- Teil 7 -
»Mir ist kalt, Jade!« Max blickte sich kritisch mit hochgezogenen Schultern um, dann nörgelte er weiter: »Und der Mann hat gesagt, wir sollen das Bunte suchen. Hier ist aber alles nur weiß und schwarz. Und das Licht ist auch ganz komisch.«
»Ich weiß. Wir werden diese Momo und die Zeit bestimmt gleich finden, vertrau mir.« Besänftigend strich Jade ihrem kleinen Bruder über die braunen Haare.
Mit Hilfe der kopierten Buchseiten von Herrn Koreander und ihrem magischen Boot waren die Geschwister in eine seltsame, stille Welt gelangt. Etwas verloren blickten sich die beiden in den engen Gassen zwischen den altertümlichen, weißen Häusern mit ihren schwarzen Fenstern um.
In diesem Moment bogen hinter ihnen mehrere Männer in grauen Anzügen um eine Häuserecke. Auf ihren Köpfen graue, runde Hüte, trugen alle ebenso graue Aktentaschen bei sich. Wie eine Parade stapften sie in Reihen zu viert nebeneinander durch die enge Gasse auf die Kinder zu. Und es wurden immer mehr. Jeder hielt eine graue Zigarre in der Hand, sog immer wieder gierig daran. Reihe um Reihe bogen weitere graue Männern um die Ecke. Sie schoben eine Welle aus Kälte vor sich her.
»LAUF!«
Jade riss ihren Bruder an der Hand mit, sprintete in eine Seitengasse. Direkt danach bog sie schon in die nächste ab. Bloß weg von diesen Typen. Wahllos wechselte sie an jeder Abzweigung die Richtung, lediglich darauf bedacht, sich von der grauen Flut zu entfernen.
Unmerklich stieg der Weg an. Auch wenn sie die Entscheidungen über ihre Richtungswechsel nicht bewusst traf, so führte sie der Weg durch die verlassenen Gassen stetig aufwärts.
Irgendwann stolperten sie atemlos in eine schmale Gasse und hielten kurz zum Verschnaufen an. Hier sahen sie auch zum ersten Mal wieder Farben. Die umliegenden Häuser und Türmchen waren anders als alle bisherigen. Sie schienen aus Glas zu bestehen, funkelten und glitzerten im seltsamen Licht wie Perlmutt.
Neben einem merkwürdigen Denkmal, einem riesigen Ei auf einem schwarzen Block, stand ein barfüßiges Mädchen. Ein ziemlich seltsames Mädchen, fand Jade. Ihre schwarzen Haare waren völlig verfilzt, sie standen in alle Richtungen ab. Eine Hose konnte Jade nicht erkennen, aber dafür eine viel zu große, braune Herrenjacke mit bunten Flicken. Diese reichte dem Mädchen wie ein Mantel bis zum Boden, die Ärmel waren mehrfach umgeschlagen. Sie schien nicht viel größer als Max und sie folgte langsam einer Schildkröte mit kleinen Trippelschritten.
Mit einem Mal hielt das seltsame Gespann mitten auf dem Weg an.
Auf dem Rücken der Schildkröte bildeten sich leuchtende Buchstaben. Das Mädchen betrachtete sie grübelnd, murmelte vor sich hin und lachte dann auf.
Beide, das Mädchen und die Schildkröte drehten sich um und folgten dem Weg weiter bergauf, nun allerdings rückwärts gehend.
Jade schüttelte den Kopf. Echt schräg, was hatte das wohl zu bedeuten?
Die Geschwister blicken sich um. Abgesehen von diesem Mädchen und der Schildkröte schien alles wie ausgestorben. Über ihnen hing ein altertümliches Straßenschild. »Niemalsgasse« stand dort in goldenen Lettern auf marmornem Grund. Zum ersten Mal fiel Jade auf, dass auch mit ihren Schatten hier etwas nicht stimmte. Sie fielen in verschiedene Richtungen. Ebenfalls seltsam, aber zu vernachlässigen.
