- Teil 5 -
Mit erhobenem Haupt führte Caíron sie durch prächtige weiße Korridore. Livrierte Diener, uniformierte Hofbeamte und unzählige Gäste liefen, flogen, schlängelten oder rollten, je nach ihrer Art, durch die breiten Gänge des Elfenbeinturms. Die beiden Kinder konnten sich an den wundersamen Wesen nicht sattsehen, welche sich alle friedlich nebeneinander her bewegten.
Alle paar Meter waren Türen unterschiedlichster Größe und Beschaffenheit in die Wände eingelassen. Runde Türen aus Eichenholz, die den Kindern allerhöchstens bis zu den Knien reichten; Türen aus Papier, durch die hindurch sie bewegte Schatten erkennen konnten. Einmal gab es statt einer Tür einen Erdhaufen, durch den man sich graben musste, um in den Raum dahinter zu gelangen. Es gab Türen aus Stein, die groß genug für einen Felsenbeißer waren und deren Griffe sich auf Baumwipfelhöhe über ihren Köpfen befanden; Türen in Dreiecksform, die anstatt Griffen mit Kurbeln ausgestattet waren; Türen, die aus Seifenblasen zu bestehen schienen; fingergroße Löcher statt einer Tür, durch die ein leises Summen in den Gang drang. Und auch eine Tür, die nur aus einem glitzernden Wasservorhang bestand, der beständig rauschend im Boden versank und im einfallenden Licht von einem kleinen Regenbogen gekrönt wurde.
Vor einer einfachen, hellbraunen Schiebetür blieb der alte Zentaur stehen. »Ihr habt wahrscheinlich Hunger und möchtet euch vielleicht auch nach der Reise waschen. In diesen Gemächern ist alles für euch vorbereitet worden. Ich erwarte dann in Kürze, euch hier vor der Türe wieder anzutreffen. Bitte eilt, denn es ist dringend und wichtig. Die Kaiserin erwartet euch bereits seit Tagen.«
Zögernd betraten Jade und Max den angewiesenen Raum und blickten sich enttäuscht um.
Hier schien alles so gewöhnlich. Hatte Jade insgeheim auf weitere Wunder gehofft war sie nun ein wenig enttäuscht. In der Ecke der kleinen, fensterlosen Kammer stand eine hölzerne Kommode mit einer eingelassenen Waschschüssel. Daneben über einem Stuhl hingen ordentlich gefalten zwei weiße Hosen und Hemden in jeweils ihren Größen.
Auf einem Tisch in der Ecke stand ein silbernes Tablett, angerichtet mit duftendem Brot und appetitlichen Früchten.
Die Kinder wuschen sich, kleideten sich in die sauberen Gewänder und stillten ihren Hunger.
Kaum war der letzte Bissen verschwunden, klopfte Caíron bereits von draussen an die Tür.
»Ihr werdet erwartet.«
Ihr weiterer Weg führte nun durch schmalere Gänge, über gewundene, oft freischwebende Treppen, und beständig in die Höhe. Einmal stiegen sie in einen Korb, der unter lautem Kreischen von einer Gruppe geflügelter Affen in die Lüfte getragen wurde.
Nach einer schier endlosen Reise durch den Turm passierten sie einen Saal, in dem eine große Zahl unterschiedlichster Wesen in lauten Diskussionen versammelt war.
Caíron führte sie rasch vorbei und weiter in eine stille, dunkle Kammer. Er bat sie, die Augen zu schließen und kurz zu warten.
Folgsam gehorchten ihm die Kinder.
Einen Moment später forderte sie eine andere, sanfte Stimme auf, ihre Augen wieder zu öffnen.
Finsternis.
»Wo bin ich?«, fragte Jade in die Dunkelheit hinein.
Ein leichter Windhauch strich über ihr Gesicht.
Wind?
Leises, vogelähnliches Lachen erklang vor ihnen: »Ihr seid hier im Zentrum aller Geschichten angelangt.«
Jade verstand nicht. Max klammerte sich an ihre Hand: «Ich seh nix, Jade. Das ist doof hier!«
Da leuchtete ein einzelner Stern am schwarzen Firmament auf, kurz darauf ein folgte zweiter; dann nach und nach immer mehr, bis der Himmel von ihnen übersät war. Eine schmale Mondsichel lugte schüchtern hinter einer Wolke hervor.
Nun erst erkannte Jade, dass sie und Max in einer riesigen, offenen Blüte standen. So eine, wie früher am Baum hinter Omas Haus im Frühling blühten. Magi..., Magonile... oder so.
Dies war die Spitze des riesigen Elfenbeinturms.
Staunend sahen sie sich um. Von hier oben konnte man über das ganze Land blicken.
Wieder erklang dieses eigentümliche Lachen, direkt vor ihnen. Sie entdeckten eine schmale Gestalt, in einem Gewand aus weißer Seide genau im Zentrum der Blüte stehend. Ihr langes Haar wehte im Wind und die junge Frau blickte ihnen freundlich aus goldspiegelnden Augen entgegen.
