts zu sehen. Nur dieses hungrige, finstere Loch hinter den giftigen Wolken war noch immer da. Sie konnte es spüren.
Ein weißer Schemen glitt hoch oben durch den Himmel. Schlangengleich wand er sich durch den Regen.
Und das? Jade glaube, etwas riesiges, glitzernd-pelzig-weißes, mit gefährlichem Maul in den Wolken verschwinden zu sehen. Oder sie hatte es sich nur eingebildet, wie auch die Insel. Bei der wogenden Regenwand konnte man nicht wirklich weit sehen.
Es wurde Zeit, zurück zum Boot zu kommen. Der Sturm blies ihr nun kräftig entgegen. Jade musste mit vollem Gewicht sich gegen die Böen und das Wasser stemmen. Der Regenmantel flatterte in ihrer Hand, wollte sich wieder befreien. Sie griff ihn fester.
Nur noch ein paar Meter, dann hatte sie es geschafft. Die Ratten wuselten nun überall zwischen ihren Füße umher. Sie setzte jeden Schritt mit Vorsicht, um kein Tier zu verletzen. Barfuß, wie sie war, würde ein Biss höllisch schmerzen.
Max stand noch immer wartend unter dem Vordach, blickte ihr stoisch entgegen. Wortlos schritt sie an ihm vorbei in die helle Wärme. Jade suchte sich einige Handtücher aus dem Wandschrank und ging ins Bad. Dort warf sie den elenden Regenmantel übers Klo und riss sie sich die nassen Klamotten vom Körper.
Nach 15 Minuten unter der heißen Dusche, in denen Max immer wieder an die Tür getrommelt und laut nach ihr gerufen hatte, kehrte wieder etwas wie Leben in ihre Hände und Füße zurück. Nackt trat sie zum Regenmantel und nahm das dreckige Kleidungsstück hoch. Das Boot schaukelte immer stärker, es stieß mehrmals heftig rumpelnd gegen die Gummipuffer am Kai.
Jade öffnete den Reißverschluss der Seitentasche, zog den Umschlag heraus und seufzte erleichtert.
Er war trocken geblieben, der Zettel mit den Namen war noch da.
Hinter der Tür erklang wieder ihr kleiner Bruder. Schrill und hoch rief er schluchzend: "Da ist ein riesiger, weißer Wal. Draußen! Der rammt uns immer wieder!"
Aus einer Ecke sprang eine Ratte auf den Badezimmerboden, lief ihr über die Füße und verschwand wieder in einem Wandschrank.
Es wurde wirklich Zeit, die Kindliche Kaiserin erneut zu besuchen!