„Nackt und von Wohlgestalt, so erschien Kairos dem Lysipp. Der berühmte antike Bildhauer erschuf Werke jenseits seiner Zeit. Kein Wunder, dass Alexander der Große ihn zum Haus- und Hofkünstler ernannte.“
Gebannt lauschte Belkis den Ausführungen der interaktiven Tafeln. Studieren war auch nicht mehr das, was es damals gewesen war. Sie hörte über ihren Earpod alles was ihr Eyepad als Code erkannte. Dabei brauchte sie nicht einmal mehr umständlich mitlesen, konnte sich ganz der Betrachtung der Bilder hingeben, die auf die Geräte gespielt wurden. Herrliche marmorne Statuen. Sie hatte ein Faible für diese lebendigen Steine. Für Standbein und Spielbein, für Haare und Knie. Besonders aber für kleine Details wie in diesem Fall, wenn die sonore Stimme über den Ausdruck: ‚eines weiteren Momentes lysippischen Stils‘ stolperte. Belkis schloss die Augen, die Bild und Tondaten stoppten, nachdem sie registrierten, dass sie nicht nur blinzelte. Für einen ‚weiteren Moment belkischen Tagträumens‘ wollte sie sich der Vorstellung hingeben, dass dieser hübsche junge Mann den Hörsaal betrat.
Er trug eine Frisur, die auch mal wieder in Mode kommen könnte: hinten kurz, vorne lang gelockt. Es verlieh ihm ein ein wildes Antlitz, voll Vitalität. Seine von der Sonne geküsste Haut glänzte vom Öl, mit dem er sich eingerieben hatte. Körperbehaarung fehlte gänzlich und ließ ihn athletischer aussehen, als er in Wahrheit war. Er hatte ein „Bäuchlein“, weil er keine überzeichneten, hyperrealistischen Muskeln antrainiert hatte. Nein, weil er Nektar und Ambrosia dem Wein vorzog. In ihrer Vorstellung war er ein Schleckermaul. Seine Wangen waren gefüllt, sein Brustkorb hob sich, als er näher kam. Lyssip hatte ganze Arbeit an ihm geleistet. Er wirkte nicht, er war eine Erscheinung und darin so natürlich, dass er ihr real vorkam. Nicht zum ersten Mal in all ihren Semestern wünschte sie sich, einem solchen Mann einmal wirklich zu begegnen. Wegen ihr durfte er sich auch gern was anziehen, aber wenigstens in ihrem Kopf war sie (noch) allein und stellte ihn sich genau so vor, wie die Statue aussah - jedenfalls wenn man sich fehlenden Stücke dazu dachte.
Die kleine Nebenrolle der griechischen Mythologie stellte sich neben Belkis. Seine Flügel raschelten. Er schaute auf das Werk vor ihr, welches sie studierte.
Belkis blinzelte, aber nicht zu sehr, damit die Unterrichtseinheit nicht wieder ansprang. „Wer bist du?“, hauchte sie. Ihre trockenen Lippen klebten aneinander, sie musste sie mit der Zunge befeuchten.
„Ich bin Kairos, der alles bezwingt!“
Sie lehnte sich in seine Richtung: „Nackt und barfuss?“
„Ich bin Kairos, laufe unablässig.“
„Wozu die Flügel?“, hakte Belkis nach, sie drehte den Kopf und schaltete mit einem stummen Befehl die Wiedergabe ganz ab. Sie wollte ihm auf den Rücken blicken. Aber dort waren keine Schwingen. Sie waren an seinen Beinen und Füßen.
„Ich bin Kairos, ich fliege wie der Wind vorbei.“
Belkis’ Augen fingen an zu glitzern, als sie seine ausgeglichen proportionierte Seitenansicht nach lysippschen Stil genoss. „Hast du da ein Messer?“
„Weil ich spitz bin, ich bin Kairos.“ Er strich sich mit einer arroganten Geste durch die Haare.
Sie kicherte und hätte beinah in sein Haar gegriffen, um eine Locke um ihren Finger zu wickeln. „Warum fällt dir diese Locke immer in die Stirn?“
„Damit du mich greifen kannst.“
„Und das Haar hinten? Wieso ist es abrasiert?“
Er sah sie nicht an, sie musste weiter mit seinem Profil Vorlieb nehmen. „Wenn du mich von hinten siehst, hast du deine Chance verpasst.“
Verliebt seufzte Belkis und hob ihre Hand, um nach seinem Haar zu greifen.
