- Teil 9 -
Es war schon spät. Viel zu spät, wie Jade am Licht hinter der runden Scheibe erkannte. Die aufgehende Sonne erhellte schonungslos dreckig braunen Schneematsch auf dem menschenleeren Hafenkai. Seltsam. In der Ferne sah sie über den Lastenkrähnen hoch auftürmende Wolkenberge, durch die tiefstehende Sonne in giftiges Gelb getaucht.
Die ganze Szene dort draußen wirkte irgendwie schräg (surreal, so hatte es der Kunstlehrer genannt!), verglichen mit der sterilen und stillen Stadt, aus der sie erst vor wenigen Augenblicken zurückgekehrt waren.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, das die Schule schon vor über einer Stunde begonnen hatte.
Aber wo war ihr Vater? Die Nachtschicht endete um 5:00h, gegen 5:30h war er sonst immer zurück. Um 6:30h weckte er sie dann, damit die Geschwister sich für die Schule fertig machen konnten.
Dann stutzte sie, trat zurück ans Bullauge.
Hinter dem seltsamen Wolkengebirge am Himmel glaubte sie noch etwas anderes gesehen zu haben. Etwas finsteres, dunkleres. Etwas hungriges.
Ein eiskaltes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Nicht Angst, etwas ähnliches, ja vielleicht schlimmeres.
Panik, eiskalte Panik.
Und sie flutete rasend schnell durch den gesamten Körper.
Jade sah noch einmal genauer hin. Hinter dem schwarz-gelben Gebirge aus Wolken lauerte es. Das gleiche lichtfressende Nichts, das Max und sie schon einmal gesehen hatten. Drüben, in der anderen Welt, in Phantasien.
"Oh nein!", ihr entwich ein entsetztes Stöhnen.
Unter ihr im Bauch des Schiffes gähnte Max gerade herzhaft. Immerhin er war noch da.
Aber was sollten sie jetzt tun? Wo war Papa? Warum war er nicht hier?
"Jaaahade?!" Ihr kleiner Bruder blickte die Treppe hoch, rieb sich den Schlaf aus den Augen. " Is heute keine Schule?"
"Max?", ihre Stimme war nur ein Flüstern. Der braunhaarige Wuschelkopf unter ihr reagierte nicht.
Panik.
"MAAAX!" Jetzt schrie sie. "Komm her!"
Ihr Bruder blickte sie entsetzt an, tat aber noch immer keinen weiteren Schritt.
"Jetzt!"
Endlich kam er zögernd die Treppe herauf, blickte ihr dabei kritisch ins Gesicht.
"Was is'n?", wollte er nörgelnd wissen.
Sie zeigte nur wortlos nach draußen, in den Himmel. Die giftig gelben Wolken bedeckten inzwischen das gesamte Firmament. Trotzdem spürte Jade die Anwesenheit der gierigen Schwärze, die sich dahinter verbarg.
Max blickte kurz raus und zuckte nur die Achseln. "Was?"
"Sag mir, dass ich spinne", forderte sie ihren Bruder auf.
Der grinste breit und nahm den Ball freudig entgegen: "Klar spinnst du. Endlich hast du es...", dann verlosch das Grinsen. Mit offenem Mund starrte er wieder zum Himmel hinauf.
Er sah es also auch. Jade hatte sosehr gehofft, sie würde sich täuschen.
Was sollten sie jetzt bloß tun?
"Das ist das Schwarze Loch von der Königin aus der Blume." Max klang ganz abgeklärt, so als ob er ihr lediglich die Uhrzeit nannte.
Jade war über seine nüchterne Feststellung so erschüttert, dass sie vergaß, ihn zu berichtigen.
Sie zitterte, musste sich festhalten und nicht zu stürzen.
Scheisse!
Als die Knie nicht mehr nachgaben sog sie tief Luft ein, bemühte sich um Selbstbeherrschung: "Und was sollen wir jetzt machen? Papa ist weg."
Max sah sie nur kurz an: "Papa ist erwachsen, der kommt auch wieder von allein zurück." Dann deutete er auf dieses schreckliche Ding hinter den Wolken: "Aber wir haben jetzt das hier", damit zog er das Amulett NURYA hervor. "Die Frau hat gesagt, wenn wir die Zeit gesammelt haben müssen wir zu ihr zurück, damit sie es wieder richtig machen kann."
Jade sah das orange pulsierende Schmuckstück in den Händen ihres Bruders an. Es erschien ihr wie ein kleiner Funke Hoffnung, in dieser ansonsten schrecklichen, dunklen Welt.
Noch einmal blickte sie aus dem Fenster. Durch die immer dichter aufziehenden Wolken verfinsterte sich der Himmel sekündlich weiter.
Ein Sturm zog auf. Sie konnte bereits das leichte Schwanken des Bootes unter ihren Füßen spüren.
Der Wind blies eine verlorene Regenjacke spielerisch über den Kai. Das Kleidungsstück flog immer wieder kurz auf, wirkte wie ein verirrter Kanarienvogel, bevor sie wieder auf den Schneematsch sank.
Jade nahm ihren Bruder an der Hand und gemeinsam schritten sie wieder die Stufen zu ihren Kojen hinab. Wenn es dann so war, würde sie auch ihre Welt gleich mit retten.