»Ich freue mich, euch endlich hier zu treffen. Auch wenn ich befürchte, das der Grund für unser Treffen weniger erfreulich ist.«
Jade sah die junge Frau an. Nein, nicht jung, zeitlos, alterslos. Auf dem Kopf trug sie einen schmalen Silberreif, der im Sternenlicht funkelte. Max drückte sich noch immer an Jade. Seine Hand war schweißfeucht.
»Aber lasst mich zuerst erklären. Man nennt mich die Kindliche Kaiserin, die Gebieterin der Wünsche. Doch ich regiere niemanden, versteht mich bitte nicht falsch. Ich bin der Quell aller Geschichten. Aus mir entspringen jegliche Ideen aller Wesen, die Fantasie selbst, welche alles antreibt.
Ich sehe alles, weiß von allem, was geschehen ist und auch, was noch kommen kann; manchmal sogar, was kommen wird.«
Nun blickte sie traurig auf die beiden Kinder: »Und leider sehe ich auch, dass uns bald das Ende aller Geschichten erwartet.«
Jade verstand sie noch immer nicht: »Was meinst du damit? Welche Geschichten? Wir haben Bücher mit Geschichten zu Hause.«
»Genau davon rede ich, mein liebes Kind. Ihr habt dieses eine, bestimmte Buch von einem Jungen im Regen an einer Straßenecke. Er war dazu bestimmt, diese Geschichte weiterzuführen, damit das Ende jeglicher Fantasie zu abzuwenden. So war es bisher zu jeder Zeit und sollte es auch immerdar sein. Denn innerhalb der Spanne eines Menschenlebens muss das Buch einmal an einen Besonderen weitergehen. Und leider seid ihr beiden nicht die Auserwählten. Nun allerdings hat der Junge dieses Buch nicht mehr. Die Zeit verrinnt, der Verfall schreitet voran. Euer auftauchen hier hat zu einem Bruch der Abläufe geführt, zu einem Bruch in der Zeit selbst!«
Sie ließ ihre Worte in der Blüte verhallen. Max sah Jade vorwurfsvoll an: »Du hast das Buch genommen. Einfach so.«
Jade wurde rot.
»Und darum«, fuhr die Kaiserin fort, »muss ich euch nun um Hilfe bitten. Wir brauchen zusätzliche Zeit, wir müssen diesen Bruch heilen und das Buch muss dem Jungen Bastian zurück gebracht werden. Das müsst ihr beide nun tun. Ansonsten verschwinden bald alle Geschichten aus der Welt. Eure Bücher daheim werden am Ende nur noch aus leeren Seiten bestehen.«
Jade sah sie entsetzt an.
»Ich habe hier ein Medallion, das ihr dazu benötigen werden.« Sie zog eine Kette mit einem Anhänger unter ihrem Gewand hervor. »Dies ist der Zwilling des Amuletts, das letztendlich dem Jungen Bastian helfen wird, wenn ihr dann erfolgreich seid. Sein Name lautet NURYA, der Bruder von AURYN. Aber viel wichtiger noch, beide Amulette sind miteinander und auch mit mir verbunden. Ihre Macht wurzelt in mir, und sie führt auch immer zu mir zurück. Mit NURYA könnt ihr die fehlende Zeit sammeln, um den Bruch zu heilen.«
»Aber wie sollen wir das machen? Wo sollen wir denn hin?« Jade rang die Hände.
»Ich habe hier noch etwas für euch. Für mich ist es wertvoller, als ihr nur erahnen könnt.« Die Kaiserin reichte einen Umschlag an Jade. »Hierin findet ihr meinen wahren Namen. Wenn ich diesen nun an euch gebe, ist er für mich verloren, vergessen. Doch es ist notwendig.
Nehmt ihn. Sobald ihr ihn aussprecht, gelangt ihr in eure Heimat zurück. Ihr werdet wieder genau dort sein, wo eure Reise in dieses Reich begann, und wo sich auch das Buch befindet.«
»Und was sollen wir dann machen?«, wollte Max wissen.
Sie streichelte dem Jungen über den Kopf. »Du bist klug. Erinnert ihr euch an die Ecke, an der euch dieser Junge Bastian begegnete?«
Beide Kinder nickten.
»Genau dort steht ein Buchladen. Ein alter, kleiner Buchladen, voller wunderbarer Geschichten und einem alten, ebenso wunderbaren Menschen. Er heißt Karl, oder für euch vielleicht eher Herr Koreander. Heutzutage raucht er lieber seine Pfeife, als wirklich zu lesen. Doch wenn ihr ihm diesen Umschlag zeigt, den Namen darin, dann wird er wissen, das ich euch geschickt habe.«
Sie zwinkerte verschmitzt: »Denn genau er gab mir einst diesen Namen. Heute gebe ich ihn an euch weiter, damit ihr mir helfen könnt. Herr Koreander wird wissen, woher ihr die fehlende Zeit bekommen könnt. Sprecht mit ihm, sammelt die Zeit mit NURYA, damit sie so an mich zurückgelangen kann.
Wenn ihr den Umschlag daheim dann wieder in eure Kommode legt, könnt ihr damit auch wieder hierher zurückreisen.
Dann überlegen wir gemeinsam, wie wir die Fantasie und die Geschichten retten können. Aber zuerst benötigen wir die Zeit!«
Sie reichte das Medallion an Max und den Umschlag an Jade.