- Teil 12 -
Jade und Max streckten sich ausgiebig in ihren Schlafkojen. Sie waren wieder zu Hause.
Über ihnen im Wohnbereich des Hausbootes erscholl plötzlich ein Rumpeln und Klirren. Erschrocken sprangen beide auf. Jade nahm geistesgegenwärtig den Umschlag der Kaiserin aus der Truhe und versteckte ihn. Sie hörten oben die überraschte Stimme ihres Vaters.
Gemeinsam stiegen sie die steile Treppe hinauf. Ihr Vater kniete vor der kleinen Eckcouch und fegte die Überreste einer zerborstenen Tasse zusammen. Verwirrt blickte er seine beide Kinder an.
"Was ist dir denn passiert?", wollte Jade von ihm wissen.
Der Vater richtete sich auf, strich sich die Haare zurück. "Wo kommt ihr denn jetzt her?" Er beförderte die Keramiksplitter zu einigen nassen, verklumpten Küchentüchern in eine Mülltüte und sah Max an. "Du hast doch gerade noch neben mir mit der Teetasse auf der Couch gesessen. Ich schwöre, ich hab die Augen nur ganz kurz zugehabt. Bei dem Knall war ich sofort wieder wach. Deine Tasse lag plötzlich am Boden, alles war nass und du weg."
Er rieb sich verwirrt die Augen. "Diese verdammten Nachtschichten machen mich echt fertig." Er strubbelte Max über die braunen Haare. "Aber deine Nase sieht schon wieder viel besser aus. Ist gar nicht mehr so rot wie eben und niesen musst du ja auch nicht mehr andauern." Er blickte zu Jade. "Und du bist doch eben Richtung Schule marschiert, junge Frau. Was machst du jetzt wieder hier?" Er rieb sich noch einmal die Augen. "Hab dich gar nicht reinkommen gehört."
Die Kinder starrten ihn an. Was war heute für ein Tag? Wie spät war es? Sie wussten nur, sie mussten das Buch jetzt unbedingt dem dicken Jungen zurückbringen.
Jade stürmte die Treppe wieder runter, zog ihre Unterwäscheschublade auf. Sie nahm das dort verborgene kupferfarbene Buch mit der Gravur von den zwei verschiedenfarbigen Schlangen, die ein Oval bildeten und sich gegenseitig in den Schwanz bissen hervor. Sorgfältig wickelte sie es in ein Shirt, dann ging sie wieder hoch.
"Ich hatte noch etwas wichtiges vergessen." Sie versuchte das eingewickelte Buch vor ihrem Vater zu verbergen.
Der schien sogar erfreut über die Entwicklung: "Wenn das so ist, dann kannst du Max ja doch noch in die Schule bringen. Seine Erkältung ist offensichtlich auf wundersame Weise verschwunden. Vergesst nur nicht, eure nassen Regensachen dann später draußen unter dem Vordach aufzuhängen." Er hob die Beine auf die Couch. "Ich koch uns dann später das Abendessen und stell den den Topf in die Kombüse. Aber jetzt mal los! Viel Spaß in der Schule!"
"Tschüss, Papa!"
Jade und Max stürmten durch die verregnete Stadt. Das Buch hatte das Mädchen sich wieder unter ihren Regenmantel gesteckt. Die Morgendämmerung wollte die Nacht nicht zur Gänze freigeben. Die Laternen spiegelten sich in den Pfützen auf ihrem Weg aus dem Hafen hinaus.
Als sie um die Ecke am kleinen Buchladen bogen, sahen sie beide eine andere Jade, die einem dicken Jungen wieder aufhalf und dabei ein Buch ungeschickt hinter ihrem Rücken verbarg.
Verblüfft blieben sie beide stehen.
"Das bist ja du, da hinten!" Max riss die Augen auf. "Und ich hab´s doch gesagt. Du hast ihm das Buch geklaut!"
Der dicke Junge dort vorne lief schon weiter, verfolgt von drei anderen, größeren Kindern. Die andere Jade blickte der Gruppe kurz nach, verbarg dann schnell das Buch unter dem gelben Regenmantel.
"Wir müssen dem Jungen hinterher!"
Max lief als erster los, sprang über einige Pfützen auf dem Weg. Jade riss sich vom Anblick ihres anderen Ichs los und sprintete ihrem Bruder hinterher in die Seitenstraße. Als sie sich dabei der anderen Jade vor dem Buchladen näherte, geschah etwas Seltsames. Ihr anderes Ich wurde mit einem Mal durchsichtig, löste sich in Nebelwölkchen auf und war einfach verschwunden.