„Ey du!“
Schlagartig öffnete Belkis die Augen. Sie war nicht mehr allein, links und rechts von ihr standen Kommilitonen. Weg war der Gott des günstigen Zeitpunktes. Nicht einmal im Augenwinkel konnte sie seine Flügel noch sehen, geschweige denn seinen kahl rasierten Schädel. Belkis spürte das Gefühl von Verlust. Sie hatte nicht gewusst, dass sie es hätte haben können und da sie es nun verpasst hatte, wollte sie es - IHN - umso mehr. Sie sah sich die Studierenden neben sich an.
„Bist du fertig?“, wollte einer wissen, er drängelte ein wenig, war aber nicht unhöflich dabei.
Belkis lächelte ihn an: „Ja klar.“ Sie trat nach hinten, ließ die Nachrückenden an die Tafel und den Code abscannen. Wie brave Maschinen standen sie dann mit leuchtendem Screen vor den Augen davor und hörten den knappen Erläuterungen zu. Als würden sie sich die Daten auf ihr Gehirn direkt herunterladen. Und dieser Download benötigte dafür eine Sekunde des Innehaltens, des Wartens, des Stillstandes. Ein ungeschützter Moment, in dem jeder Lernende angreifbar war, da er nichts anderes mitbekam, als die Flut der Informationen. Während der Balken von 1 bis 100% hochzählte. Je nach Andrang zügiger oder stockender.
In die zweite Reihe der Beobachtenden, der Wahrnehmenden getreten, studierte Belkis nun ihre Mitstudenten, statt des Lernmaterials. Sie fragte sich, ob jeder von ihnen anders den Inhalt rezipierte. Sahen sie das, was Belkis auch gesehen hatte? Niemand von ihnen drehte sich zur Seite und hob eine Hand, in dem Versuch die Gelegenheit beim Schopf zu greifen.
„Einheit antike Kunstgeschichte fortsetzen?“, brüllte die sonore Computerstimme ihr ins Ohr. Belkis erschreckte sich. Sie könnte schwören, sie hatte das Ding ausgestellt. Mit einem Kopfschütteln verneinte sie die Aufforderung. Ihr Pausentimer aktivierte sich automatisch. Zum Glück überwachten diese Funktionen nur ihren persönlichen Fortschritt und listeten ihre Verhaltensmuster auf, um ihren Energiebedarf passend zu decken. Es gab keine Bestrafung, wenn man eine Pause machte, selbstorientiertes Lernen hatte auch seine Lichtseiten. Da es in den Hörsälen zwar keine Reihen mehr gab voller klappbarer Sitzbänke, aber dafür kleinerer Sitzgelegenheiten, machte es sich Belkis dort bequem und nahm Earpod und Eyepad ab. Sie überschlug die Füße und sah sich in dem Raum ohne die Scanner und Displays um. Sie mochte die Universität, es war ein Ort voller Wissen. Es würde sie ihr ganzes Leben dauern, wenn sie alles konsumieren wollen würde. Lernen konnte süchtig machen.
Sie seufzte abermals, ärgerte sich immer noch darüber, nicht rechtzeitig reagiert zu haben. Was wenn es doch diese eine Sekunde gewesen war? Was wenn da etwas gewesen wäre? „Ach, komm doch bitte zurück, Kairos“, sprach sie in die Leere über sich zu den Deckenlampen und hoffte, dass er einfach noch einmal hinabsteigen würde, geschwind auf seinen befiederten Fersen vorbei eilte und ihr den Kopf zuneigte, damit sie zugreifen konnte.
So sehr sie sich es aber auch wünschte, er tat ihr den Gefallen nicht. Sie konnte zusehen, wie ein ums andere Mal jemand vor der Tafel stehen blieb, den Download aktivierte und nach getaner Belehrung weiterging. Das Zusehen beim Lernen war das Langweiligste was es auf der Welt gab. Sie lehnte sich zurück, mit den Ellenbogen abgestützt an der Lehne und ließ ihren Kopf ein wenig hinten überhängen, erneut schloss sie die Augen. Wenn sie es genau bedachte, kam sie zu einem Entschluss. Dieser flüchtige Windhund von einem Gott hatte ihr eine wertvolle Sekunde ihres Lebens gestohlen.