Wieder zog ihnen ein kalter Hauch über den Nacken. Zwei der grauen Männer bogen hinter ihnen um die Ecke.
Jade und Max liefen ohne zu überlegen los in die Gasse, die direkt auf den Hügel hinauf und zu einem großen Haus auf der Kuppe führte. Immer mehr dieser grauen Männer traten hinter ihnen aus den Seitenstraßen. Sie formierten sich sofort wieder zu dieser schrecklichen, im Gleichschritt marschierenden Masse.
Die Kinder rannten bis zu der Stelle, an der sie eben noch das Mädchen mit der Schildkröte gesehen hatten. Hier änderte sich etwas an der Umgebung. Sie eilten weiter bergauf, hingen aber doch auf der Stelle fest, kamen keinen Schritt weiter. Es war, als ob ihnen ein starker Wind entgegen blies, sie am Weiterkommen hinderte. Oder als ob ihre Füße gar nicht mehr den Boden berühren würden.
Immer näher rückte die bedrohliche graue Masse vom hinten an sie heran. Die Kinder mühten sich ab, traten aber doch nur auf der Stelle. Verdammt!
»Rückwärts!« Max drehte sich plötzlich um und entfernte sich von ihr. Jade sah ihm verständnislos zu, wie er auf einmal weiter hügelaufwärts ging, dann begriff sie. Rückwärtslaufen! So kam man hier weiter. Das Mädchen hatte es ihnen doch vorgemacht!
Sie schritt nun zügig rückwärts aus und hatte Max bald wieder eingeholt.
Mit einem Mal blieb Ihr Bruder wieder stehen. Er blickte sie überrascht an. Dann zog er das Amulett der Kindlichen Kaiserin hervor und hielt es staunend in seinen Händen. NURYA pulsierte schwach orange. Es schien Fäden von Licht aus der sie umgebenden Luft zu sammeln und sie in sich aufzusaugen.
»Es ist warm!« Max blickte staunend zu seiner Schwester.
»Ich glaube, wir sammeln gerade Zeit«, meinte Jade altklug, auch wenn sie eigentlich nicht genau wusste, was hier vor sich ging.
Fasziniert blickten beide Kinder auf den Anhänger aus zwei sich umwindenden Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen. Immer mehr von diesen orangen Nebelfäden kamen aus der Luft heran und wurden in das Amulett gezogen.
»Da!« Max wies hügelabwärts auf die grauen Männer, die ihnen folgten. Sobald einer von ihnen die magische Rückwärts-Grenze überschritt, löste er sich zuerst in grauen Nebel auf, der dann zu orangen Fäden wurde.
Das Amulett sog sie auf.
»Die Typen müssen aus Zeit bestehen«, staunte Jade.
Natürlich waren die Vorgänge auch beim grauen Heer nicht unbemerkt geblieben und so stoppten es seinen Vormarsch.
Schweigend stand es auf der Straße und unzählige Augen starrten regungslos zu den Kindern hinauf. Der Strom der orangen Fäden verebbte.
»Das war aber noch nicht genug.« Max schüttelte NURYA verzagt, »es ist wieder kalt.«
»Dann müssen wir weiter.«
Zusammen erklommen sie die letzten Meter bis zur Kuppe des Hügels und blieben staunend stehen. Vor ihnen endete die Straße an einem Haus mit gewaltigen, grünen Torflügeln. Von hier oben konnten sie die ganze Stadt überblicken. Das Haus erschien ihnen wie der höchste Gipfel eines Berges aus Häusern.
Über der Tür hing ein weiteres Schild, von einem weißen Einhorn getragen. »Nirgendhaus« war dort zu lesen. Als sie sich zögernd näherten, schwangen die mächtigen, verzierten Flügel einladend auf.
Sie traten ein.