Die großen Jungen hatten den dicklichen Bastian vor einigen großen Müllcontainern eingeholt und im Schatten der Häuser umstellt. Max stand unsicher ein Dutzend Schritte von dem Geschehen entfernt. Jade schritt energisch an ihm vorbei und stieß einen der größeren Jungen fauchend zur Seite.
"Lasst ihn SOFORT in Ruhe!"
Der Angesprochene drehten sich langsam um und blickte sie abschätzig an. "Verpiss dich, Mädchen. Oder willst du auch gleich zum Fettklops in die gute Stube?" Er stieß Jade grob vor die Brust, sodass sie einige Schritte rückwärts stolperte. Sofort sprang sie wieder hoch und auf den Jungen zu. Ein der anderen stellte Jade dabei einen Fuß in den Weg und der Erste ergriff das stolpernde Mädchen sofort im Schwitzkasten. Sie tobte, trat um sich und versuchte sich zu befreien, doch der Junge war stärker und hielt sie weiter eisern unten.
"IHR HÖRT JETZT SOFORT AUF!"
Eine tiefe, donnernde Stimme brandete wie eine Sturzflut durch die schmale Straße. Der Griff um Jades Hals löste sich augenblicklich. Die drei großen Jungen taumelten rückwärts, stolperten und fielen auf ihre Hosenböden.
Alle starrten den riesigen, großen Kerl mit orange-leuchtenden Augen an, der sich drohend über ihnen aufgebaut hatte und einen grell leuchtenden Anhänger in den Händen hielt.
Mit angsterfülltem Keuchen sprangen sie auf die Füße.
"Scheiße, bloß weg hier!"
"Ey was ist das?"
"Egal! Halt´s Maul und lauf!"
Und sie liefen wie Hasen.
Ein grollendes Lachen verfolgte die flüchtenden Jungen, bis sie aus der Gasse verschwunden waren.
Jade stand zögernd auf, sah zu dem riesigen Kerl hinüber. Statt ihm stand dort aber jetzt nur ihr kleiner Bruder Max, der sein Amulett NURYA in den Händen hielt. Die Augen der beiden Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen, leuchteten schwach orange. So wie eben noch die Augen des Riesen.
"Das war lustig!" Er grinste sie frech an.
Sie stubbelte ihm die Haare, dann halfen sie dem dicklichen Jungen gemeinsam auf.
"Ich glaube, du hast das hier eben verloren." Jade reichte ihm das Buch zurück. Der Junge machte große Augen, wurde krebsrot und bedankte sich stammend immer wieder bei ihr.
Jade wünschte ihm augenzwinkernd noch viel Spaß beim Lesen. Dann nahmen sich die beiden Geschwister an ihren Händen, drehten sich einfach um und gingen. Den verblüfften Bastian ließen sie einfach dort stehen. Er würde selbst schon wissen, was nun zu tun war.
Zurück auf ihrem Boot zogen sich beide zum ersten Mal ihre Regensachen draußen, unter dem Vordach aus. Dabei fielen die roten Perlen von Mutters Korallenkette aus Jades Pullover. Sie kullerten überall über das Deck.
"Mist!", schimpfte sie. Die muss der Blödmann eben zerrissen haben.
"Warum hast du die überhaupt an?", wollte Max wissen, "die war doch von Mama."
"Eben, sonst hab ich nichts mehr von ihr." Traurig hob sie eine der Perlen auf.
"Ich glaub, ich kann die blöde Kette gleich mit meinem Amulett wieder reparieren", meinte Max. "Damit kann ich ein paar echt coole Tricks machen."
Gemeinsam sammelten sie die roten Kugeln auf dem nassen Deck wieder ein.
Am Ende hatten sie alle wieder beisammen. Zum Glück!
Die Kinder seufzten. Sie hatten es wirklich geschafft. Das Buch war nun wieder bei Bastian, er konnte jetzt darin lesen und die Welt, oder eher die Welten damit hoffentlich retten.
Das hungrige, allesverschlingende Loch am Himmel war auch nicht mehr da und alles in allem hatten sie sich ganz gut geschlagen.
Aber die Kindliche Kaiserin hatte Max das Amulett NURYA und Jade dem Umschlag mit ihrem Geheimen Namen überlassen.
Sie hatte auch zu ihnen gesagt, dass es noch nicht vorbei wäre und sie sich melden würde, wenn sie wieder ihre Hilfe benötigte.
Wer wusste schon, wann das sein würde? Wir werden sehen.
-Ende Buch 1-