- Teil 4 -
Den Kindern begannen am Morgen recht schnell die Mägen zu knurren. Ihre letzte Mahlzeit lag fast einen ganzen Tag und mehr als eine Welt hinter ihnen, ihr Pausenbrot in der Schule.
Als sie mit dem Felsenbeißer über die Ebenen in Richtung des Sonnenaufgangs fuhren, bemerkten sie immer wieder kleine, verlassene Siedlungen. Menschen, oder wer immer dort lebte, konnten sie von ihren luftigen Aussichtsposten keine erkennen. Tiere allerdings liefen frei zwischen den Hütten umher, hielten aber respektvollen Abstand zu ihrem riesigen Reisegefährten. Hühner, Schweine, Gänse und Kühe, wie auch zu Hause auf dem Land, allerdings in allen Farben des Regenbogens. Aber sie erblickten mindestens doppelt so viele Tiere, die man nur als fantastisch bezeichnen konnte.
Riesige Raupen mit Flügeln, die in zu groß geratenen Bienenkörben lebten, Hunde mit bunt schillernden Schuppen, die sie laut verbellten. Im nächsten Dorf sahen sie kreischende Vögel, die anstatt mit Flügeln mit sechs Beinen ausgestattet waren. Es gab grüne Zwergkühe, die nach dem grasen in die Lüfte glitten und ihre Fladen gezielt über Kornfeldern abwarfen, Ziegen, die mit ihren Hörnern … Ach, es war so viel und soll ein anderes Mal erzählt werden.
Am dritten Dorf ohne Bewohner baten die Kinder den Felsenbeißer, -der übrigens Pjörnrachzark hieß, Jade nannte ihn in Gedanken nur Felsi-, anzuhalten. Sie wollten sich nun etwas zu essen suchen. Auch hier waren keine Bewohner zu sehen, nur einige geflügelte Schafe, die über eine Gruppe gestreifter, äsende Hunde auf der Wiese wachte.
Also bedienten sie sich am noch warmen Brot von einer Fensterbank. Dazu brachen sie sich Stücke von einem Rad Käse, dass in einem halb offenen Schuppen zwischen Dutzenden weiterer unbewacht in einem Regal lag.
Als sie kurze Zeit später kauend zu dem Felsenbeißer und seinem Fahrrad zurückkehrten, sah dieser sie verwundert an. »Habt ihr euch die Sachen dort einfach genommen?«
»Natürlich«, sagte Jade zwischen zwei Bissen vom Brot, »das lag ja einfach rum. Wir hätten auch freundlich gefragt, aber niemand war da.«
»Natürlich war da niemand. Die Bewohner haben Angst vor mir. Ich komme schließlich von weit her, sie kennen mich nicht. Oder seht ihr hier irgendwo Berge?« Er antwortete sich selbst. »Nein, natürlich nicht. Also kann es hier auch keine Felsenbeißer geben. Hier lebt nichts, das so groß ist wie ich. Und daher haben die Leute Angst vor mir.
Sie flüchten, sobald sie nur das leichteste Beben im Boden spüren. Spätestens wenn sie mich erblicken, laufen sie schreiend weg.«
Er sah ein wenig traurig drein. »Daher leben wir auch sehr zurückgezogen. Die meisten anderen Wesen meiden uns, dabei sind wir friedlich. Ich jedenfalls hätte gerne mehr Freunde.«
Jade versuchte, ihn zu trösten: »Wir sind doch nun deine Freunde. Max und ich haben keine Angst mehr vor dir. Es macht richtig Spaß, hier oben auf dem Lenker zu sitzen und mit dir durch das Land zu fahren.«
Der riesige Felsenbeißer fuhr nun wieder besser gelaunt an. Als sie sich dem nächsten Dorf rumpelnd näherten, zeigte er ihnen in der Ferne eine Gruppe dunkler Schatten, die panisch in die ihnen entgegen gesetzte Richtung flüchteten. Die Dorfbewohner. Daher waren die Dörfer also leer.
Trotzdem mussten sie auf der weiteren Reise ab und an essen, um nicht zu verhungern. Der Felsenbeißer bot ihnen an, einige Edelsteine, die ihm lästigerweise aus dem Körper wuchsen, als Tausch gegen die Lebensmittel zu hinterlegen. Er bezeichnete sie den staunenden Kindern gegenüber als bunte Stein-Akne.
So fuhren sie einige Tage durch das Land und bewunderten die ständig wechselnde Landschaft. Sie passierten eine spiegelnde Eisebene, die von endlosen, tiefen Rissen durchzogen war. Zum Glück waren die Räder so riesig und sie glitten einfach rutschend darüber hinweg. Dahinter folgte eine Wüste, in der es ständig Sand aus donnernden und blitzenden Wolkenbergen zu regnen schien und der überall in ihre Kleider kroch.
Und überall flüchteten die Bewohner bei ihrem Anblick.
In einem wunderbar blumig riechenden Sumpf überfiel Prörnrachzark unerträglicher Heißhunger.
Es war inzwischen der achte Tag ihrer Reise durch das Land und der Felsenbeißer zog unvermittelt die Bremse. Er setzte die Kinder auf den Boden, entschuldigte sich. Dann verschlang er sein steinernes Fahrrad innerhalb von Minuten. Später hob er sie mit einem schlechten Gewissen auf seine Schulter und stampfte zu Fuß weiter.
Von nun an verlief ihre Reise wesentlich langsamer.
Am elften Tag erreichten sie ein belebtes Labyrinth aus Hecken. Zum ersten Mal ergriffen die Wesen bei ihrem Anblick nicht gleich die Flucht.
Sie konnten eine Gruppe bunter Einhörner bei ihrem Spiel beobachten, sahen Meerjungfrauen aus Wasserläufen zu ihnen aufblicken. Und vielleicht erspähten sie auch aus der Ferne den Vogel Phönix in seinem Nest, auf einem riesigen Baum.
Der Felsenbeißer setzte seine Füße nun vorsichtig, um keine Hecke oder Weg, keinen Bachlauf oder wunderschön angelegte Blumenrabatte zu zerstören.
Am Horizont sahen sie eine weiße Nadel in den Himmel aufragen. Prörnrachzark erklärte, dies wäre der Turm der Kindlichen Kaiserin. Ihr Palast, in dem der Hofstaat lebte, die Kämmerer, Gaukler, Seiltänzer, Musiker, Berater, und was eine Kaiserin noch so alles benötigte. Und es war der Mittelpunkt von ganz Phantasien.
Am zwölften Tag erreichten sie ihr Ziel. Der Turm selbst war aus Elfenbein, er schraubte sich endlos vor ihnen in die Höhe. Und es gab sogar ein Tor in der Größe eines Felsenbeißers.
Eine Gruppe formell gekleideter Bediensteter nahm sie steif in Empfang.
Der erschöpfte Felsenbeißer wurde weitergeführt, während ein einzelnes, verblüffendes Wesen die Kinder huldvoll begrüßte.
Ein alter Zentaur, vorne von ebenholzfarbener Haut und mit langem weißen Haupt- und Barthaar, hinten gestreift wie ein Zebra, hieß sie im Namen der Kindlichen Kaiserin willkommen.
Er trug einen großen Hut aus Binsen und um seinen Hals lag ein Amulett, das aus zwei Schlangen bestand, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten.
Er bat sie, ihm eilig zu folgen und erklärte, die Kaiserin warte schon seit Tagen auf die Ankunft der beiden Kinder. Er, Caíron, war ausgesandt worden, sie umgehend nach ihrer Ankunft zur Herrscherin zu geleiten.
Verwundert folgten sie ihm.